# taz.de -- Unterricht und Religion in Frankreich: In die Schule mit Allahs Seg… | |
> Die muslimische Mittelschule in Lille bildet die Ausnahme im Land des | |
> Laizismus. Nun rebellierte ein Lehrer gegen den Geist der Schule. | |
Bild: Das Lycée Averroès in Lille: Kopftuch ist erlaubt, die Kantine halal | |
LILLE taz | Es gibt diesen Satz, den Soufiane Zitouni zu seinen Schülern | |
gesagt hat. „Ich frage mich, ob nicht viele Muslime ein Problem mit dem | |
Humor haben.“ Er bereut den Satz nicht. Zitouni wiederholte ihn gar für | |
eine Kolumne in der Tageszeitung Libération, [1][die den Titel trug „Auch | |
Mohammed ist Charlie“] und kurz nach dem mörderischen Anschlag auf die | |
französische Satirezeitschrift im Januar erschien. Seither ist Zitouni | |
jedoch das Lachen vergangen. „In den zwanzig Jahren meiner Lehrertätigkeit | |
habe ich noch nie derartige antisemitische Äußerungen von Schülern zu hören | |
bekommen.“ Seine Stelle als Philosophielehrer an der muslimischen | |
Mittelschule Averroès in Lille hat er daraufhin gekündigt. | |
Über Nacht sah sich Zitouni an seiner Schule geächtet. „Mein | |
Pro-Charlie-Text ist mehrmals vom Anschlagbrett im Lehrerzimmer entfernt | |
worden. Ein ehemaliger Kollege meinte, ich hätte mir viele Feinde gemacht | |
und solle in Zukunft auf der Straße hinter mich schauen.“ War das eine | |
Drohung? Zitouni demonstriert eine Gelassenheit, die man ihm nicht ganz | |
abnimmt. | |
Die Ereignisse liegen ein paar Wochen zurück. „Ich nehme nichts zurück“, | |
sagt der 48-Jährige im Café, er klingt gereizt. Er lebt in Douai, etwa 20 | |
Minuten Bahnfahrt von Lille entfernt, und wartet noch auf seine neue | |
Stelle. „Das Attentat gegen Charlie Hebdo hat mich sehr getroffen. Ein | |
Freund von mir, Philippe Lançon, ist bei dem Anschlag schwer verletzt | |
worden. Ich war es ihm schuldig, öffentlich zu reagieren.“ | |
Soufiane Zitouni ist Muslim, und die Schule in Lille, wo er gearbeitet hat, | |
eine konfessionelle Privatschule – eine Besonderheit im laizistischen | |
Frankreich. Sich mit einer satirischen, manchmal blasphemischen Zeitung und | |
mit den häufig angegriffenen Juden zu solidarisieren, ist für Zitouni | |
selbstverständlich. Und ganz im Sinne von Averroès, einem muslimischen | |
Philosophen, der im 12. Jahrhundert in Cordoba lehrte und dessen Namen | |
seine ehemalige Schule stolz im Titel trägt. „Er lehrte, dass zwischen der | |
Wahrheit der Philosophie und des Korans kein Widerspruch besteht. Er wollte | |
Wissenschaft und Religion verbinden.“ Mit dem Aufklärer Averroès habe der | |
Geist dieser Schule fast nichts gemein, sagt Zitouni. In der | |
Schulbibliothek finde sich kein einziges Buch von ihm oder über ihn. „Dafür | |
habe ich dort Prediger gehört, die sagen, der Schleier sei ein religiöses | |
Gebot.“ | |
## „Wissen Sie, was ich wirklich glaube?“ | |
Schulleiter Hassane Oufker weist diesen Vorwurf zurück. Er ist ein jovialer | |
Mann in den Vierzigern, mit einem lässig um den Hals geschlungenen Schal. | |
Als gälte es, Zitounis Vorwurf des mangelnden Humors zu widerlegen, macht | |
er gern Scherze. „Was geht im Innern eines Menschen vor? Wissen Sie, was | |
ich wirklich glaube, ob ich überhaupt ein Muslim bin? Wussten Sie, dass es | |
in der Vergangenheit sogar Imame gab, die Juden waren?“ Oufker steht, sagt | |
er, für Glaubensfreiheit ein und beteuert, dass in seiner Schule | |
ausschließlich Toleranz gepredigt wird. „Gerade darum bin ich so schockiert | |
über das Vorgehen des Kollegen Zitouni. Es geht nicht nur um unseren guten | |
Ruf. Es ist ein Angriff auf eine Erfolgsgeschichte des Islam in | |
Frankreich.“ Alle in der Schule – Lehrer wie Schüler – hätten an der | |
Schweigeminute für die Terroropfer bei Charlie Hebdo teilgenommen. | |
Die Eingänge der muslimischen Mittelschule im südlichen Außenquartier von | |
Lille wirken diskret wie das Tor eines der zahlreichen Werkgelände in der | |
Umgebung. Nur auf der weiß gestrichenen Backsteinfassade beim Haupteingang | |
steht stolz der Name „Lycée Averroès“ und darunter: „Lycée d’Enseign… | |
Privé Musulman“. Die Schule ist eine von nur zwei staatlich anerkannten und | |
mit öffentlichen Mitteln finanzierten muslimischen Mittelschulen in ganz | |
Frankreich. | |
Anders als bei staatlichen Schulen weht über dem Eingang keine Trikolore, | |
prangt dort auch nicht die republikanische Devise „Liberté – Egalité – | |
Fraternité“. Aber etwas mehr als die Hälfte der Schülerinnen tragen ein | |
Kopftuch oder einen Schleier. Dieses äußere Zeichen ihres Glaubens müssen | |
sie hier nicht ablegen, wie dies in einer öffentlichen Schule vom Gesetz | |
vorgeschrieben wird. | |
Mit einem herzlichen „Bonjour et bienvenue“ oder mit „Salam Aleikoum“, … | |
es sich um Familien aus Nordafrika handelt, werden an einem Samstagmorgen | |
die Besucher am „Tag der offenen Tür“ willkommen geheißen. Die Eltern hab… | |
ihre Kinder für das kommende Schuljahr bereits seit November angemeldet. | |
Der Andrang ist größer als die Zahl der Plätze. Dieses private Lycée, das | |
die Schüler drei Jahre lang auf das Baccalauréat, das französische Abitur, | |
vorbereitet, gilt über Lille hinaus bei muslimischen Familien aus der | |
Mittelschicht als zukünftige Eliteschule. In den letzten beiden Jahren | |
haben alle Absolventen der vier Abschlussklassen das Baccalauréat-Examen | |
bestanden. Das lässt selbst eingefleischte Anhänger des öffentlichen | |
Schulsystems aufhorchen. | |
## Schwarz-rot-gold im Klassenzimmer | |
Daneben ist den Eltern und Schülern die Toleranz gegenüber ihrer Religion | |
wichtig. Das bestätigt eine mit einem Niqab verschleierte Mutter: „Die | |
Kantine ist garantiert halal, die Mädchen dürfen auch im Unterricht den | |
Schleier anbehalten, die Schule lehrt Arabisch, hat einen Gebetssaal und | |
gibt Kurse in muslimischer Ethik.“ Der Religionsunterricht ist wie das | |
Gebet und der Schleier fakultativ. Doch wo verläuft die Grenze zwischen | |
„fakultativ“ und „obligatorisch“? | |
„Die Schule mischt sich in diese Fragen nicht ein“, sagt Nadia Belhadef | |
kategorisch. Sie ist Deutschlehrerin und Deutschland-Fan. Auf dem Tisch | |
ihres mit schwarzen, roten und goldgelben Ballons dekorierten | |
Klassenzimmers liegen Broschüren und Gadgets des Goethe-Instituts aus. | |
Belhadef trägt einen Kopfschleier und für den Besuchstag eine Sportjacke | |
des deutschen Fußballteams. Auf Bitte der Lehrerin bestätigt Schülerin | |
Myriam: „Jedes Mädchen entscheidet selbst, ob es den Schleier trägt oder | |
nicht. Ich selber hatte schon länger darüber nachgedacht. Doch erst vor | |
wenigen Monaten, nach einer gemeinsamen Reise nach Köln, habe ich mich | |
dafür entschieden“, sagt die 16-Jährige fröhlich. | |
Ob das Vorbild der Lehrerin dabei nicht doch eine Rolle spielt? Nadia | |
Belhadef will das nicht kommentieren. Die Lehrerin spricht Deutsch mit | |
französischem Akzent. Zu Zitouni sagt sie nur: „Das hat uns geschadet.“ Die | |
Rolle des Verteidigers übernimmt der rothaarige Vizedirektor Eric Dufour. | |
Er sieht aus wie ein typischer nordfranzösischer „Ch’ti“. Laut Zitouni i… | |
er zum Islam konvertiert, er diene als bloßes Aushängeschild. Dufour | |
kontert sehr aggressiv und bezeichnet den Exkollegen als „Verräter“. Er | |
vermutet hinter dessen „absurden“ Anschuldigungen „persönliche und | |
psychologische Probleme“. | |
## Umstrittene externe Dozenten | |
Zitouni rührt empört in seinem Kaffee, weil seine Opposition als krank | |
gescholten wird. „Die Direktion ist doppelzüngig. Sie hat für alles eine | |
geglättete Version für die Medien, intern im Lycée fährt sie eine ganz | |
andere Linie. Glauben Sie, wir hätten so viele antijüdische Dinge von den | |
Schülern zu hören bekommen, wenn dies nicht von den Erwachsenen in ihrer | |
Umgebung geäußert worden wäre?“ | |
Im Fach „Muslimische Ethik“, einer Art – fakultativem – | |
Religionsunterricht, würden die Jugendlichen im Sinne einer „islamistischen | |
Bewegung mit politischen Zielen“ beeinflusst, sagt Zitouni und führt dafür | |
externe Dozenten wie die umstrittenen Prediger Tariq und Hani Ramadan an, | |
die offiziell von der Schule eingeladen worden seien. Für den | |
Philosophielehrer laufen hinter den Kulissen alle Fäden bei der Union des | |
Organisations Islamiques de France (UOIF) zusammen, einem der großen | |
muslimischen Verbände in Frankreich. „Deren Verbindungen zu den | |
Muslimbrüdern sind bekannt“, sagt Zitouni mit einem fast triumphierenden | |
Lächeln. | |
Seine Behauptung kann er leicht belegen, denn der Gründer des Lycée und | |
Vorsitzende des Trägervereins ist Amar Lasfar. Dieser ist nicht nur der | |
Imam der benachbarten Moschee al Imane, sondern auch Präsident der UOIF, | |
die wegen ihrer Nähe zur ägyptischen Muslimbruderschaft als | |
fundamentalistisch gilt. Sie ist umstritten, aber eine legale Organisation. | |
Am Tag der offenen Tür kommt auch Lasfar in diese Schule, die er gegründet | |
hat, weil mehrere muslimische Mädchen in der Region wegen des | |
Kopftuchverbots Ärger bekommen hatten. Er trägt einen grauen Anzug, ist | |
nicht als Imam gekommen. Doch er ist hier die unbestrittene Autorität. „Ich | |
bin Muslim in der Moschee, aber ein weltlicher Bürger auf der Straße“, | |
lautet seine Devise. Sie soll es auch seiner Schule erlauben, im Unterricht | |
die Regeln der weltlichen Republik zu respektieren und gleichzeitig die | |
Jugendlichen im Sinne des Korans zu erziehen. | |
## Wieviel Einfluss hat der Trägerverein? | |
Fundamentalismus? Antisemitismus? Den Dschihad kleinreden? All das weist | |
Lasfar weit von sich. Im Gegenteil, seiner Meinung nach trägt der UOIF eher | |
zur Prävention gegen die Radikalisierung junger Muslime bei. „Wir haben | |
vielleicht bei einigen Terroristen keinen Erfolg gehabt, was aber ist mit | |
den Hunderttausenden jungen Menschen, die brave Bürger geworden sind?“, | |
fragt er. | |
Auch Direktor Oufker weiß, dass im Streit über Zitouni und seine Schule | |
einiges auf dem Spiel steht. Es geht um die Zulassung (und somit die | |
teilweise staatliche Finanzierung) weiterer von der UOIF geplanten | |
islamischen Schulen. „Wir machen von einer Freiheit Gebrauch, die in der | |
Verfassung verankert ist“, sagt er. Beim Thema UOIF wird er ernst. Ob | |
jemand in der Schule Mitglied der UOIF, einer anderen Organisation oder | |
überhaupt Muslim sei, spiele für ihn keine Rolle. „Wir haben uns nichts | |
vorzuwerfen, das hat auch der Bericht einer Inspektion belegt.“ | |
Oufker verschweigt dabei, dass die staatlichen Inspektoren den Einfluss von | |
Lasfars Trägerverein infrage stellen und fordern: „Der Platz und der Status | |
des Religiösen in der Schule muss geklärt werden.“ | |
Das ist der entscheidende Punkt in einer Republik, in der die strikte | |
Trennung von Religion und Staat im Unterricht seit mehr als hundert Jahren | |
im Grundgesetz steht. | |
5 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.liberation.fr/societe/2015/01/14/aujourd-hui-le-prophete-est-aus… | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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