# taz.de -- „Charlie Hebdos“ Vermächtnis: Die falsche Toleranz | |
> Warum die Blasphemie des Magazins nichts mit Rassismus zu tun hat: Postum | |
> erscheint das Manifest des „Charlie“-Herausgebers Stéphane Charbonnier. | |
Bild: Stéphane Charbonnier, ermordet am 07. Januar 2015 | |
Zwei Tage vor dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo hatte | |
Stéphane Charbonnier, genannt Charb, ein kleines Büchlein zu Ende | |
geschrieben, das jetzt wie ein politisches Vermächtnis des Karikaturisten | |
in den Buchhandel gelangt. Charb war zusammen mit elf anderen Personen beim | |
Anschlag von den beiden islamistischen Terroristen Saïd und Chérif Kouachi | |
erschossen worden. | |
„Wir haben Charlie Hebdo getötet“, riefen am 7. Januar die Attentäter, die | |
angeblich mit ihrer Bluttat die Beleidigung des Propheten durch | |
Mohammed-Zeichnungen rächen wollten. Sie sind jedoch auf der Flucht selbst | |
getötet worden, und das freche und gelegentlich blasphemische Charlie Hebdo | |
haben sie erst recht nicht zum Schweigen gebracht. Charbs kritische Stimme | |
ertönt nun mit diesem postum veröffentlichten Manifest weiter. | |
Es trägt den Titel „Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu | |
des racistes“, was man mit „Offener Brief an die Hochstapler der | |
Islamophobie, die den Rassisten den Weg ebnen“ übersetzen kann. Er | |
attackiert darin als notorische Feinde von Charlie nicht nur Islamisten und | |
andere reaktionäre Fundamentalisten, sondern auch die Medien, die aus | |
falsch verstandener Toleranz oder aus Angst vor Reaktionen jede Blasphemie | |
verwerfen und die Kritik am Islam als Form von Rassismus ablehnen. | |
„Wenn man argumentiert, dass man über alles lachen kann außer über | |
bestimmte Aspekte des Islam, weil die Muslime da viel empfindlicher sind | |
als der Rest der Bevölkerung, was ist das anderes als Diskriminierung?“ | |
## Politisch unkorrekt oder „islamophob“ | |
Wie in einem Brief üblich beginnt das Buch mit eine Anrede, in der Charb | |
vorausschickt, für wen er im Speziellen schreibt: „Wenn du glaubst, die | |
Kritik an Religionen sei Rassismus; wenn du meinst, ’Islam‘ sei der Name | |
eines Volks; wenn du meinst, man dürfe über alles lachen, nur nicht | |
darüber, was dir heilig ist; wenn du glaubst, Blasphemisten zu verurteilen, | |
werde dir das Tor zum Paradies öffnen; wenn du meinst, Humor sei | |
unvereinbar mit dem Islam …“ | |
Die Liste ist viel länger und stellt eine Zusammenfassung des Buchs dar, | |
das sich mit all den Vorteilen und Vorwänden befasst, die nicht nur | |
radikale Islamisten, sondern oft auch wohlmeinende Gutmenschen von links | |
dazu dienten, die Karikaturen in Charlie Hebdo als politisch unkorrekt oder | |
„islamophob“ zu verurteilen. | |
Diese Kritik des bewusst missbräuchlich verwendeten Begriffs der | |
„Islamophobie“ ist der eigentliche Anlass dieses Buchs: „Diejenigen, die | |
den Zeichnern von Charlie Hebdo jedes Mal, wenn eine Figur einen Bart | |
trägt, Islamophobie vorwerfen, sind nicht nur unaufrichtig oder böswillig, | |
sie liefern damit dem sogenannten radikalen Islam Unterstützung“, schreibt | |
Charb, der in dieser Polemik auf einer klare Trennung zwischen der Religion | |
und den Gläubigen besteht. Mit dem Kampfbegriff „Islamophobie“ versuchen | |
laut Charb islamistische Extremisten andere Muslime auf ihre Seite zu | |
ziehen. | |
Zu Unrecht sah er sich von Gläubigen angegriffen, die ihre Religion als | |
bloßen Vorwand für politische Ziele benutzen : „Das Problem ist weder der | |
Koran noch die Bibel, diese einschläfernden, inkohärenten und schlecht | |
geschriebenen Romane, sondern der Gläubige, der den Koran oder die Bibel | |
liest wie die Montageanleitung eines Ikea-Möbels.“ | |
## Die entscheidende Differenz | |
So legitim oder notwendig es für ihn ist, im Land der Aufklärung den Islam | |
oder jede andere Religion oder Ideologie zu kritisieren, so eine | |
grundverschiedene Sache ist es, Gläubige wegen ihrer Religion oder Herkunft | |
zu diskriminieren oder zu attackieren. | |
Das ist die entscheidende Differenz zwischen Blasphemie und Rassismus, die | |
übrigens auch die französische Justiz in ihrer Rechtsprechung stets macht, | |
indem sie selbst zwischen einer (vom französischen Recht tolerierten) | |
Beschimpfung von Ideen oder historischen Figuren einerseits und der | |
(gerichtlich geahndeten) Beleidigung von lebenden Mitbürgern oder der | |
Anstachelung zu Rassenhass unterscheidet. Wer von diesem Rassismus gegen | |
Mitbürger ablenke und zur ideologischen Frage der Religion führe, arbeite | |
den Apologeten der „Islamophobie“ und letztlich den Rassisten in die Hände, | |
lautet Charbs Postulat. | |
Am Rande polemisiert Charb auch postum mit dem konservativen Expräsidenten | |
Nicolas Sarkozy, dem er vorwirft, mit der von ihm initiierten Debatte über | |
die „nationale Identität“ vielen Rassisten und „Idioten“ die letzte He… | |
genommen zu haben. | |
Vieles in diesen engagierten Ausführungen mag auf den ersten Blick wie eine | |
pedantische Wortklauberei tönen. Doch bei genauerem Hinsehen geht es um ein | |
Kernproblem der französischen Gesellschaft, die parallel den Kampf gegen | |
den islamistischen Terror, gegen den grassierenden Rassismus und für die | |
Integration der weiterhin marginalisierten Muslime in der weltlichen | |
Gemeinschaft der Republik organisieren soll. | |
20 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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