# taz.de -- Kolumne Globetrotter: Tourette im Bus | |
> Sätze wie: Also, ich mag Araber. Oder: Ich mag auch Juden. Unsere Autorin | |
> ist drei Monate nach den „Charlie Hebdo“-Anschlägen in Paris unterwegs. | |
Bild: Die Nachwirkungen sind in Frankreich und Paris noch deutlich spürbar. | |
Letzte Woche in Paris steige ich in die chronisch überfüllte U13. Manchmal | |
stehen, wie in Tokio, U-Bahn-Angestellte am Bahnsteig. Allerdings besteht | |
ihre Aufgabe weniger darin, die PariserInnen in die Metro zu quetschen – | |
das ließen die Pariser nie zu –, als vielmehr für einen friedlichen Umgang | |
unter den Passagieren zu sorgen. In der U13 kommt es ständig zu Prügeleien. | |
Kaum bin ich bei meiner Freundin Anne in Bagnolet angelangt, schlägt sie | |
vor, mir das „104“ zu zeigen, einen Kulturort im 19. Arrondissement, den | |
ich nicht kenne. Und ab geht’s zurück in die öffentlichen Verkehrsmittel! | |
Im Bus schlängeln wir uns bis in den hinteren Bereich und finden – welch | |
Glück – zwei freie Sitzplätze. Kaum angekommen, schreit plötzlich ein Mann | |
im vorderen Busbereich los, als sei ein Tumult ausgebrochen. Ist da ein | |
Schläger? Hat er ein Messer? Nein, das ist nur ein touretteanfälliger | |
Alter, der sich fluchend bis zu uns vordringt. „Uff.“ Anne ist erleichtert. | |
## Parolen nach „Charlie Hebdo“ | |
Ein wenig später kreischt plötzlich eine Dame auf: „Wem gehört denn | |
eigentlich dieser Kinderwagen?“ Weil sich nach dem zweiten, dritten und | |
vierten Appell keiner meldet, macht sich im Bus spürbare Panik breit. Eine | |
Bombe?! Für Entwarnung sorgt ein Herr mit guter Beobachtungsgabe. Gezielt | |
fragt er eine Frau, die gerade in ein Telefongespräch vertieft ist: „Hey, | |
ist das Ihrer?“ „Ja, wieso?“, antwortet sie lapidar, „der stört doch | |
nicht.“ „Doch, er steht mitten im Eingang und da möchte gerade jemand mit | |
Rollstuhl einsteigen“, widerspricht er. „Und ich möchte bitte gern | |
weiterfahren!“, motzt ein anderer von vorne. Die Frau mir gegenüber rollt | |
mit den Augen. | |
„Zusammenleben, zusammenhalten … Seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo haut | |
die Politik nur noch diese Parole raus“, kommentiert für mich Anne die | |
Situation. „Aber wir leben doch schon längst zusammen! Bloß der Wille dazu | |
fehlt anscheinend“. | |
Ein paar Tage zuvor war ich noch bei meinen Eltern an der Atlantikküste. An | |
Platz zur freien Entfaltung samt friedlicher Zusammenführung fehlt es dort | |
sicher nicht. Der Wille, aufeinander zuzugehen, hat aber deutliche Kratzer | |
abbekommen. Bei einem Spaziergang durch das malerische La Roche begrüßten | |
mich plötzlich anonyme Poster, die klare homophobe, antisemitische und | |
islamfeindliche Botschaften propagierten. Auf riesigen, wiederum von der | |
lokalen Diözese finanzierten Bauzaunplakatierungen begegnete ich den mit | |
Wasser begossenen Köpfen typischer Werbegesichter. In großen, blauen | |
Buchstaben stand: „Durch die Taufe wiedergeboren“. | |
## Angespanntes Frankreich | |
Die Gegend war schon immer katholisch konservativ. Doch solch eine Kampagne | |
habe ich noch nie erlebt. Angesichts der allgegenwärtigen politischen und | |
kulturellen Anspannungen, die im Land aktuell herrschen, kam mir das alles | |
äußerst opportunistisch, unangebracht, ja einfach vulgär vor. | |
In die Gegenwart des Busses holt mich der neu aufheulende Tourette-Mann: | |
Die Passagierin neben ihm will aussteigen. Widerwillig steht er auf, bellt | |
ein lautes „Scheißaraber!“ und rückt ein Stückchen zur Seite. | |
„Madame, bei Ihnen alles okay?“, mischt sich vorsichtig ein | |
gegenübersitzender Junge ein. „Geht so, danke, ich werde schon klarkommen“, | |
versichert die Angepöbelte. Sofort positioniert sich eine Frau vor Mister | |
Tourette und bekundet beherzt: „Also, ich mag Araber.“ „Und ich mag auch | |
Juden!“, ruft jemand aus dem hinteren Busteil. „Ja. Und auch Juden!“, | |
wiederholt sie mit einem breiten Lächeln. | |
„Und die Deutschen!“, will ich enthusiasmiert hinzufügen, aber – ach, zu | |
banal – ich lasse es. Währenddessen entbrennt unter den Fahrgästen eine | |
ausgelassene Diskussion, als würde man mit altbekannten NachbarInnen | |
schwatzen: „Wissen Sie, der Typ ist einfach ein Verrückter“, sagt einer. | |
„Ich habe ganz genau gesehen, wie er die ganze Zeit mit sich selbst geredet | |
hat.“ „Das ist eine Krankheit, sie heißt Tourette“, weiß ein anderer. �… | |
aber wenn dabei solche Sprüche rauskommen“, fügt eine dritte Person hinzu, | |
„dann heißt das, man steckt tief drin.“ „Genau!“, stimmt eine andere z… | |
„Da muss man doch etwas sagen“. | |
„Krass“, flüstert mir Anne zu, die vor Rührung mit den Tränen kämpft. �… | |
erlebt man hier leider nicht jeden Tag“. | |
23 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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