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# taz.de -- Kolumne Globetrotter: Die Hühner-Klang-Installation
> Unsere Autorin hat drei Jahre im Künstlerhausprojekt „KuLe“ in
> Berlin-Mitte gelebt. Dort traf sie auf Clowns, Bauchtänzerinnen und
> Geflügel.
Bild: Welcher Diktatorengattin sieht dieses Geschöpf wohl ähnlich?
Wir sind nun wohl in die Erzählergeneration gekommen“, flüsterte mir Nils
verschwörerisch zu. Wir saßen im Theatersaal der KuLe, dem
Künstlerhausprojekt „Kunst & Leben“, das in Berlin-Mitte zwischen dem Fall
der Mauer und der Wiedervereinigung gegründet wurde und letzte Woche sein
25-jähriges Bestehen mit einer Serie von Veranstaltungen feierte.
Zum „Erzählsalon“ war ich eigentlich nur zum Zuhören gekommen, aber als d…
Publikum gefragt wurde, wer hier alles schon mal in der KuLe gelebt hat,
hob ich als Einzige die Hand. Der sechste Stuhl im Scheinwerferlicht der
kleinen Theaterbühne war noch unbesetzt, also wurde ich aufgefordert, mich
zur Erzählerrunde zu gesellen.
Nils kann natürlich spannende Geschichten über das Haus erzählen. Er hat es
mitgegründet. Genauso wie Jörg. Die drei anderen haben zwar nicht in der
KuLe gewohnt, waren aber auch Hausbesetzer oder wurden Hausbesitzer oder
vermittelten zwischen Besetzer und Besitzer. Ich habe lediglich von 2006
bis 2009 im Haus gelebt.
Während ich meinen Kopf fieberhaft nach einer geeigneten Geschichte
durchstöbere, merke ich, dass es im Erzählsalon überhaupt nicht anekdotisch
zugeht. Stattdessen: Gesinnung, Aufbruchstimmung, alternative Utopien,
Polizeieinsätze, Plan B.
## Keine Liebe auf den ersten Blick
Soll ich erzählen, dass es zwischen mir und der KuLe nicht Liebe auf den
ersten Blick war? Damals, 2006, war gerade eine große Welle GründerInnen
ausgezogen – keine Lust mehr auf Mitte, aufs Zusammenleben, sondern auf
Kleinfamilie oder neue Horizonte (Kreuzberg). Es war der Zenit der
Gentrifizierung und den Übriggebliebenen war es äußerst wichtig, den
Neuankömmlingen beim Einzug erst mal unmissverständlich klarzumachen, worum
es bei dem Projekt KuLe geht. Ab und zu gemeinsam Kochen, das wäre schon
ein Anfang.
Wir bekamen zahlreiche Gäste aus aller Welt. Auch sie wurden herzlich dazu
eingeladen, während ihres Aufenthalts zumindest einmal fürs Haus zu kochen.
Ich erinnere mich noch an eine taiwanesische Tänzerin, die in Berlin an
einem Bauchtanz-Wettbewerb teilnahm. Mittags und abends stellte sie sich
fleißig an den Ofen. Ein Mitbewohner ertrug die devote Haltung nicht, da
herrsche ein Missverständnis, er klärte sie auf, einmal Kochen genüge
völlig. „Nein“, entgegnete sie, wegen des Wettbewerbs sei sie nervös, „…
wenn ich nervös bin, beruhigt mich nur das Kochen.“ Das konnte sie auch
ziemlich gut.
Ich könnte erzählen, dass ich sechs Monate lang einen professionellen Clown
als Zimmernachbarn hatte, der mir zu jedem Frühstück in gespielt galanter
Manier eine unsichtbare Blume überreichte. Die ersten imaginären Blumen
nahm ich noch dankend entgegen. Ab der dritten Woche fraß ich sie – ganz im
Stil des Pantomimen Marceau. Zu meinem Glück zog bald ein zweiter Clown ein
und von nun an schauten sie sich zusammen stundenlang Clown-Videos auf
YouTube an und hielten sich den Bauch vor Lachen – geräuschlos, versteht
sich.
## Gackernde Hühner
Dafür waren unsere fünf Hühner umso lauter. Schon um vier in der Früh
gackerten sie los, was das Zeug hält. Das war ein Projekt von Scott, der
von einem ländlichen Idyll in der Stadt fantasierte. Das halbe Haus trat
einen Ausflug in das Berliner Umland an, um die Tiere bei einem Bauer
abzuholen. Scott richtete für die Hühner ein Gehege im kleinen Hof ein und
taufte sie nach Diktatorengattinnen – was im Plenum für heftige
Diskussionen sorgte.
Meine Erzählsalon-Anekdote war dann, wie die genervten NachbarInnen an
unserer Tür klingelten, um zu erfragen, wann es denn mit der
„Hühner-Klang-Installation“ endlich mal vorbei wäre. Und ihr
Gesichtsausdruck, als wir sie in den Hof baten und mit einem frisch
gelegten Ei in der Hand wieder zurück in ihre umliegenden Wohnungen
schickten.
Die Hühner gibt es lange nicht mehr. Auch ich bin ausgezogen: Lust auf neue
Horizonte (drei Straßen weiter). Die KuLe steht noch stolz da. Wieso,
erfährt man im „KuLe-Buch“, das im nächsten Frühjahr erscheinen soll.
18 Aug 2015
## AUTOREN
Elise Graton
## TAGS
Hühner
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Schwerpunkt Angela Merkel
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Film
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