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# taz.de -- Kolumne Globetrotter: Stoische Beschreibung der Front
> Unser Autorin liest Erinnerungen von Élie Clément, ihrem Uropa. Er hat im
> 1. Weltkrieg Tagebuch geführt. Kennengelernt hat sie ihn nie.
Bild: Auf den Spuren des Urgroßvaters im Urlaub.
Zugegeben, die Wahl meiner diesjährigen Strandlektüre war ohnehin etwas
sonderbar. Doch kurz bevor ich im Urlaub bei meinen Eltern an der
französischen Atlantikküste Samar Yazbeks Kriegsbericht „Die gestohlene
Revolution – Reise in mein zerstörtes Syrien“ auspacken konnte, legte mir
meine Tante Chantal als Geschenk noch das Tagebuch meines Urgroßvaters
obendrauf, das er im Ersten Weltkrieg geführt hatte.
Vor drei Jahren entdeckte sie bei einem Cousin zufällig seine
handschriftlichen Aufzeichnungen und machte sich daran, die Einträge sauber
abzutippen. Ihre Tochter Solène schlug dann vor, die Texte mit alten
Familienfotos anzureichern und in Kleinstauflage ein Buch zu drucken, das
man in der Familie verteilen könne.
So kam es also, dass ich unter der Sonne an einem friedlichen Strand am
Atlantik vom Krieg las – nicht wie ursprünglich geplant aus der Perspektive
einer engagierten Journalistin, die ihren Bericht über die massive
Zerstörung ihrer Heimat nun auch beim Internationalen Literaturfestival in
Berlin vorstellen wird, sondern meines eigenen Uropas, über den ich bisher
keinen einzigen Gedanken verloren hatte.
Nicht mal mein Vater hatte ihn gekannt: Élie Clément, so hieß er, starb
1941, ein Jahr also nachdem die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Frankreich
besetzt hatten. „Das hat er nicht verkraftet“, weiß meine Tante Chantal,
„wobei man die Deutschen natürlich nicht für seinen Krebs verantwortlich
machen kann.“ Beim Tippen habe sie sich lange überlegt, das abwertende „les
boches“ mit „les allemands“ zu ersetzen. Doch sie beließ es dabei:
„Schließlich waren es seine Worte.“
## Blick Richtung Meer
Élie Clément war 35 Jahre alt und Vater von vier Kindern, als er am 4.
August 1914 in den Dienst einberufen wurde. „Eine Schande“, findet Chantal.
„Die Bretons und die Vendéens mussten für den Krieg bitter bezahlen.“ In
seinen Aufzeichnungen findet man jedoch keine Spur von Verbitterung.
Während ich lese, hebe ich hin und wieder den Blick Richtung Meer. Noch
sind da circa 50 Meter Sandstrand zwischen mir und dem Wasser. Aber man
muss am Atlantik höllisch aufpassen, um nicht von der Wucht der Springflut
überrascht zu werden.
Trotz der vom Schlamm gesättigten Gräben, der mageren Essensrationen und
stets anhaltenden Bombardierungen beklagt sich Élie Clément nie, stellt
keine Fragen, regt sich nicht auf. Stoisch beschreibt er, wie er den Tag
verbringt. Der Tod seiner Mutter, von dem er an der Front erfährt, bleibt
nur eine kurze Notiz. Hatte ihn der Krieg völlig abgestumpft oder ließ er
jegliche Emotion beiseite, um nicht wahnsinnig zu werden? Oder traute sich
der einfache Bauer, der er war, selbst in seinem privaten Tagebuch nicht,
die leiseste Kritik an der Führung jenes chaotischen Krieges zu äußern?
Immer wieder beschreibt er, wie er und seine Kameraden mitten in der Nacht
geweckt werden, den Befehl bekommen aufzubrechen, und dabei nie erfahren,
wohin.
„Pass auf, das Wasser!“, schreit plötzlich einer vor mir. Ich schrecke auf
und sehe gerade noch, wie mein von der Flut überraschter Strandnachbar
aufspringt und durchnässt hinter seinen Flipflops herrennt, die von der
Flutwelle mit ins Meer gerissen wurden. Es ist so weit. Ich sammle meine
Sachen ein und ziehe direkt an die Promenade, um weiter in Ruhe lesen zu
können.
Aber mit der Ruhe ist es aus. Der Strand ist mittlerweile auf eine Breite
von knapp acht Metern geschrumpft. Handtuch an Handtuch rücken wir alle
zusammen, während die Kinder eifrig Sandgräben aufbuddeln, um die nahenden
Wassermassen aufzuhalten. Jeden Tag stemmen sie sich auf die immer gleiche
Weise gegen die Elemente. Und jeden Tag gewinnt das Meer, bis vom Strand
gar nichts mehr übrig bleibt und die Wellen direkt an die Promenadenmauer
klatschen. Dann spielen sie noch eine Weile im Wasser und waschen sich den
klebrigen Sand vom Körper, bis ihre Mütter und Väter sie zu sich
zurückrufen.
17 Sep 2015
## AUTOREN
Elise Graton
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Besatzung
Armee
Portugal
Schwerpunkt Syrien
Hühner
Globetrotter
Film
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