# taz.de -- „Libération“-Chef über Charlie Hebdo: „Der Fanatismus hat e… | |
> Alle Welt schaut in diesen Tagen auf die Tageszeitung „Libération“, die | |
> den Redakteuren von „Charlie Hebdo“ Asyl gewährt. Ein Interview mit | |
> Chefredakteur Laurent Joffrin. | |
Bild: Zeigt sich besonders solidarisch mit der „Charlie Hebdo“-Redaktion: d… | |
taz: Monsieur Joffrin, die Mittwochsausgabe der Libération hatte die neue | |
Ausgabe von Charlie Hebdo auf dem Titel und dazu die Schlagzeile „Je suis | |
en kiosque“ (Ich bin am Kiosk). Wie hoch war Ihre Auflage an dem Tag? | |
Laurent Joffrin: Etwa 200.000. | |
Und die Tage davor? | |
Etwa gleich. Am Kiosk verkaufen wir ungefähr viermal so viel wie üblich. | |
Die Gesamtauflage, inklusive Abo, liegt sonst bei etwa 90.000. | |
Charlie Hebdo im Haus und die Polizei vor der Tür, gibt es da Bedenken bei | |
den Mitarbeitern? | |
Es hat keiner etwas gesagt. Wir haben lieber die Polizei hier. Das ist | |
schließlich kein Witz. Das sind echte Mörder. | |
Libération hat die Crew von Charlie Hebdo aufgenommen. In den | |
angelsächsischen Ländern gibt es einen vorsichtigeren Umgang mit den | |
Karikaturen. Viele Zeitungen haben sie nicht abgedruckt. Haben Sie dafür | |
Verständnis? | |
Sie können machen, was sie wollen, aber sie liegen falsch. Demokratien sind | |
in der Regel säkular, die Religion kann uns ihre Vorurteile nicht | |
aufzwingen. Dafür gibt es Gesetze. | |
Wie lange wird Charlie Hebdo bei Libération bleiben? | |
So lange sie wollen. | |
Wie haben Sie diese Woche seit den Anschlägen erlebt? | |
Für uns war das hart, die Zeitungen stehen sich nahe, wir haben uns gut | |
verstanden. Ich kannte den Zeichner Cabu sehr gut, Wolinski auch, seine | |
Familie, das war ein Schock. Wir haben gearbeitet, das ist eine gute | |
Therapie. | |
Wie kann man – auf lange Sicht – aus dem großen Einheitsgefühl des | |
„Republikanischen Marschs“ in Paris, zu dem rund 1,5 Millionen Menschen | |
kamen, Kapital schlagen? | |
Davon wird nicht viel bleiben. Der Kampf findet in den Köpfen statt. | |
Diesbezüglich haben wir einen Punkt gemacht. Es hat sich gezeigt: Ein | |
großer Teil der Franzosen tritt für die Werte von Gleichheit und Freiheit | |
ein. Die Meinungsfreiheit ist bedroht – den Leuten liegt daran. Es war die | |
größte Demonstration seit mehr als hundert Jahren, weil man einen sensiblen | |
Punkt erwischt hat: die freie Meinungsäußerung. Die Leute wollen nicht, | |
dass man daran rührt, dass man sie einschränkt. | |
Aber es gibt auch Stimmen, die sagen: „Ich bin nicht Charlie“. | |
Niemand muss Charlie lieben. Aber die Leute haben für ein Prinzip | |
demonstriert: das Prinzip, sagen zu können, was man will. Im Rahmen der | |
Gesetze. Aber es gab natürlich Leute, die nicht mitlaufen wollten, weil sie | |
denken, dass Charlie den Muslimen Unrecht tut. Ein Teil der Muslime, die | |
eher fundamentalistisch orientiert sind oder sich vom Rest der Gesellschaft | |
ohnehin abkoppeln. Sie sind der Meinung, dass man die Gesetze des Islam | |
respektieren sollte, aber das ist nicht unser Konzept. Die französische | |
Republik lässt sich nicht von religiösen Vorbehalten beeinflussen. | |
Auf der Redaktionskonferenz am vergangenen Freitag gab es eine lebhafte | |
Diskussion zwischen Ihnen und den Redakteuren über die eventuelle | |
Beteiligung des Front National am „Republikanischen Marsch“. Ihre | |
Mitarbeiter sahen das anders als Sie. | |
Ich finde, zu so einem Marsch soll kommen, wer will. Man kann keine | |
Teilnehmer aussortieren. Es war ein taktischer Fehler, sie denken zu | |
lassen, es gäbe eine Art Ausschluss ihrer Gruppe, der Mitglieder des Front | |
National. Sie fühlen sich diskriminiert. Politisch ist das ein Fehler. Das | |
soll nicht heißen, dass Marine Le Pen eine Partei wie alle anderen führt. | |
Ganz und gar nicht. Aber wenn man ihre Wähler zurückholen will, dann muss | |
man mehr an die republikanischen Gefühle appellieren und es nicht wie der | |
Front National machen. | |
In den letzen Tagen hat es verschiedene Anschläge auf islamische | |
Einrichtungen gegeben. Wird Marine Le Pen von den Ereignissen profitieren? | |
Ich fürchte ja. Da die Attentate leider im Namen des Islam begangen werden. | |
Das ist eine fehlgeleitete, falsche Idee des Islam. Man muss deswegen sehr | |
genau unterscheiden zwischen der großen Menge von Muslimen, die sich | |
integrieren wollen, ihren Platz in der Gesellschaft haben wollen. Und dann | |
gibt es die kleine Minderheit der Fundamentalisten, innerhalb derer es | |
wieder eine noch kleinere Minderheit gibt, eine Minderheit der Minderheit, | |
die gewaltbereit ist. | |
Hat Präsident François Hollande gute Arbeit geleistet? Sein Premierminister | |
Manuel Valls hat in der Nationalversmamlung eine bedruckende Rede gehalten. | |
Und die anderen Politiker wie Expräsident Nicolas Sarkozy – wer hat eine | |
gute Vorstellung gegeben? | |
Manuel Valls und François Hollande waren gut, aktiv, agierten würdevoll. | |
Sie haben die richtigen Worte gefunden, das finden alle, nicht nur ich. | |
Hollande hat die Vorstellung widerlegt, dass er nicht dazu imstande sei, | |
Präsident zu sein. Er war der Präsident, daran war nicht zu zweifeln. Er | |
hat deutlich an Popularität hinzugewonnen. Bei Sarkozy gab einen kleinen | |
Zwischenfall: Bei dem Marsch befand er sich im offiziellen Block erst in | |
zweiter oder dritter Reihe, er hat sich dann nach vorne gemogelt, um mit | |
den anderen mit auf dem Bild zu sein. | |
Es gibt Juden in Frankreich, die Angst haben. Vor den Muslimen. Und es gibt | |
Muslime, die Angst haben. Vor den Franzosen. Die Angst vor dem Islam nimmt | |
zu. | |
Viele Muslime sind Franzosen. | |
Aber sie fühlen sich nicht als Franzosen. | |
Sie sind nicht integriert in die Gesellschaft. Aus sozialen und aus | |
psychologischen Gründen. | |
Was wiegt mehr? | |
Der Fanatismus ist nicht nur ein Resultat sozialer Schwierigkeiten. Er | |
kommt ja zum Beispiel aus Saudi-Arabien, einem der reichsten Länder. Es ist | |
das Land, das den Islam am striktesten auslegt. Der Fanatismus hat ein | |
Eigenleben. | |
Sind die Franzosen besonders empfänglich für Islamfeindlichkeit? Hat das | |
mit dem Kolonialismus zu tun? | |
Nein, gar nicht. Eher mit der Konzentration von Einwandern in bestimmten | |
Vierteln. Die Franzosen haben das Gefühl, nicht mehr zu Hause zu sein. | |
Deswegen sind sie verunsichert in ihrer Identität. Sie sind arm, das | |
Zusammenleben gestaltet sich schwierig. Und wenn die Leute sehen, was | |
passiert, bewirkt das ein Gefühl des Misstrauens, das man bekämpfen muss. | |
Das ist im Übrigen noch nicht die Mehrheit. Le Pen hat nur 25 Prozent der | |
Wähler hinter sich. Aber es gibt eine diffuse Beunruhigung, die sich auch | |
in den Medien und bei den Intellektuellen wiederfindet. Die | |
Identitätsdebatte nimmt viel Raum ein, leider. | |
Ist Frankreich bereits ein gespaltenes Land? | |
Es gibt eine Kluft, in bestimmten Vierteln, in sozialer, in religiöser, in | |
kultureller Hinsicht. Frankreich ist im Moment schwer zu regieren. | |
Stößt das französische Modell der Religionsneutralität an seine Grenzen? | |
Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Es wurde gerade mit großer Mehrheit | |
befürwortet. | |
Aber es ist schwierig, die religiöse Erziehung zu kontrollieren. | |
Die Vertreter der muslimischen Verbände waren gut. Der Direktor der Großen | |
Moschee in Paris, der Präsident des UOIF (Union Islamischer Organisationen | |
Frankreichs), sie haben die Attentate verurteilt, ihr Beileid | |
ausgesprochen, sich solidarisch gezeigt, sie haben sich mit den | |
französischen Politikern und mit den Vertretern der jüdischen Gemeinschaft | |
getroffen. Sie haben ihren Job hervorragend gemacht, da gibt es nichts dran | |
auszusetzen. | |
Fürchten Sie den Sieg von Marine Le Pen? | |
Nein, die Mehrheit der Franzosen wird sie nicht wählen. Wenn, dann in der | |
Stichwahl. | |
Gegen Sarkozy? | |
Wir werden sehen. Hollande hat einiges wettgemacht. | |
18 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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