# taz.de -- Regisseurin über Dreharbeiten in Clubs: „Das macht manche Leute … | |
> Mia Hansen-Løves Film „Eden“ erinnert an die Zeit, in der French House | |
> das Nachtleben eroberte. Ein Gespräch über den Reiz des Unentschlossenen | |
> und die Statisten im Club. | |
Bild: „Mir kommt es vor, als hätte es noch nie einen realistischeren Zugang … | |
Paris, Anfang der 90er Jahre. French House – auch Garage genannt – wird vom | |
Insidertipp zu einem Trend im Nachtleben, und Paul (Félix de Givry) ist im | |
Begriff, sich als DJ zu profilieren. Zunächst hat er Erfolg, die Partys, | |
bei denen er auflegt, werden größer, die Kontakte professioneller, aber | |
nach einer Weile beginnt er zu stagnieren, nimmt viele Drogen, leiht sich | |
zu viel Geld, verschleißt eine Menge Freundinnen. | |
Mia Hansen-Løves Spielfilm „Eden“ begleitet Paul über einen Zeitraum von | |
fast zwei Jahrzehnten, in einer offenen, auf keinen Plot Point und keine | |
Klimax zusteuernden Dramaturgie. Die Hauptfigur ist dem Bruder der | |
Regisseurin, Sven Hansen-Løve, nachempfunden. Guy-Manuel de Homem-Christo | |
und Thomas Bangalter von Daft Punk haben mehrere Cameo-Auftritte, woraus | |
„Eden“ einen hübschen Running Gag macht: Weil niemand weiß, wie die beiden | |
aussehen (in Videos und bei Konzerten tragen Daft Punk Masken bzw. Helme), | |
scheitern sie immer wieder an den Türstehern der Clubs. | |
Als ich Mia Hansen-Løve in Paris begegne, bin ich von der Sorgfalt, mit der | |
sie ihre Gedanken und Entscheidungen erläutert, eingenommen. Nicht oft | |
trifft man auf Regisseure, die so ernsthaft und genau über ihre Filme | |
sprechen möchten. | |
taz: Frau Hansen-Løve, in „Eden“ gibt es viele Szenen, die in Clubs und auf | |
Partys spielen. Es ist aber gar nicht so einfach, Leute beim Feiern und | |
beim Tanzen zu filmen. Wie sind Sie damit umgegangen? | |
Mia Hansen-Løve: Wir – ich sage wir, weil mein mein Bruder stark einbezogen | |
war – haben lange gebraucht, um die Finanzierung auf die Beine zu stellen, | |
und während dieser Zeit haben wir viel darüber nachgedacht, wie wir die | |
Clubszenen filmen wollten. Von Anfang an wusste ich, dass die Art und | |
Weise, in der Clubs normalerweise gefilmt werden, selbst in Filmen, die ich | |
sehr mag, nicht dem entspricht, was ich versuchen wollte. | |
Weshalb? | |
Mir kommt es vor, als hätte es noch nie einen realistischen Zugang gegeben, | |
außer im Dokumentarfilm. Aber ich wollte ja keinen Dokumentarfilm drehen, | |
sondern einen Spielfilm, der durch die mise en scène auch zu einer | |
bestimmten Form von Poesie finden sollte. Ich wollte meine eigene Sprache | |
finden, meinen eigenen Rhythmus, und das hieß gerade nicht, dass ich den | |
Rhythmus der Musik einfach hätte auf die Bilder durchpausen wollen. Die | |
Frage war: Wie kann ich die Musikstücke so filmen, dass das Publikum sie | |
genauso genießt wie ich und die spezielle Beziehung zwischen dem DJ und | |
denen, die tanzen, spürt? Diese Musik, Garage, ist noch nie gefilmt worden. | |
Und ich wollte in meinem Filmstil die Musik weder imitieren noch Videoclips | |
drehen. | |
Und wie sind Sie konkret vorgegangen? | |
Zum Beispiel die Arbeit mit den Statisten: Während wir nach den | |
Schauspielern Ausschau hielten, casteten wir auch die Statisten. Einer | |
meiner Mitarbeiter ist mehrere Monate lang in Clubs gegangen, hat dort | |
Flyer an diejenigen verteilt, die Interesse hatten, am Film mitzuwirken. | |
Sie kamen als Gruppe, haben zu Musik improvisiert, und uns ging es darum, | |
ein Club-Publikum zu haben, das wirklich ein Club-Publikum ist – keine | |
Statisten, die zu gut aussehen und zu viel mit sich anstellen. | |
Wie war es beim Dreh? Haben die Leute angefangen zu tanzen, wenn Sie | |
„Action“ riefen, oder tanzten sie die ganze Zeit, und Sie haben irgendwann | |
zu drehen begonnen? | |
Ich glaube, beides kam vor, je nach den Erfordernissen der Szene. Was ich | |
erinnere, ist, dass wir sehr genau mit dem Ton gearbeitet haben. Ich habe | |
viel Energie darauf verwandt, die Rechte für die Stücke zu bekommen, bevor | |
wir zu drehen anfingen. Das gestattete mir, mit der richtigen Musik an der | |
richtigen Stelle zu arbeiten. | |
Ist das normalerweise nicht so? | |
Meistens nimmt man irgendeine Musik und überarbeitet den Sound später, im | |
Schnitt, komplett. Und genau das wollte ich nicht. Ich wollte zum Beispiel | |
die Möglichkeit haben, die Leute beim Mitsingen zu filmen. Denn es handelt | |
sich ja um Songs, es ist kein Techno. Und ich wollte den DJ dabei filmen, | |
wie er arbeitet, wie er die Bässe rein- und rausdreht, ich wollte den | |
Augenblick filmen, in dem er zwei Tracks mixt, und dazu musste ich für jede | |
Einstellung genau wissen, was ich tue, ich konnte es nachträglich nicht | |
ändern. | |
Ich hatte nie den Eindruck, dass Sie durch die Kamerabewegungen oder durch | |
den Schnitt den Zustand der Trance imitieren, der sich beim Tanzen | |
einstellen kann. | |
Das war mir sehr wichtig. Als ich Ihnen sagte, mir liege viel am Realismus, | |
meinte ich das im Gegensatz zu dieser Vorstellung, man müsse das Gefühl | |
nachbilden, das die Musik angeblich auslöst. Das finde ich ziemlich | |
klischeehaft. Der Realismus ist auch kein Selbstzweck, sondern für mich der | |
beste Weg, Zugang zu einer anderen Dimension zu bekommen. Deshalb gibt es | |
ganz am Anfang die Szene, in der Paul aus dem Club nach draußen geht, auf | |
Ecstasy ist und einen Vogel sieht … | |
… einen animierten Vogel mitten im Realfilm … | |
Das war für mich ein Weg, um zu zeigen, dass sich der Film hin zu einer | |
anderen Welt öffnet. Aber danach versuche ich nicht mehr, diese andere Welt | |
zu rekonstruieren. Auf den ersten Blick sieht es aus, als bliebe ich an der | |
Oberfläche. Aber das andere ist trotzdem in mir und im Film drin. Ich | |
hoffe, das klingt nicht zu abstrakt. | |
Nein, das denke ich nicht. Wenn man beim Filmemachen sehr präzise im Umgang | |
mit der Oberfläche und mit den Details ist, kommt man möglicherweise an | |
einen Punkt, an dem man die Oberfläche transzendiert. Robert Bresson hat | |
das beschrieben. | |
Es ist mein Zugang zum Filmemachen und zum Leben, meine Definition von Stil | |
und das, woran ich glaube. Wie ich mich den Clubs und der Musik im Film | |
nähere, ist davon extrem beeinflusst. | |
Ich habe gelesen, dass Sie noch sehr jung waren, als Sie mit Partys und | |
Garage in Berührung kamen, weil Ihr Bruder, der ja das Drehbuch mitverfasst | |
hat, DJ war. Wie erinnern Sie diese Zeit, die frühen und mittleren 90er? | |
Mein Bruder war acht Jahre älter als ich, und als er DJ wurde, war er 18, | |
19, das heißt: Ich war 11, 12. Der erste Ort, wo er Resident DJ wurde, war | |
eine Bar im Viertel Bastille. Weil es eine Bar war, war es leichter | |
reinzukommen. Was dort so stark war, war, dass man spürte: Hier beginnt | |
etwas, was im Begriff ist, größer zu werden. Der Charme hatte viel mit der | |
Spontaneität zu tun, denn es war ja kein Club. Irgendwann entschieden die | |
Betreiber, meinen Bruder und seinen Freund als DJs zu engagieren, und die | |
Gäste genossen die Musik so sehr, dass sie irgendwann einfach aufstanden, | |
die Tische zur Seite schoben und tanzten. Es war wie eine Pilgerreise oder | |
ein Ritual: Erst trinkt man was, dann rückt man Tische und tanzt ganz | |
inbrünstig. So habe ich das Nachtleben entdeckt, lange bevor ich mir | |
vorstellen konnte, Filmemacherin zu werden. | |
Was ich am Protagonisten interessant fand, war, dass er zwar einen gewissen | |
Aufstieg schafft, danach aber auf der Stelle tritt, als Mensch wie als DJ. | |
Er durchläuft keine Entwicklung. | |
Das macht manche Leute aggressiv. Sie sind an Figuren gewöhnt, die wissen, | |
was sie wollen. Aber wenn ich mich unter meinen Freunden und Bekannten | |
umschaue, dann sehe ich niemanden, der so wäre. Und wenn ich ein Drehbuch | |
schreibe, weiß ich nicht, warum ich daran etwas ändern sollte. Weil es ein | |
Film ist und weil die Figuren in Filmen entschlossener sind und immer nach | |
vorn schauen? Aber warum soll das so sein? Bei „Un amour de jeunesse“ war | |
es auch so, da gibt es eine Figur, von einem deutschen Schauspieler | |
gespielt … | |
… Sebastian Urzendowsky … | |
Und diese Figur war auch sehr unentschlossen. Die Leute waren regelrecht | |
wütend auf sie. Und wütend auf den Film, weil er einer solchen Figur so | |
viel Aufmerksamkeit zollte. Aber mich rühren solche Figuren. Sie sind | |
genauso interessant wie andere, und ich versuche, diese Liebe, dieses | |
Gefühl, das ich für sie empfinde, zu übermitteln. | |
Manche Rezipienten scheinen eine Art neokonservativen Erwartungskatalog an | |
Filmfiguren aufzustellen: Sie müssen erwachsen werden, und dazu gehört eine | |
stabile Zweierbeziehung, eine berufliche Karriere und eine | |
Familiengründung. | |
Ja, eine Menge Leute sind intolerant gegenüber Filmfiguren. Sie sollen | |
vollkommen sein und in dem, was sie über die Menschheit sagen, Sicherheit | |
gewähren. Sobald die Figuren tatsächlichen Menschen ähneln, regen sich die | |
Zuschauer auf, anstatt Empathie zu entwickeln. Ich weiß nicht genau, warum | |
das so ist. Aber ich habe es bei allen meinen Filmen bemerkt. In allen vier | |
Filmen gibt es schwache Figuren, besonders Männer, und immer gab es zornige | |
Reaktionen auf diese Figuren, in Zeitungen und anderswo. | |
1 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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