# taz.de -- Radu Jude über seinen neuen Film: „Ich will ganz ohne Geschmack … | |
> Der rumänische Regisseur Radu Jude hat eine schwarze Komödie gedreht. Er | |
> erzählt, wie er Trash und Hochkultur zu einer eigenen Form verbindet. | |
Bild: Angela (Ilinca Manolache) nimmt ein Video als ihr Alter Ego Bobiță auf | |
Vor drei Jahren erhielt Radu Jude für seine wüste Satire [1][„Bad Luck | |
Banging or Looney Porn“ überraschend den Goldenen Bären der Berlinale]. | |
Auch in seinem neuen Werk, dem Dreistundenepos „Erwarte nicht zu viel vom | |
Ende der Welt“, verwebt der 47-jährige Rumäne mit anarchischer Lust | |
Spielfilmszenen, formale Experimente und politischen Kommentar. Seine | |
Protagonistin Angela (Illinca Manolache) ist eine überarbeitete | |
Produktionsassistentin in Bukarest, die für eine österreichische | |
Auftraggeberin (Nina Hoss) ein Werbevideo über Arbeitssicherheit drehen und | |
dazu Betroffene interviewen soll. Ein ätzend-komischer Höllenritt durch die | |
Abgründe der spätkapitalistischen Gegenwart. | |
taz: Herr Jude, inwieweit können Sie sich mit der Protagonistin Ihres Films | |
identifizieren? | |
Radu Jude: Schon sehr. Aber eigentlich bin ich dagegen, aus dem eigenen | |
Leben zu erzählen. Autofiktion, puh. Ich glaube, es fing in Kursen über | |
kreatives Schreiben an und schwappte dann zum Film über. Die Idee, über | |
sich selbst zu sprechen, wurde zur Mode, zum Mantra. | |
Ich unterrichte an einer Filmschule und höre da von Studierenden immer | |
wieder: „Ich will genau darüber einen Film machen, weil es mir so passiert | |
ist.“ Alles andere ist ihnen egal. Dabei ist eins der mächtigsten Dinge, | |
die das Kino tun kann, die Welt zu betrachten und nicht sich selbst. | |
Trotzdem gibt es autobiografische Bezüge in Ihrem Film … | |
Alle Geschichten in diesem Film sind mir entweder selbst widerfahren oder | |
ich bin ihnen bei meiner Arbeit begegnet. Wie Angela habe ich in der | |
Filmbranche angefangen, indem ich viele Jahre lang alle möglichen Jobs | |
gemacht habe. | |
Doch es geht nicht um mich. Diese Geschichten symbolisieren etwas Größeres | |
als mein Leben oder auch die Situation in der rumänischen Filmbranche oder | |
meinem Land. So spezifisch es ist, sagt es etwas über uns alle aus. Ich | |
musste für all diese Geschichten nur eine Form finden. Wie in dem Fall die | |
kleinen Begegnungen Angelas mit Menschen, die sie für den Werbefilm über | |
Arbeitssicherheit interviewt. So zeige ich Einblicke in deren Alltag, | |
zeige, wie sie leben und arbeiten, wie sie leiden und hoffen oder | |
resignieren, das ganze Spektrum. | |
Die Form ist also organisch gewachsen? | |
Organisch ist daran gar nichts. Es war mit viel Leid, viel Mühe und vielen | |
Fehltritten verbunden. Mich interessiert die Struktur von Kunstwerken, wie | |
sie Teil dessen ist, was in einem Film oder einem Roman oder einem Gemälde | |
wichtig ist. Wenn ich eine für mich unbekannte Form sehe, interessiert mich | |
das sehr viel mehr als etwas, das sehr gut gemacht, aber konventionell ist. | |
Wenn ich einen Roman von Sebald lese, finde ich ihn nicht nur wegen des | |
Inhalts bedeutend, sondern vor allem auch wegen der ungewöhnlichen Form, | |
die Sebald dafür gefunden hat. Das ist es, was mich interessiert als Leser, | |
als Betrachter von Malerei und als Hörer experimenteller Musik. Und auch in | |
meiner eigenen Arbeit versuche ich immer, die beste Struktur für ein Thema | |
zu finden, wie eine Collage oder eine Komposition. Ich kann keinen | |
Thesenfilm machen. | |
Ein wichtiges Element ist diesmal der Film „Angela fährt fort“ von Lucian | |
Bratu aus dem Jahr 1981, aus dem Sie mehrere Szenen einbauen, als „Dialog“, | |
wie es im Vorspann heißt. Wie hat sich das entwickelt? | |
Es war etwas, das auftauchte, weil sich das Projekt schichtweise | |
entwickelt. Und jede Schicht fügte eine weitere Dimension der Geschichte | |
hinzu. Wie bei [2][Marcel Duchamps Ready-mades] versuche ich alles | |
gleichberechtigt zu behandeln, egal ob es sich um meine eigenen Bilder oder | |
die anderer handelt. Die Protagonistin von Bratus Film ist eine | |
Taxifahrerin während der Ceaușescu-Diktatur, und zunächst wollte ich nur | |
eine Szene daraus nehmen, in der man sie am Steuer durch Bukarest fahren | |
sieht. Ich habe dann immer mehr eingebaut, bis es so eine Art | |
Parallelmontage wurde, wie in einem Roman. | |
Im Film spielen Nina Hoss und der [3][deutsche Krawallfilmer Uwe Boll] mit. | |
Auch das ein Kommentar auf die angebliche Unvereinbarkeit von Hochkultur | |
und Trash? | |
Beides ist doch ästhetisch interessant, wenn man es nur genau genug oder | |
ernsthaft genug betrachtet. Uwe Bolls Filme, ob man sie mag oder nicht, | |
können als Gegenstand einer Analyse genauso bereichernd sein wie ein | |
sogenanntes Meisterwerk. Ich versuche in alle Richtungen offen zu sein, bei | |
meinen Filmen und im Leben. Dieser offene Blick geht aber nicht ohne | |
Bildung. | |
Kunst kann helfen, sich für mehr Ausdrucksformen zu interessieren, mehr | |
angenehme Dinge in seinem Leben zu finden. Ganz davon abgesehen, ist Uwe | |
Boll für mich ein Vorbild in seiner Unverwüstlichkeit und seinem Wunsch, | |
weiterzumachen, obwohl er dauernd verrissen wird. Er ist erstaunlich | |
charmant und ein wirklich guter Schauspieler. | |
Bei Ihrem vorherigen Film „Bad Luck Banging or Looney Porn“ sprachen Sie | |
vom schlechten Geschmack als Mittel der Provokation … | |
Das war meine damalige Sichtweise. Mittlerweile bin ich einen Schritt zur | |
Seite getreten. Ich versuche, auf eine Art ganz ohne Geschmack zu sein, die | |
Dinge nicht mit Vorlieben und Abneigungen zu betrachten. Ich versuche | |
andere Perspektiven aufzunehmen, offener zu sein. Ich würde heute sogar | |
sagen: Schlechten Geschmack gibt es nicht. Wenn man etwas vermeintlich | |
Geschmackloses ernst nimmt, wird es zu gutem Geschmack. | |
Mit etwas zu provozieren hängt sehr von der Kultur ab, von der Gesellschaft | |
und der Zeit. Es gibt immer Grenzen, deren Überschreitung eine Art | |
Provokation darstellt. Aber darauf lege ich es mit meinen Filmen gar nicht | |
an. Und bin manchmal ganz erstaunt, wie sie bei manchen Leuten eine solche | |
Aufregung und wütende Reaktion hervorrufen können. Diesmal war vor allem | |
die Form der Stein des Anstoßes. Viele Leute meinten, so sollte ein Film | |
nicht aussehen. Und er wurde als vulgär empfunden, er bekam in Rumänien | |
eine Altersfreigabe von 18 Jahren. | |
Lässt Sie dieser Widerstand resignieren oder treibt er Sie eher an? | |
Ich habe überhaupt nichts dagegen, abgelehnt zu werden, weil ich glaube, | |
dass es der erste Schritt zur Akzeptanz sein kann. Mir hat früher auch | |
vieles nicht gefallen, ob Filme, Gemälde oder Literatur. Aber wenn ich | |
dabei starke Reaktionen hatte, blieben sie mir im Gedächtnis. Und im Laufe | |
der Jahre änderte sich meine Sichtweise und ich entdecke plötzlich etwas in | |
Werken, die ich früher abgelehnt habe. Reibung ist notwendig. | |
Hat denn der Goldene Bär etwas verändert? | |
Ich versuche mich weder von Erfolg noch Scheitern beeinflussen zu lassen. | |
Wenn man anfängt, Anerkennungen zu glauben, wird es gefährlich. Der direkte | |
Weg zur Neurose. Aber natürlich bekomme ich seitdem etwas leichter Geld für | |
neue Projekte. Es ist wie beim Pferderennen. Wenn du einmal gewonnen hast, | |
setzen sie das nächste Mal auf dich. Aber wenn du dann das Rennen | |
verlierst, ist der Einsatz futsch. Ich versuche, das System so gut wie | |
möglich zu nutzen, bis sie merken, dass ich kein Siegerpferd bin. | |
Wobei diese internationale Koproduktion zwar mit Nina Hoss einen deutschen | |
Star, aber keine deutsche Förderung hat … | |
Angela filmt zwischendurch parodistische Tiktok-Videos, in denen sie sich | |
in einen toxischen Typ namens Bobiță verwandelt, der die übelsten Sprüche | |
ablässt. Bei einem deutschen Fond hatten sie Angst, dass diese Figur falsch | |
verstanden wird. „Was ist, wenn die Leute denken, dass dies die Botschaft | |
des Films ist? Was ist, wenn wir beschuldigt werden, einen solchen Film zu | |
unterstützen?“ Sie geben öffentliche Gelder und wollen sich nicht | |
angreifbar machen. Also bevorzugen sie Filme, die unverfänglicher sind. | |
3 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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