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# taz.de -- Film „Kontinental ’25“ von Radu Jude: Schuld und Fußball
> In Radu Judes Film „Kontinental ’25“ kämpft eine Gerichtsvollzieherin …
> moralischen Zweifeln und systemischen Zwängen.
Bild: Gewissensprüfung einer Gerichtsvollzieherin: Orsolya (Eszter Tompa) in �…
Vor sich hin murmelnd, sammelt ein Mann, der bessere Tage in seinem Leben
gesehen haben dürfte, in einem Wald Dinge auf, die Menschen weggeworfen
haben – Pfand, offene Snacktüten. Als er einen Hohlweg herunterkommt und
Dinge in die prallen Taschen über seiner Schulter stopft, brüllt neben ihm
ein mechanischer Dinosaurier. Er ignoriert die mechanischen Tiere. Eine
Seilbahn bringt ihn zurück an eine Zufahrtsstraße.
Schon in den ersten Einstellungen von „Kontinental ’25“ etabliert der
rumänische Regisseur Radu Jude die Tonlage seines Films zwischen Tragik,
Skurrilität und politischem Stimmungsbild. Die Tragikomödie lief dieses
Jahr [1][im Wettbewerb der Berlinale und wurde mit dem Silbernen Bären für
das beste Drehbuch ausgezeichnet].
Wenig später wird Ion Glanetaşu (Gabriel Spahiu) von der
Gerichtsvollzieherin Orsolya Ionescu (Eszter Tompa) aus seiner
improvisierten Wohnung im Heizraum eines Wohnhauses in Cluj geräumt. Das
Haus soll einem Luxushotel weichen. Die Gerichtsvollzieherin hat sich
angesichts der Lage viel Mühe gegeben, die Situation abzumildern, aber für
Glanetaşu ist es nach den diversen Volten des Schicksals, die ihn vom
leidlich erfolgreichen Leichtathleten zum alkoholkranken Arbeitslosen
reduziert haben, ein Schlag zu viel: Während die Gerichtsvollzieherin und
die Polizisten draußen warten, nimmt er sich das Leben.
## Verortung in der Sphäre des Politischen
Ionescu wird von Schuldgefühlen förmlich zerrissen. Doch ihre Umgebung
sieht keinen Grund für ihre Selbstzweifel. Ihr Chef macht ein paar
geschmacklose Witze und macht einen Haken unter die Sache, ihr Mann tröstet
sie zunächst, doch als seine Frau ihm einen Artikel aus der Presse
vorliest, der das Ereignis aufgreift und betont, dass Ionescu zur
ungarischen Minderheit in Rumänien gehört, hat er nichts Besseres zu tun,
als ihr die nationalistisch verwahrlosten Kommentare unter dem Artikel
vorzulesen.
In Szenen wie dieser wird Radu Judes Können sichtbar, seine Figuren mit
Dingen zu umgeben, die deren Handeln über das Individuelle hinaus in einer
politischen Sphäre verorten. [2][2021 umgab er in „Bad Luck Banging or
Loony Porn“], mit dem er damals den Goldenen Bären auf der Berlinale
gewann, seine Figuren auf den Straßen und an den Wänden mit Wahlplakaten
und Werbung.
Diesen eigentlich einfachen, aber wirksamen Einfall hat er seither
ausgebaut. So läuft, während Orsolya ihrem Mann das Ereignis berichtet, auf
dem Fernseher im Hintergrund zunächst Werbung und später Fußball. Wie
beiläufig werden Orsolyas Gewissensbisse, die dem Funktionieren in einer
Konsumwelt zuwiderlaufen, der Selbstzurichtung ihres Mannes
gegenübergestellt.
In anderen Politikfeldern funktioniert das Drehbuch sehr ähnlich: So gehört
die Immobilienfirma, die Glanetaşu aus seiner Wohnung räumen lässt, um
Platz zu machen für das Luxushotel, ehemaligen Angehörigen der
Geheimpolizei und evoziert wie beiläufig die Traditionslinien, die das
Rumänien der Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Mit welcher
Leichtigkeit Radu Jude all diese kleinen Verweise in die Handlung
einflicht, ist beeindruckend durch den Film zu verfolgen.
## Jedes Jahr ein neuer Film
Neben dieser Leichtigkeit ist jedoch auch eine gewisse Routine, mit der vor
allem die Umgebung der Protagonistin abgespult wird, nicht zu übersehen.
Was kein Wunder ist, wenn man sich vor Augen hält, dass der Regisseur seit
einigen Jahren fast jedes Jahr einen neuen Film fertigstellt und in manchen
sogar mehr als einen. Und das, während viele seiner Kollegen aus der neuen
rumänischen Welle, mit der auch Radu Jude in den 2000er Jahren
international bekannt wurde, nur noch alle paar Jahre einen neuen Film
drehen.
„Kontinental ’25“ ist denn unterdessen auch nur noch der vorletzte Film d…
Regisseurs. Sein neuster Film „Dracula“ feierte im Sommer auf dem
Filmfestival in Locarno Premiere. Hannah Pilarczyk, Filmredakteurin bei
Spiegel Online, hat für diesen Drang einer Reihe männlicher Regisseure, die
Welt in hoher Schlagzahl mit ihren Filmen zu beglücken, das Stichwort der
„Cinepotenz“ geprägt.
„Kontinental ’25“ ist ein beeindruckender Film, und der Silberne Bär für
Radu Judes Drehbuch ist sehr nachvollziehbar. Mit großer Eleganz führt das
Drehbuch die Protagonistin durch ihren Parcours der Gewissensbisse und
arbeitet in ihren eigenen, hilflosen Versuchen, ihr Gewissen zu beruhigen,
und in den Reaktionen ihrer Umgebung ein menschlich ethisches Problem
heraus: die Spannung zwischen individuellem Handeln, moralischer Schuld und
systemischen Zwängen und dem oft etwas kindischen Versuch, dieser mit
symbolischen Handlungen zu entkommen, einerseits und andererseits dem
Unwillen, sich in kapitalistischen Konsumgesellschaften solche ethischen
Fragen auch nur zu stellen.
Orsolya Ionescu etwa spendet ein bisschen und beginnt als Ausgleich linke
Literatur zu lesen. Scheinbar aus der Lameng wirft Radu Jude in seinem Film
ethische Fragen auf, durchwebt sie mit der Politik der Gegenwart und
beschwört in der Form des Films noch Filmgeschichte herauf, am
offensichtlichsten Roberto Rossellinis „Europa 51“. Und das Erstaunlichste:
So gut „Kontinental ’25“ auch ist, er ist noch nicht mal Radu Judes bester
Film.
14 Oct 2025
## LINKS
[1] /Kontinental-25-von-Radu-Jude/!6067111
[2] /Film-Bad-Luck-Banging-or-Loony-Porn/!5780755
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Spielfilm
Schwerpunkt Wahlen in Rumänien
Gentrifizierung
Gewissen
Ethik
Schwerpunkt Wahlen in Rumänien
Schwerpunkt Berlinale
Arthouse
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