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# taz.de -- Doku „Herr Bachmann und seine Klasse“: Alle ernst nehmen
> Der Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth zeigt
> Schüler in Mittelhessen. Er ist große Gesellschaftsanalyse im Kleinen.
Bild: Herr Bachmann muss in seiner Klasse mit mehr als drei Bällen jonglieren
Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Interview mit der [1][Filmemacherin
Maria Speth] stehen. Doch die Regisseurin von „Herr Bachmann und seine
Klasse“ musste das vereinbarte Einzelgespräch für ihre Arbeit absagen.
[2][Der Film hatte nach der Auszeichnung mit dem Silbernen Bären auf der
letzten Berlinale im März] (und dem Publikumspreis der Sommer-Berlinale)
einen ebenso rasanten wie lang anhaltenden Lauf und war auf Filmfestivals
rund um die Welt eingeladen – immer begleitet von Präsentationen und
Fragerunden der Regisseurin, die „Herr Bachmann“ auch selbst produziert und
montiert hatte.
Nun kamen zum Filmstart noch einmal diverse Interviewtage. Die durchweg
begeisterte Resonanz auf Speths sechste Regiearbeit wird hier nun
stattdessen um eine ausführliche Würdigung erweitert.
Mittlerweile dürfte jede und jeder einigermaßen Filmaffine schon einmal von
„Herr Bachmann und seine Klasse“ gehört haben, der sich – wie im Titel
angezeigt (und mit erfreulicher Geduld und Genauigkeit) – der sechsten
Klasse einer hessischen Kleinstadt-Gesamtschule und einem ihrer Lehrer
widmet. Es ist eine für städtisches Milieu recht übliche, an
Persönlichkeiten und Herkünften bunt gemischte Klasse, wo viele Kinder noch
mit der deutschen Sprache hadern.
Und es ist ein sehr besonderer Lehrer, der seinen pädagogischen Auftrag
weit über die Vermittlung von Stoff und Wissen hinaus so ernst nimmt wie
seine Schülerinnen und Schüler selbst und das oft propagierte, aber selten
eingelöste Motto vom „Non scholae, sed vitae discimus“ mit Leben füllt.
Hier wird jede/r Einzelne ernst genommen. Und auch wenn die Blicke der
Schülerinnen und Schüler bei manchen Aktionen erst mal ratlos scheinen,
erwidern sie am Ende die Verbindlichkeit des Pädagogen durch eigenes
Engagement.
## Diversität und kulturelle Identitäten
Es überrascht nicht, dass ein Film mit solchem Stoff in mehrfacher Hinsicht
einen Nerv trifft in Zeiten, wo die Coronadebatten den Diskurs über die
Bedeutung von Schule gerade für sozial benachteiligte oder am Rand stehende
Kinder in den Vordergrund geschoben haben. Auch Fragen gesellschaftlicher
Diversität und kultureller Identitäten sind derzeit heiß umkämpft und oft
ideologisch umzingelt.
Da lockt der Blick auf pädagogische Praxis mitten in der gesellschaftlichen
Kampfzone Schule auch mit direkteren Einblicken und verspricht selbst
Erkenntnis – ohne dabei naiv auf Objektivität zu setzen.
Der Filmwissenschaftler und Filmpädagoge Alejandro Bachmann (nicht mit dem
Lehrer Dieter Bachmann verwandt oder verschwägert) hat in einem sehr
lesenswerten Text in einem Begleitheft des Grandfilm-Verleihs zum Film die
performative Verwandtschaft von Schulunterricht und Dokumentarfilm
beschrieben, die auch Maria Speth zu Beginn ihres Films in der
spielerischen Parallelführung beider Inszenierungen etabliert.
## Schweigend in die Klasse kommen
Nach einer frühmorgendlichen Schulbusfahrt durch die Dämmerung und einigen
Stadtansichten hören wir da Herrn Bachmann erst mal nur als Stimme aus dem
Off, als er seinen gerade in Mänteln das Klassenzimmer stürmenden
Schüler*innen eine Regieanweisung gibt: „So, alle noch einmal
hinausgehen, die Ilknur hat geredet.“ So geschieht es dann auch, bevor die
Kinder wieder – diesmal schweigend – in die Klasse kommen, sich die Mäntel
ausziehen und setzen.
Es folgt die Frage ans Kollektiv, wer fehlt. „Dann haben wir doch alle,
oder?“, sagt Herr Bachmann. Und gibt allen Gelegenheit, noch einmal zwei
Minuten mit dem Kopf auf dem Tisch auszuruhen. Erst dann der Gegenschnitt
auf einen älteren Mann mit Wollmütze und grauem Hoodie, der mit scheinbar
mürrischem Gesicht hinter dem Lehrertisch, einigen Aktenordnern und einem
künstlichen Weihnachtsbäumchen sitzt. Im Weiteren beobachtet die Kamera von
Reinhold Vorschneider erstaunlich fluide das muntere Hin und Her in der
Klasse.
Die Schüler*innen sind zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt und damit
in einem Alter, wo es von der Kindheit ins Jugendalter geht und sich die
Wege für das weitere Leben langsam abzeichnen. Das Jahr ist auch das letzte
für alle gemeinsame, bevor sie nach Leistungsstand und Einschätzung der
Lehrer*innen getrennt werden für drei unterschiedliche weiterführende
Schultypen.
Verhindern lässt sich diese Einsortierung und der dadurch entstehende
Leistungsdruck im bestehenden Bildungssystem nicht, aber Einfluss nehmen
auf die Gerechtigkeit der Entscheidungen, wie wir in wie nebenbei
beobachteten Besprechungen hören. Und es lässt sich daran arbeiten, wie die
getroffenen Entscheidungen von den Schüler*innen erlebt und wahrgenommen
werden.
## Als Quereinsteiger in den Lehrberuf
Dieter Bachmann gehört zu denen, deren Schulzeit noch von in der Nazizeit
ausgebildeten Lehrerinnen und aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten
Lehrern bestimmt war. Er selbst kam spät als Quereinsteiger in den
Lehrberuf. Wie wir anfangs gehört haben, ist der Verzicht auf Autorität
nicht seine Sache, genauso wenig (trotz des Hoodies) pseudojugendliche
Anbiederei.
Bezeichnend eher das darüber getragene AC/DC-T-Shirt als persönlicher
Geschmacksausdruck. Denn Musik und gemeinsames Musizieren spielen eine
große Rolle rund um den Unterricht des kurz vor dem Ruhestand stehenden
Lehrers. Und das ist nicht Rap oder HipHop, sondern die Musik seiner
Generation (der Boomer). Ein bulgarisches Mädchen lässt er zur Gitarre
„Hejo, spann den Wagen an“ singen oder im Kollektiv den legendären
Anfangsriff von „Smoke on the Water“ interpretieren.
So trifft der eigene kulturelle Hintergrund der Jugendlichen ganz
selbstverständlich auf fremdes Material, und die mit großer Offenheit
gesteuerte dialektische Auseinandersetzung ist (neben seinem ernsthaften
Interesse an den Kindern) die andere große Kunst, die Herr Bachmann
exzellent beherrscht. Dabei werden die Vorbehalte eines gut Deutsch
sprechenden Jungen gegenüber der Sprachförderung für die Neuankömmlinge
ebenso direkt angesprochen wie die stereotypen Haltungen einiger
migrantischer Jungen und Mädchen gegenüber der Homosexualität.
## 200 Stunden Material
Drei Jahre hat Maria Speth im Schneideraum gesessen, um die gedrehten 200
Stunden Material auf 217 Minuten Film zu reduzieren. Man muss sie bewundern
für die Arbeit und das Ergebnis, das dreieinhalb Stunden gekonnt die
Spannung hält und immer neue personelle Schwerpunkte und Kleinschauplätze
eröffnet.
Speth gibt ihrem Film, der eigentlich als Stadtporträt geplant war, aber
auch immer wieder Resonanzraum mit Totalen der die Stadt umgebenden weiten
mittelhessischen Landschaft, der Stadt selbst und der Industrieanlagen, wo
die Eltern vieler Kinder arbeiten.
Und sie begleitet diese bei einem Besuch in der örtlichen Gedenkstätte, die
sich Forschungen und Information zu den Themen Rüstungsindustrie und
Zwangsarbeit zur Aufgabe gemacht hat. Denn das Fachwerkdörfchen Allendorf
wurde erst 1938 zum Industriestädtchen Stadtallendorf, als die Nazis hier
die größte Sprengstoffproduktionsanlage Europas errichteten.
Nach dem Krieg (bis heute) sind die größten Arbeitgeber eine Eisengießerei
und der Süßwarengigant Ferrero, der hier seinen deutschen
Produktionsstandort hat. So erkennen die Kinder, dass sie und ihre neue
Heimat Teil einer langen Geschichte sind, die von den ersten
Zwangsarbeitern der NS-Zeit bis zu den Flüchtlingen von heute reicht. Und
für uns Zuschauer ist „Herr Bachmann und seine Klasse“ ganz so wie sein
Protagonist ein Film, der in viele Richtungen Fäden der Erkenntnis auswirft
und Lust macht, sie weiterzuspinnen.
15 Sep 2021
## LINKS
[1] /Kinostart-Toechter/!5033552
[2] /Ende-der-ersten-digitalen-Berlinale/!5752446
## AUTOREN
Silvia Hallensleben
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