# taz.de -- Dokfilm über migrantisch geprägte Schule: „Ein Konzept ist nur … | |
> Mikrokosmos der Gesellschaft: Regisseurin Ruth Beckermann begleitete für | |
> ihren Film „Favoriten“ eine migrantisch geprägte Wiener Schulklasse. | |
Bild: Die porträtierte Grundschulklasse im Dokumentarfilm „Favoriten“ | |
Drei Jahre lang hat die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann eine | |
Wiener Grundschulklasse begleitet. Mit „Favoriten“, benannt nach dem | |
gleichnamigen Arbeiterbezirk, wirft sie einen differenzierten Blick auf | |
Kinder mit unterschiedlichsten Migrationserfahrungen und deren engagierte | |
Lehrerin, die strukturelle Mängel im Schulbetrieb und soziale Probleme zu | |
kompensieren versucht. Mit großer Empathie und Neugier auf Augenhöhe bleibt | |
Beckermann neutrale Beobachterin und greift nicht ein, mit Ausnahme der | |
Handykameras, die sie den Kindern gibt, um abseits des Unterrichts selbst | |
Videos von sich zu drehen. | |
taz: Frau Beckermann, wie ist die Idee zu Ihrem Film „Favoriten“ | |
entstanden? Ging es konkret um die Lehrerin und ihre dritte Klasse oder um | |
grundsätzlichere Fragen zum Schulsystem? | |
Ruth Beckermann: Die Idee war, mir diese Altersgruppe anzusehen und zu | |
schauen, wie ist das in einer Volksschule heute. Die Demografie hat sich ja | |
sehr verändert, seit ich selbst in die Schule gegangen bin, und deswegen | |
wollte ich mir Kinder in einem typischen Viertel einer europäischen | |
Großstadt ansehen. Da ich in Wien lebe, lag es nahe, hier einen Bezirk mit | |
einer sehr gemischten Schule zu suchen. Zusammen mit meiner Co-Autorin | |
Elisabeth Menasse haben ich dann während der Pandemie recherchiert und | |
diese Schule gefunden, die auch die größte Volksschule Wiens ist, mit fast | |
1.000 Kindern. Der Direktor dort war gleich sehr angetan von unserem | |
Projekt und hat uns einige Lehrkräfte und Klassen vorgeschlagen. Dabei ist | |
uns gleich Ilkay Idiskut aufgefallen, weil sie als Lehrerin sehr besonders | |
ist, engagiert und auch filmisch interessant, weil sie eine tolle | |
Ausstrahlung hat, was nicht nur die Kinder merken, sondern eben auch das | |
Publikum. | |
taz: Der Fokus liegt dann aber doch vor allem auf den Kindern. Wie haben | |
Sie das Vertrauen dieser Klasse gefunden? | |
Beckermann: Die Kinder können sich nur so geben, wenn sie die Möglichkeit | |
dazu haben. Also wenn die Lehrkraft sich auf sie einlässt und mit ihnen | |
diskutiert, das soziale Miteinander fördert. Der Direktor hatte vorab den | |
Eltern von uns erzählt und uns dann bei einem Elternabend vorgestellt. Die | |
Kinder waren anfangs aufgeregt, dass da eine Kamera und dieses Tongerät mit | |
dem Pelzmikro sind. Mein Kameramann und der Toningenieur haben ihnen alles | |
erklärt und nach zwei Tagen hatten sie uns integriert und fast vergessen, | |
dass wir da sind. Manche Kinder waren erst schüchtern, einige konnten | |
schlecht Deutsch, es hat oft gedauert, bis einer ein Wort sagt. Aber sie | |
entwickeln sich natürlich auch und werden immer selbstsicherer. | |
taz: Nach Filmen wie [1][„Waldheims Walzer“] und [2][„Mutzenbacher“] ist | |
dies Ihr erster Schritt ins Direct Cinema, das Dokumentarische als | |
teilnehmende Beobachtung. | |
Beckermann: Es war für mich sehr eigenartig, weil ich ja tatsächlich fast | |
nicht interveniert habe. Ich bin die meiste Zeit in einer Ecke gesessen, | |
hatte natürlich mit dem Kameramann den grundsätzlichen Stil vereinbart, | |
dass wir viele Großaufnahmen wollen, dass er möglichst immer dort sein | |
soll, wo ein Kind spricht. Aber ich konnte ja nicht eingreifen, weil man | |
nie weiß, was passiert, wer gerade sprechen wird. | |
taz: Wie haben Sie vermieden, dass der Film didaktisch wird? | |
Beckermann: Indem ich beobachte und zuhöre. Ich habe zum Beispiel keine | |
Interviews gemacht, sondern den Kindern Handykameras gegeben, damit sie | |
einander filmen oder befragen. Der Film funktioniert durch das wohlwollende | |
Zeigen und durch die Lebendigkeit. Natürlich lässt sich die Lehrerin auf | |
viele Diskussionen ein, aber das tut sie nicht von oben herab, sondern | |
respektvoll. Und trotzdem bringt sie ihre eigene Meinung rüber. Auch das | |
ist besonders, andere Lehrerinnen hätten womöglich Angst, gerade mit | |
Kindern aus einer anderen Kultur über Werte oder Einstellungen zu sprechen. | |
Ob Frauen jetzt einen Bikini tragen oder schwimmen gehen dürfen. Und das | |
tut sie. Das finde ich für die Erziehung der nächsten Generationen | |
unglaublich wichtig, dass man mit ihnen diskutiert, ihre Meinungen anhört | |
und auch die eigene Haltung darlegt. | |
taz: Was hat sich trotz der allgemeinen Misere im Schulsystem auch | |
Positives verändert? | |
Beckermann: Ilkay ist schon eine Ausnahme, würde ich sagen. Ich wollte an | |
einem positiven Beispiel zeigen, woran es strukturell mangelt. Ilkay ist | |
eine Lehrerin, die sehr gegenwärtig ist und auch für die Zukunft steht. Wir | |
haben immer mehr Lehrerinnen aus migrantischem Milieu und ich finde, das | |
hat große Vorteile. Nicht nur, weil sie das Milieu der Kinder kennen, | |
sondern auch, weil sie eine besondere Herzlichkeit und eine andere | |
Körperlichkeit haben. Diese Selbstverständlichkeit, ein Kind einmal in den | |
Arm zu nehmen, was ja bei uns schon verpönt ist und gleich geahndet wird. | |
Ich wollte an einem positiven Beispiel zeigen, was alles fehlt. | |
taz: Sie haben die Klasse über drei Schuljahre begleitet. Inwieweit haben | |
Sie Ihren Ansatz im Laufe der Zeit angepasst? | |
Beckermann: Ich bin immer sehr offen. Ein Konzept ist nur Papier. Ein Film | |
ist das, was lebt. Wenn sich ein Konzept nicht verändern würde während der | |
Dreharbeiten, wäre das bei einem Dokumentarfilm ja sehr langweilig und | |
uninteressant. Am Anfang drehten wir sehr viel Unterricht, bis uns der fad | |
wurde und wir die Diskussionen und das Interagieren interessanter fanden, | |
um die Kinder abseits des klassischen Unterrichts kennenzulernen. | |
taz: Sie zeigen Österreich auch als Einwanderungsland und die | |
Herausforderungen, die damit zusammenhängen. Was sind Ihre Erwartungen oder | |
Hoffnungen für den Film? Was könnte er an Debatte auslösen? | |
Beckermann: Wir hatten interne Vorführungen für Politiker. Aber Filme | |
können nicht die Welt verändern. Die Politiker sollten uns dankbar sein, | |
weil wir es ihnen ermöglichen, in zwei Stunden sehr viel Einblick in das | |
Schulsystem zu bekommen. Dabei sollten sie sich lieber mal eine Woche in | |
eine Schulklasse setzen, um das wirklich zu verstehen. Damit sie erkennen, | |
wie träge und reformbedürftig das Schulsystem ist. | |
taz: Was muss sich konkret ändern? | |
Beckermann: Die Kinder müssten viel mehr durchmischt werden, damit sie mit | |
deutschsprachigen Kindern aufwachsen. Die Kinder dürften nicht bereits mit | |
zehn Jahren getrennt werden. Es müsste viel mehr Lehrkräfte geben, es | |
müsste Vorschulen geben. Es gibt keinen Grund, dass Kinder erst mit sechs | |
in die Schule gehen. Diese antiquierte Vorstellung von Kindheit, die | |
ausschließlich verspielt zu sein hat und am besten soll die Mutter zu Hause | |
bleiben und dem Kind den Grießbrei machen oder den Spinat. Diese ganzen | |
Vorstellungen sind natürlich hochpolitisch. | |
taz: Was sind Ihre Hoffnungen für die Generation, die Sie da drei Jahre | |
lang begleitet haben? | |
Beckermann: Dass aus ihnen was Gescheites wird, dass sie wirklich gute | |
Ausbildungen bekommen und sich gut entwickeln. Und ich denke da nicht nur | |
an die Kinder, sondern an die Gesellschaft. Wir brauchen Arbeitskräfte, die | |
schreiben und lesen können, die Englisch können, die digitale Natives sind. | |
Aber das Problem ist, dass die Familien vieler dieser Kinder, auch wenn sie | |
in Österreich geboren sind, kein Wahlrecht haben. Und warum soll ich mich | |
als junger Mensch identifizieren mit dem Staat, in dem ich lebe, wenn ich | |
nicht die gleichen Rechte habe? Das gehört dringend geändert. | |
19 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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