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# taz.de -- Buch über Flüchtlingspolitik: Keimzellen einer radikalen Solidari…
> In Asylsuchenden sehen viele nur eine Belastung. Doch sie fordern uns zur
> Demokratisierung auf, zeigt das Buch des Politologen Johannes Siegmund.
Bild: Der „Exodus 1947“ wurde zum Symbol für den Kampf um das Recht auf un…
Auch wenn sie immer mehr politische Akteure in diesen Tagen zu Tätern
erklären wollen, sind sie de facto Opfer – von Krieg und Rassismus oder
auch den Folgen eines entfesselten Kapitalismus. [1][So hatte auch Hannah
Arendt, unmittelbar geprägt durch die Judenverfolgung im „Dritten Reich“,
die politischen Flüchtlinge gesehen.]
Dass die Denkerin jene, die Schutz und Hilfe in der Ferne suchen, auch zu
„viktimisieren“ neigte, motiviert Johannes Siegmund in seinem Essay
„Tausend Archen“ zu einer Neubetrachtung der Gruppe, eine, [2][die gerade
auch unser Selbstverständnis von Identität und Volk herausfordert.] Denn
der Flüchtling erweist sich bei ihm als eine reflexive Figur. Er „erzeugt
Panik, weil er den Nationalstaat und damit die politische Grundordnung der
modernen Welt infrage stellt“.
Ganz neu erscheint diese Beobachtung nicht, die im Buch anhand vieler
Beispiele belegt wird und – in ungeahnter Zuspitzung – die alltäglichen
Debatten bestimmt. Gleichwohl ruft die Perspektive des Autors auf die
Flüchtlinge als aktivistische Subjekte eine positive Irritation hervor.
Dazu lehnt er sich an den Philosophen Étienne Balibar an.
## Proteste der Sans-Papiers in Frankreich
Dieser bewertete etwa die Bewegung der Sans-Papiers, also der Ankommenden
ohne Ausweisdokumente, als eine Lehrstunde in Sachen Demokratie. Für
Siegmund sind derlei Protestbekundungen der Einwanderer sogar ein
revolutionärer Auftakt, für dessen Gelingen diverse Beispiele aus der
Geschichte sprechen.
Etwa die Odyssee des Schiffs „Exodus 47“, mit dem 5.000 Jüdinnen und Juden
zwei Jahre nach Kriegsende aus den europäischen Lagern nach Palästina
aufbrachen, aber militärisch von der britischen Marine gestoppt wurden. Es
folgte ein längerer Aufenthalt in Frankreich, bis die Passagiere letztlich
zurück nach Deutschland transportiert wurden.
Obwohl sie scheiterten, haben sie durch ihren Widerstand, nicht von Bord
gehen zu wollen, eine Öffentlichkeit erzeugt, die insbesondere die
liberalen Rechtsstaaten massiv unter Druck setzte. Ähnliches sieht Siegmund
in dem Marsch zahlreicher Flüchtlinge aus dem Nahen Osten im Jahr 2015,
mündend in deren allbekannter Aufnahme in Deutschland.
## Systemische Erneuerung bewirken
Indem sie Zeichen setzen, behaupten sie sich als politische Subjekte und
bewirken, so die visionäre Wendung des Essays, bestenfalls eine systemische
Erneuerung. Neben dem schlechten Zeugnis, das sie mit der Flucht ihrem
Herkunftsland ausstellen, könnten sie ihre Ankunftsnation insbesondere zu
einer Ausweitung demokratischer Strukturen beitragen.
Immer wieder wird in „Tausend Archen“ deutlich, dass der zivile Ungehorsam
der zu uns Kommenden – vom Wegätzen der Fingerkuppel bis hin zu Streiks und
Straßendemonstrationen – zu einer Stärkung von Netzwerken, mitunter von
NGOs, Parteien und Ehrenämtler:innen, führt.
Er ist die Keimzelle für eine „radikale Solidarität“, für den Entwurf ei…
Zukunft ohne Grenzen: „So utopisch das klingen mag, Teile dieser Welt sind
bereits zu finden. In den Netzwerken der Flüchtenden werden Wissen und
Ressourcen geteilt, während solidarische Bewegungen an den Grenzen die
Infrastrukturen des Überlebens bereitstellen.“
Angesichts des aktuellen Diskursklimas, in dem selbst linke Kräfte die
Migration als Grund allen Übels auszumachen versuchen, mögen nur wenige das
Gute, ja die Zeichen von Weltoffenheit und Zusammenhalt in den westlichen
Gesellschaften wahrnehmen. Und doch ist es da, allen voran in längst
transnational operierenden Organisationsformen. Exakt darauf den Fokus zu
lenken dürfte sich lohnen, so die Hauptbotschaft dieses engagierten Essays,
das zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erscheinen können.
26 Nov 2024
## LINKS
[1] /Buch-ueber-NS-verfolgte-Intellektuelle/!5994470
[2] /Gefuehlsgeschichte-der-Migration/!6041777
## AUTOREN
Björn Hayer
## TAGS
wochentaz
Migration
Demokratisierung
Offene Gesellschaft
Nationalstaat
Geflüchtete
Social-Auswahl
Migration
Film
Tanz im August
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