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# taz.de -- Festival Tanz im August: Ein Spiel ums Überleben
> In Berlin hat das Festival Tanz im August begonnen. Die Suche nach
> Utopien und die Entwicklung migrantischer Identitäten ist häufiges Thema.
Bild: Keinen Tanz in Ekstase, sondern Bewegungen in großer Verlangsamung gab e…
Wie können wir zu einer Gesellschaft werden, die sich in größtmöglicher
Freiheit selbst reguliert? Die Choreografin [1][Mette Ingvartsen] bekam da
so eine Idee, als sie mit ihren Kindern Skatern in Brüssel zuschaute. Es
war nicht nur die Geschwindigkeit und die Präzision, die sie faszinierten,
sondern auch die hartnäckige Disziplin, mit der geübt wurde, wieder und
wieder, Hürden und Schwierigkeiten zu meistern. Und nicht zuletzt die
Offenheit, mit der erfahrene Skater und Neulinge zusammenkamen und ihr
Miteinander organisierten. Die Idee für eine Choreografie mit
Skater:innen und Tänzern entstand.
Mette Invartsens Stück „Skatepark“, in Berlin im Haus der Berliner
Festspiele aufgeführt, bildete einen Höhepunkt auf dem [2][Festival Tanz im
August,] das letzten Donnerstag begann. Es ist cool, lässig, ungeheuer
schnell, mit Rampen geschickt platziert auf einer gar nicht so großen
Bühne.
Manchmal entwickelt es einen Sog wie ein Karussell, dass die
Zuschauer:innen fast der Schwindel ergreift, wenn die Skater:innen
und Rollschuhfahrerinnen miteinander und umeinander kreisen. Nie sah man
zuvor, wie viel Spannung in den Pausen liegen kann, die am höchsten Punkt
der Rampen vor der Wende gemacht werden.
Man sieht einer hohen Schule der Achtsamkeit im Aufteilen der Flächen und
im Kurven umeinander zu. Man sieht den Spaß an der Herausforderung, sich in
Sprüngen und Drehungen zu messen. Zwischen 11 und 35 Jahren sind die
Protagonist:innen alt.
Jugendlicher Trotz
In die Bilder, die Mette Ingvartsen baut, fließt auch der Trotz einer
jugendlichen Subkultur ein, in der Unabhängigkeit und Autonomie angestrebt
werden. Die letzten Bilder ihrer Performance verweisen auf eine
anarchistische Vergangenheit der Skaterszene, als es noch um die Eroberung
von Straßenraum und von privatisiertem Raum ging.
Und wie in allen Stücken aus den ersten Tagen des Festivals, wurde auch
hier die Musik live auf der Bühne gemacht. Zwei Rollschuhfahrerinnen und
ein Tänzer singen, ein Gitarrist ist dabei, aber auch mit den Brettern
selbst wird gehämmert, wie aus purer Lust am Krach.
Mette Ingvartsen war schon oft mit ihren Stücken in Berlin. Zum ersten Mal
zum Festival Tanz im August ist die junge Choreografin Soa Ratsifandrihana,
ebenfalls aus Brüssel, gekommen, deren Stück „Fampitaha, fampita,
fampitàna“ von dem Gitarristen Joël Rabesolo begleitet wird.
Beide und die zwei weiteren Performer:innen eint eine Geschichte der
Migration in erster, zweiter und dritter Generation aus Madagaskar, Haiti
und weiteren früheren Kolonien Frankreichs und Belgiens. Am Anfang zitieren
ihre Rokoko-Kostüme die Kolonialzeit und ihr Tanz lehnt sich an höfische
Menuette an. Bald aber folgen Funk, Soul und Disco in der Musik.
Symbolische Bilder
Szenen der sprachlichen Übungen wechseln mit langen Tanzsequenzen ab, in
denen sie eine immer größere Leichtigkeit entfalten. Es gibt auch
symbolische Bilder, das Denkmal eines Generals und Gouverneurs von
Madagaskar (Joseph Gallieni) wird gestürzt. So hat das Stück einige
Verweise auf den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit, lebt vor allem
aber vom freien Umgang mit schwarzen Musikstilen und minimalistischen
Tanzmaterial.
Soa Ratsifandrihanas Stück war eine Deutschlandpremiere ebenso wie Tamara
Cubas’ „Sea of Silence“. Auch ihr Stück, aufgeführt im Radialsystem, kr…
um Migration, von Frauen vor allem, und um die Frage, wie sie die
Verbindung zur Kultur ihrer Herkunft, zu Sprache und Kleidung, zu
Geschichte und Mythen aufrechterhalten.
Die sieben Performerinnen, die Tamara Cubas (aus Uruguay) dafür gewonnen
hat, sind aus Nigeria, Ägypten, Indonesien, Brasilien, Chile, Mexiko und
Uruguay aufgebrochen. Sie alle sind starke Künstlerinnen, mit schönen und
rauen Stimmen, die erzählend, singend und tanzend Teile ihrer eigenen
Geschichten und Erfahrungen einbringen. Aber auch über die Vertreibung von
Hexen und Ausgrenzung allgemein reflektieren.
Gebet, Bitte, Anklage, Manifest
„Sea of Silence“ ist ein Stück mit ungeheuer viel Text, der in deutsche und
englische Untertitel übersetzt hinter den Tänzerinnen vorbeirauscht. Es
gibt den Gestus des Gebets, der Anrufung von Göttin und mythischer Heldin,
der Bitte um Schutz, aber auch die wütende Anklage, die Forderungen eines
Manifests.
In einigen Momenten wünscht man sich, das Bündel des Leids, das diese
Frauen durch dieses Stück tragen müssen, wäre nicht ganz so breit
geschnürt, denn so wird ihre feministische Argumentationskette teils sehr
pauschal. Aber dieser Mangel fällt dann doch wenig ins Gewicht gegenüber
der Stärke der choreografischen Bilder.
Denn vor allem die Körper erzählen von den Prozessen der Transformation,
von der Trauer zum Aufbruch, von der Wut zur Ermutigung, von der
Ausgrenzung und Vereinzelung zur Gruppenbildung. Es sind die Bewegungen,
die sie zusammenbringen, mit der sie sich als Gruppe hinter jede Einzelne
stellen und sie als Chor begleiten.
In den erzählerischen Splittern, die Tamara Cubas ausgewählt hat, stellt
sie vor allem den Ungehorsam der Frauen aus, die ohne das Brechen von
Regeln, die sie unter der Knute ausbeutender Verhältnisse hielten, nie aus
diesen herausgekommen wären.
Bevorstehende Kürzungen
[3][Ricardo Carmona ist zum zweiten Mal der Kurator] des Festivals, das zum
36. Mal stattfindet. In seiner Rede zur Eröffnung im Hebbeltheater stellte
er die Migration – „Germany is a fabric of migration“ – als treibende K…
für kreative Prozesse und Humanismus heraus. Sein Programm suche nach
optimistischen Perspektiven für die Zukunft.
Annemie Vanackere, Intendantin des Hebbeltheaters, musste in ihrer Rede
allerdings auch darauf verweisen, dass ihrem Haus und damit dem Träger des
Festivals vons[4][eiten der Kulturpolitik des Bundes] und vonseiten des
Berliner Senats Kürzungen der Förderung bevorstehen. Viele in langen Jahren
mühsam aufgebaute Strukturen in der freien Szene, zu der der Tanz
mehrheitlich gehört, bangen um ihren Fortbestand.
Für fast alle auf dem Festival gezeigten Stücke müssen viele Partner als
Produzenten zusammenkommen. An solchen Prozessen arbeitet seit vielen
Jahren das Bündnis internationaler Produktionshäuser, dem jetzt im
Haushaltsentwurf für 2025 die Förderung gestrichen wurde. Dabei sorgt das
Bündnis für Beweglichkeit und Nachhaltigkeit und eine bessere Nutzung von
Ressourcen. Hier zu sparen, ist der falsche Ansatz.
Monumentale Hallen
[5][Der Choreograf Jefta van Dinther] lebt in Stockholm und Schweden. Wer
als Schwede etwas Außergewöhnliches machen wolle, gehe dafür ins Ausland,
so erklärte er augenzwinkernd den Titel seines Stücks „Ausland“. Er
bespielt damit das Kraftwerk Berlin, neben Techno-Clubs gelegen. In den
monumentalen Hallen ist es dunkel zwischen den Betonpfeilern, teils liegen
Matratzen auf dem Boden, bewegliche Boxentürme werden hin und her
geschoben.
Sein Stück reflektiert verschiedene Fluchten aus der realen Welt und
Übergänge in eine virtuelle. Auf eine hedonistische Clubszene, sexuellen
Kontakten nicht abgeneigt, spielen die vielen ineinander verknäulten Körper
auf den Matratzen an; aber dann ist der Umgang miteinander doch viel mehr
ein sorgender, mütterlicher, umfangender.
Statt dem Tanz in die Ekstase gibt es Bewegungen in großer Verlangsamung,
der Fluss der Zeit selbst scheint sich zu dehnen, wenn eine Gruppe von
Tänzern sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts schraubt. Der elektronische
Sound ist melancholisch, die Singstimmen dazu klingen beinahe nach
Madrigalen.
Funktionsweise des Menschen
Eine Tänzerin performt einen Cyborg, eine sehr menschenähnliche Figur, die
an den anderen aber erst die Funktionsweise des Menschen erkundet. Ihre
Neugierde, wenn sie einen Mann auszieht, ist zuerst befremdlich, dann auch
komisch.
Auf einer anderen Etage läuft ein Video aus einem Computerspiel. Unentwegt
rennt eine kleine Figur durch eine gigantische Landschaft von
Industrieruinen. Sie muss in dieser postapokalyptischen Umgebung Schluchten
überwinden, Feuern ausweichen, darf nicht in Pressen geraten, oder in
rotierende Sägeblätter. Hier sind die Maschinen der Feind. Irgendwann
mischt sich Jefta van Dinther in diese Bilder ein, lässt die Figur über
seinen Körper laufen, passt sich den Bewegungen der Maschinen an. Es ist
ein Spiel ums Überleben. Aber jedem Absturz folgt ein Neuanfang.
Diese Performance, bei der man im eigenen Tempo zwischen den verschiedenen
Stationen herumwandern konnte, war durchaus eine Entführung in andere
Welten, bedrohlich, spielerisch, ambivalent.
19 Aug 2024
## LINKS
[1] /Ingvartsen-an-der-Berliner-Volksbuehne/!5467814
[2] https://www.tanzimaugust.de/
[3] /Festival-Tanz-im-August-in-Berlin/!5949774
[4] /Budgetkuerzungen-in-der-Kultur/!6026421
[5] /Archiv-Suche/!5436055&s=Jefta+Dinther&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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