# taz.de -- Festival „Tanz im August“ in Berlin: Der Körper, der lacht | |
> Turbulent und mystisch beginnt das dreiwöchige Festival „Tanz im August“. | |
> Der künstlerische Leiter Ricardo Carmona zeigt die Vielfalt der | |
> Tanzsprachen. | |
Bild: Athletisch, ehrgeizig: „Carcaça“ von Marco da Silva Ferreira währen… | |
Kann man mit dem Hintern lachen? Ganz gewiss. Zumindest scheint es so, wenn | |
man auf die zuckenden, hüpfenden und vibrierenden Hinterteile schaut, die | |
von den Performer*innen des Stücks „Prophétique. (on est déjà né.es)“ | |
dem Publikum präsentiert werden. Wie in einem Wettkampf um den schönsten, | |
lebendigsten und attraktivsten Arsch. Coupé-Décalé heißt dieser Po-betonte | |
afrikanische Tanzstil, der hier mehr Sex und Glück verspricht, als ein | |
Orgasmus je erreichen kann. | |
Mit ansteckender Lust und Euphorie beginnt das Tanzstück, das die | |
Choreografin Nadia Beugré mit sieben Künstler*innen aus der | |
Transgender-Community [1][in Abidjan] erarbeitet hat und das beim Festival | |
Tanz im August im Theater am Halleschen Ufer gespielt wurde. Dem | |
turbulenten Auftakt folgt eine Passage, in der die eben noch Schönen eine | |
Haltung der Bedrohung und Agression einnehmen, bellend und auf allen Vieren | |
hüpfend wie eine aufsässige Affenbande. | |
Eingeübte Härte, Frechheit und Wehrhaftigkeit – das gehört möglicherweise | |
zu den Bildern, die sie beherrschen müssen, um in einem Land, [2][das | |
Homosexualität unter Strafe stellt und Transgender diskriminiert], im | |
Alltag nicht unterzugehen. Die Nachahmung, die Imitation, das ständige | |
Performen unterschiedlicher Rollen, bei Tag und bei Nacht, sie ist in dem | |
Stück von Nadia Beugré ein ständiges Spiel. Es kostet Kraft. Es ist | |
lebensnotwendig. Und es wird von den Darstellenden, die nebenbei auch | |
singen und lautmalerisch Sounds produzieren, mit so viel Parodie und Ironie | |
gefüllt, mit so viel Witz, dass man den bitteren Ernst darin fast vergessen | |
könnte. | |
Das Festival Tanz im August, das bis zum 26. August läuft, begann am | |
Mittwoch und zeigte in den ersten Tagen viel Sexyness, viele | |
Verbindungslinien in afrikanische Länder, viele Tanzsprachen. Es ist die | |
erste Ausgabe, die Ricardo Carmona, langjähriger Kurator für Tanz im HAU, | |
als künstlerischer Leiter verantwortet. Die Vielfalt der Tanzsprachen | |
aufzufächern, historisch, soziologisch, kulturgeschichtlich, ist eines | |
seiner dezidierten Ziele. Und das hatte sich auch das Eröffnungsstück, | |
„Carcaça“ vorgenommen von dem Choreographen Marco da Silva Ferreira, der | |
wie Carmona aus Portugal kommt. Ein Land, das durch seine Vergangenheit als | |
Kolonialmacht, sehr viele Verbindungslinien nach Afrika hat. | |
## Athletisches Spektakel, Tänzer mit Armprothese | |
Auch in „Carcaça“ wird einmal gesungen, rau, polyphon und bewegend, ein | |
altes Arbeiterlied, das in die sonst so dynamisch bewegte Landschaft des | |
Stücks hereinragt wie ein altes, vergessenes Denkmal. Auch in „Carcaça“ | |
verheißen die Körper heiße Sexyness, anfangs in engen, vielfach | |
durchbrochenen Bodysuits. Ihre Performance ist ein athletisches Spektakel, | |
Energie wird verschleudert, Training ist alles, Hochleistung ein Ehrgeiz, | |
den auch ein Tänzer mit Armprothese teilt. Vor allem die Füße, hüpfend, | |
stampfend, federnd legen hier in etwas über einer Stunde eine gewaltige | |
Strecke zurück. | |
„Carcaça“ ist mitreissend. Dass die Choreografie aber auf der Erforschung | |
und Amalgamierung verschiedener Folkloren beruht, ist nicht unbedingt | |
nachvollziehbar. Zwar erinnern viele Passagen mit überkreuzten Füßen an | |
irische Tanzshows, zwar legt sich das Ensemble gelegentlich die Hände auf | |
die Schultern in einer langen Reihe, zwar erinnern die Positionswechsel in | |
einer Formation an Volkstänze: Aber all das bleibt vages Zitat, ohne dass | |
man diese Bilder einer Geschichte und Kultur zuordnen könnte. So bleibt | |
eine schöne und temperamentvolle Show übrig, eine Ensemble-Leistung, die | |
über die Rituale, sich als Kollektiv zusammenzufinden nicht mehr und nicht | |
weniger erzählt, als viele andere Tanzstücke auch. | |
Es ist bei diesem Festival wie oft im Tanz: Die Buzzwords des Diskurs, – | |
Klima, Postkolonialismus, Genderfluidität – die an den Produktionen hängen, | |
um ihre politische und soziale Relevanz zu behaupten, werden ihnen nicht | |
immer gerecht. Vieles bleibt dabei Behauptung, die sich ästhetisch nicht | |
unbedingt vermittelt. Was aber nicht heißt, dass die Stücke nicht viel zu | |
erzählen haben, aber eher nicht in politischer Eindeutigkeit. | |
## In fremden Zungen sprechen | |
Von einer Ästhetik, die zum Berliner Festival-Publikum in eher fremden | |
Zungen spricht und es doch durch die starke Präsenz der Performerin | |
fesselt, war das Solo „Toi, moi, Tituba“ von Dorothée Munyaneza geprägt. | |
Als Jugendliche aus Ruanda nach Europa gekommen, und schon mehrfach zum | |
Tanz im August eingeladen, widmete sich die Musikerin, Sängerin, Tänzerin | |
und Choreografin schon in vorhergehenden Stücken afrikanischer Geschichte | |
aus feministischer Perspektive, teils mit dokumentarischen Mitteln. „Toi, | |
moi, Tituba“ gleicht dagegen mehr einer Séance, dem Versuch Frauenfiguren | |
der Vergangenheit, denen die eigene Stimme und Geschichte genommen wurde, | |
als Sklavin oder als verfolgte Hexe, wieder einen Körper, eine eigene | |
Erzählung zu geben. | |
Das hat etwas von einer [3][Geisterbeschwörung und einem Gespräch mit den | |
Ahnen], was für Tänzer und Choreografen aus afrikanischen Kulturen oft eine | |
Rolle spielt. Munyaneza trat in der Villa Elisabeth auf, einem intimen | |
Bühnenraum. Leuchtstoffröhren, die anfangs aufrecht stehen, später umgelegt | |
werden, bilden das sparsame Bühnenbild. Der Musiker Khyam Allami begleitet | |
sie live, oft mit harten, metallischen Klängen. | |
Sie durchläuft Metamorphosen, entschiedene Gesten lösen suchende Bewegungen | |
ab, ihre Stimme singt und ruft, malt uns Zonen der Dunkelheit aus, durch | |
die ihre Reise geht. So entsteht ein mythischer Raum. In dem findet | |
vielleicht nicht jeder Zuschauer das, was Dorothée Munyaneza hingelegt hat, | |
aber doch auf die Spur gebracht wurde, das Verschüttete zu suchen. | |
14 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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