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# taz.de -- Kinotipp der Woche: Wissen und Verbrechen
> Eine kleine Filmreihe im Kino Krokodil befasst sich mit dem Verhältnis
> von Gesellschaften zu der Tat und den Täterinnen*.
Bild: „Anmaßung“ von Chris Wright und Stefan Kolbe läuft am 15. 8. um 18 …
Routiniert zerteilen die Männer das Fleisch. Zunächst mit der Säge, dann
auf einem großen Tisch mit Messern. Im ganzen Raum wird zerhackt, zersägt,
zerschnitten. Gegen die Brutalität der Handlungen liegt unter der
Eröffnungsszene von Aki Kaurismäkis „Crime and Punishment“ auf der Tonspur
eine rockige Version des Schubert-Liedes „Leise flehen meine Lieder“. Bei
Kaurismäki fleht nix, hier ist das Grauen wortkarg.
Die Fabriksirene tönt, direkt vom Schlachthof macht sich der ehemalige
Jurastudent Rahikanen auf, lauert vor der Wohnung eines Industriellen und
erschießt ihn. Aki Kaurismäkis Regiedebüt verdichtet Dostojewskis
Romanvorlage, durchwebt sie mit trockenem Humor und Referenzen an
Filmvorbilder.
Das Wiedersehen mit Kaurismäkis Regiedebüt erinnert daran, was für ein
Lichtstrahl dessen Filme inmitten der weit verbreiteten
schwülstig-schleimigen Belanglosigkeit des europäischen Arthousekinos der
1980er Jahre war.
Das Berliner Kino Krokodil zeigt Kaurismäkis Film nun als einzigen
Spielfilm neben vier Dokumentarfilmen [1][in einer Filmreihe] mit dem Titel
„Schuld und Sühne“ – wieder Dostojewski, aber diesmal deutscher Titel.
Debora Fiora und Gabriel Hageni vom Krokodil vollbringen das Kunststück,
dass jeder einzelne Film der Reihe atemberaubend ist und sich die Filme
zudem in kluger Weise ergänzen.
Eröffnet wird die Reihe von Chris Wrights und Stefan Kolbes „Anmaßung“, d…
im [2][Forum der diesjährigen Berlinale lief]. Im Zentrum des Films steht
die Begegnung mit dem Mörder Stefan S. Die Notizen der ersten Begegnung
dokumentieren den nicht unsympathischen Eindruck, den die beiden
Filmemacher von S. bekommen haben.
Doch wie setzt man sich im Wissen um das Verbrechen, das ein Mensch
begangen hat, zu diesem ins Verhältnis? Da S. nicht selbst im Film
erkennbar sein möchte, wird eine Handpuppe zum Platzhalter. In den
Gesprächen mit S., aber auch den beiden Puppenspielerinnen, die die
Handpuppe beleben, entwickelt sich in „Anmaßung“ eine komplexe Annäherung
an den Umgang mit Mördern im Justizsystem und in der Gesellschaft.
Der Umgang der Justiz mit dem Mörder der Gewerkschaftsführerin Busilina in
Herz Franks sowjetisch-lettischem Dokumentarfilm „Augstākā tiesa“ (The La…
Judgement) von 1984 ist schnell vorüber. Der Mörder, Walerij Dolgow, ist
schnell gefasst und wird zum Tode verurteilt. Für die Justiz ist der Fall
abgeschlossen.
In einer Reihe von Gesprächen mit Dolgow versucht der lettische
Dokumentarfilmer Herz Frank zu verstehen, wie es zu der Tat kam. Die
Antworten des Mörders geben wiederum ein komplexes Bild der sowjetischen
Gesellschaft, das nur schwer mit dem offiziellen Selbstbild überein zu
bekommen ist.
In den Bildern des Prozesses, dem Scheren der Haare in Vorbereitung auf die
Hinrichtung lässt Frank die Unzulänglichkeit der Todesstrafe als
gesellschaftliche Reaktion auf ein Verbrechen sichtbar werden. „Augstākā
tiesa“ lässt keinen Zweifel daran, dass das System von Strafen, das
Gesellschaften sich selbst geben, viel über diese Gesellschaften aussagt.
Nach dem Mord an seinem älteren Bruder versucht der Regisseur Audrius
Mickevičius zu verstehen, was es mit dem Konzept der „guten Führung“ auf
sich hat. Mickevičius nähert sich dem Leben im Gefängnis in „Pavyzdingas
Elgesys“ (Exemplary Behaviour) über zwei zur lebenslangen Haft Verurteilte
an, Rolandas und Rimas.
Rolandas steht kurz vor der Entlassung, plant zu heiraten. Die Braut sitzt
ebenfalls wegen Mordes im Gefängnis. Die zentrale Frage von „Pavyzdingas
Elgesys“ ist die Zeitlichkeit der Tat – für die Inhaftierten ebenso wie f�…
Hinterbliebene wie Audrius Mickevičius. Die Mörder müssen die Tat in ihrem
Leben verorten, sich mit ihr auseinandersetzen und herausfinden, inwiefern
das Verbrechen ihr weiteres Leben prägt. Für Mickevičius stellt sich am
Thema der „guten Führung“ und der vorzeitigen Entlassung die Frage, ob und
wann er bereit ist, zu vergeben.
Der fünfte Film der Reihe, Elias Kahlas kurzer Dokumentarfilm „Varjoja
Radalla“ (Schatten auf den Schienen), öffnet das Themenfeld der Reihe. Ein
Ausflug von Eisenbahnern in die Natur Finnlands. Durch Gesprächsausschnitte
auf der Tonspur wird klar, dass jeder in der Gruppe schon einmal
unfreiwillig mit dem Zug einen Menschen überrollt hat.
Die fünf Filme der Reihe „Schuld und Sühne“ blicken von unterschiedlichen
Perspektiven auf den Akt gewaltsamen Tötens und laden ein darüber
nachzudenken, wie sich Gesellschaften zu der Tat und den Täterinnen* ins
Verhältnis setzen. Fünf sehenswerte Filme.
12 Aug 2021
## LINKS
[1] https://kino-krokodil.de/
[2] https://www.berlinale.de/de/programm/programm/berlinale-programm.html?searc…
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
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Kunst
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