# taz.de -- Kinotipp der Woche: Ambivalentes Werk | |
> Die Brotfabrik gedenkt des Hamburger Schriftstellers Wolfgang Borchert | |
> mit einer Lesung und zwei Filmprogrammen. | |
Bild: Szene aus dem Film „Küchenuhr“ von 1987 | |
Immer wieder halb drei. Wieder und wieder fällt nachts um halb drei der | |
Blick der Figuren [1][Wolfgang Borcherts] auf die Uhr. Schlaflose Grübelei, | |
Hunger oder die kleinen Geheimnisse des Zusammenlebens treiben sie aus dem | |
Bett in die Küche. | |
Borcherts Figuren sind auch die des [2][Filmemachers Michael Blume], der | |
sich seit den 1980er Jahren immer wieder in filmischen Miniaturen der | |
literarischen Welt Borcherts zugewandt hat. Wolfgang Borchert starb 1947 an | |
den Folgen einer chronischen Erkrankung, am 20. Mai wäre er 100 Jahre alt | |
geworden. | |
[3][Die Brotfabrik gedenkt Borchert] Mitte September mit einer Lesung und | |
zwei Filmprogrammen. Das eine der Filmprogramme zeigt Wolfgang Liebeneiners | |
Verfilmung seines bis heute bekanntesten Werks, dem Theaterstück „Draußen | |
vor der Tür“, das andere versammelt eine Auswahl von Michael Blumes | |
Kurzfilmen. | |
## Nahaufnahmen und Textfragmente | |
Ein Mann steht auf einem nächtlichen Bahnsteig. „Die kalten, nackten | |
Bogenlampen waren gnadenlos und machten alles nackt und kläglich.“ Eine | |
Frau spricht ihn auf die Zigaretten an, die sie an ihm entdeckt hat. Im | |
Wortwechsel der beiden bröselt die Abwehrhaltung des Mannes, er geht mit | |
ihr mit, beider Suche nach Nähe scheint erfolgreich. | |
Doch die Nähe erweist sich als fragil. Michael Blume inszeniert Borcherts | |
Kurzgeschichte „Bleib doch, Giraffe“ atmosphärisch dicht und doch mit | |
großer Leichtigkeit als wortlosen Dialog in Nahaufnahmen der Gesichter der | |
beiden Protagonist_innen. Zwischen die Nahaufnahmen sind Textfragmente aus | |
Borcherts Kurzgeschichte als Zwischentitel gesetzt. | |
Blumes Film entstand 1984 als unabhängige Produktion in der DDR. Am 26. | |
November 1984 informiert die Kulturabteilung des Rats des Bezirks Magdeburg | |
Blume, dass gegen ihn eine „Ordnungsstrafmaßnahme“ verhängt wird. Für die | |
Realisierung von Filmen ohne Lizenz soll er 300 Mark zahlen. | |
„Das Brot“ beginnt mit Szenen öffentlicher Brotausgaben in der frühen | |
Nachkriegszeit. Dann wischt eine Frau Krümel vom Küchentisch und stellt | |
sorgfältig Tassen und eine Kanne auf ein Brett. Später, nachts, wacht die | |
Frau von Geräuschen geweckt auf und findet ihren Mann in der Küche, wie er | |
heimlich Brot isst. | |
## Die Nichtigkeit der Dialoge | |
Die Begegnung in der Küche entfaltet sich im Wechsel zwischen inneren | |
Monologen über den jeweils anderen und die Nichtigkeit der Dialoge, die | |
laut gewechselt werden. An der Küchenwand hängt ein Porträt Wolfgang | |
Borcherts im schwarzen Rahmen. | |
Auch „Die Küchenuhr“ entstand Mitte der 1980er Jahre noch in der DDR, wurde | |
jedoch Ende der 1990er Jahre von Michael Blume umgearbeitet und durch eine | |
Rahmenhandlung aus Aufnahmen aus New York und vom Beginn der Bombardierung | |
des Iraks durch die USA und Großbritannien 1998 ergänzt. | |
Soweit der Film Borcherts Kurzgeschichte verfilmt, handelt er von einem | |
Mann, der mitten unter Menschen verloren mit einer kaputten Küchenuhr in | |
der Hand auf einer Bank sitzt und den Menschen neben ihm die Geschichte | |
dieser Uhr erzählt, die alles ist, was ihm nach einem Bombentreffer | |
geblieben ist. | |
Michael Blumes Borchert-Filme lassen in der Adaption deutlich werden, wie | |
simpel die Situationen von Borcherts Kurzgeschichten sind und manchmal | |
auch, wie filmisch die Szenen schon in der Kurzgeschichte aneinander gefügt | |
sind. Der Güterzug etwa, der die Begegnung auf dem Bahnsteig und die Szene | |
im Bett in „Bleib doch, Giraffe“ trennt, findet sich so bereits bei | |
Borchert. | |
Wolfgang Liebeneiners Verfilmung des Erfolgsdramas „Draußen vor der Tür“, | |
dessen Uraufführung er an den Hamburger Kammerspielen inszenierte, ist in | |
der Inszenierung deutlich stärker am Theater orientiert. | |
Jan Philipp Reemtsma entdeckte schon an Borcherts Drama über einen | |
verlorenen Kriegsheimkehrer problematische Züge, die wiederum auch ein Teil | |
der zeitgenössischen Kritik schon festgestellt hatte: „Draußen vor der Tür | |
lieferte die Formeln und Bilder, mit deren Hilfe sich ein deutsches | |
Publikum von seiner Vergangenheit lossagen konnte, ohne die Frage nach | |
Verantwortung und Schuld zu stellen, geschweige denn beantworten zu | |
müssen.“ | |
## Gemeinsames Selbstmitleid | |
Liebeneiner ergänzt das Stück in seinem Film „Liebe 47“ um die Geschichte | |
einer Frau und macht so aus der Verzweiflung von Borcherts Stück die | |
Versöhnung von Kriegs- und Heimatfront im gemeinsamen Selbstmitleid. Der | |
Film spiegelt so das Versagen der deutschen Mehrheitsbevölkerung in den | |
ersten Jahrzehnten nach dem Krieg etwas anderes zu thematisieren als das | |
eigene Leiden. | |
Die beiden Filmprogramme mit Filmen nach Wolfgang Borchert machen die | |
Ambivalenz seines Werks in der deutschen Nachkriegsliteratur deutlich und | |
zeigen zugleich die Bandbreite der Annäherungen an sein Werk. Die | |
existenziellen Themen, die in seinen Texten anklingen, berühren auch heute | |
noch. | |
12 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Wolfgang-Borchert-Gedenken-in-Hamburg/!5763022 | |
[2] /!1731419/ | |
[3] /Shackletons-Musikprojekt-Powerplant/!5224885 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
## TAGS | |
Filmgeschichte | |
Nachkriegsliteratur | |
taz Plan | |
Literatur | |
Regisseur | |
Schriftsteller | |
Werkschau | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
Zeughauskino | |
taz Plan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinotipp der Woche: Kleine Auswahl, echte Perlen | |
Das Festival Litauisches Kino Goes Berlin präsentiert Kurz- und Langfilme | |
aus Litauen, Estland und Lettland sowie Klassiker der Filmgeschichte. | |
Kinotipp der Woche: Die Levi-Sphäre | |
Sie ist eine Filmemacherin mit unerschütterlicher politischer Haltung. Nun | |
widmet das Arsenal3 Angelika Levi eine Werkschau mit Schwerpunkt Frühwerk. | |
Favourites Film Festival in Berlin: Lieblinge des Publikums | |
Das Favourites Film Festival in Berlin zeigt nur Werke, die mit | |
Zuschauerpreisen bedacht wurden. Und die Menge ist in dem Fall sehr | |
geschmackssicher. | |
Festival zu globaler Filmgeschichte: Eigene Erzählweisen | |
Archival Assembly nähert sich der Überlieferung der weltweiten | |
Filmgeschichte an. Von Brendan Shehu über das Yugantar Kollektiv bis Serap | |
Berrakkarasu. | |
Filmreihe im Zeughauskino: Berlin verändert sich | |
Sehen, wie mit dem frischen Groß-Berlin ein Modernisierungsschub durch die | |
Stadt ging: Die Reihe „Chaos und Aufbruch. Berlin 1920|2020“. | |
Kinotipp der Woche: Wissen und Verbrechen | |
Eine kleine Filmreihe im Kino Krokodil befasst sich mit dem Verhältnis von | |
Gesellschaften zu der Tat und den Täterinnen*. |