| # taz.de -- Kinotipp der Woche: Kleine Auswahl, echte Perlen | |
| > Das Festival Litauisches Kino Goes Berlin präsentiert Kurz- und Langfilme | |
| > aus Litauen, Estland und Lettland sowie Klassiker der Filmgeschichte. | |
| Bild: Preisträger des Festivals: Jurgis Matulevičius’ „Izaokas“ („Isa… | |
| Verloren geht die junge Agne über den Flur der Kaserne, ihr Bettzeug vor | |
| sich in den Armen haltend. Tür für Tür sucht sie nach dem Zimmer, in dem | |
| sie einquartiert wurde. Als sie es findet, stellt sie fest, dass sie nicht | |
| allein ist. In der Mauerecke über dem Fenster wohnt schon eine Schwalbe und | |
| beäugt die neue Nachbarin skeptisch interessiert. | |
| Die junge litauische Regisseurin Marija Stonyté [1][porträtiert in ihrem | |
| Langfilmdebüt] „Gentle Warriors“ drei junge Frauen, die sich freiwillig zur | |
| Armee melden. Wie die männlichen Wehrpflichtigen durchlaufen die drei neun | |
| Monate Grundausbildung und robben durch den Schlamm der litauischen Wälder. | |
| Auch wenn Stonytés Film ihren Protagonistinnen nie wirklich nah kommt, ist | |
| der Film an überraschendem Thema ein interessantes Gruppenporträt junger | |
| Frauen in Litauen geglückt. „Gentle Warriors“ ist Teil der kleinen Auswahl | |
| von „Festivalperlen“ des 11. Litauischen Filmfestivals in Berlin. | |
| Zu den vier Festivalerfolgen, die präsentiert werden, gehört auch | |
| [2][Jurgis Matulevičius’ „Izaokas“] („Isaac“), der sich in pathetisc… | |
| Schwarzweiß, aber beeindruckend komplex dem Minenfeld der litauischen | |
| Geschichte zwischen 1941 und den 1960er Jahren annimmt. | |
| Der Film beginnt mit einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung im Sommer | |
| 1941. Andrius Gluosnis glaubt in dem Juden Isaac jemanden wiederzuerkennen, | |
| der ihn für die sowjetischen Besatzer wenige Monate zuvor verhört hat. Als | |
| die litauischen Helfer der Deutschen ihm die Gelegenheit geben, ermordet er | |
| Isaac. | |
| ## Verdrängte Geschichte | |
| Gut 20 Jahre später versucht Gluosnis die Ereignisse zu verdrängen als | |
| Gediminas Gutauskas, ein Freund aus Jugendtagen aus dem Ausland nach | |
| Litauen zurückkehrt. Gutauskas ist in den USA zu einem gefeierten | |
| Schriftsteller und Filmregisseur geworden, sein neuer Film soll sich | |
| ausgerechnet dem Massaker von 1941 widmen. | |
| Während Elena (die Rolle muss ohne Nachnamen auskommen), die dritte im | |
| Bunde der Freund_innen sich über das Wiedersehen freut, verfolgt Gluosnis | |
| das Vorhaben mit ähnlicher Skepsis wie der sowjetische KGB, der Gutauskas | |
| auf Schritt und Tritt folgt. | |
| Matulevičius adaptiert gemeinsam mit seinen Koautor_innen Saule Bliuvaitė | |
| und Nerijus Milerius die gleichnamige, letzte Erzählung des litauischen | |
| Schriftstellers Antanas Škėma, geschrieben im Exil in den USA. Škėmas | |
| Erzählung gilt als erste Annäherung an litauische Kollaboration mit den | |
| Deutschen bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung Litauens. | |
| ## Wechsel der Perspektive | |
| In der Adaption wird der Protagonist in die drei Freund_innen aufgespalten, | |
| dadurch verändert sich auch die Perspektive auf die historischen | |
| Ereignisse: statt diese aus einer Binnenperspektive des Protagonisten zu | |
| erzählen, wird diese an den drei Freunden durchgespielt. | |
| [3][Lina Lužytė rückt in „Pilis“/“The Castle“], dem dritten Film der | |
| Auswahl, das Leben der jungen Monika ins Zentrum. Monika lebt mit ihrer | |
| Mutter und ihrer Großmutter in ärmlichen Verhältnissen in Dublin. Das Leben | |
| kreist um das litauische Gemeindezentrum, mit ihren Freundinnen in der | |
| Schule spricht sie Litauisch. Gemeinsam mit ihrer Mutter, einer ehemaligen | |
| Pianistin, tritt Monika bei Feierlichkeiten der Gemeinde auf. | |
| Als sie mit ihrer Mutter bei einer Trauerfeier auftritt, wird sie zu einem | |
| Konzert auf einem Schloss eingeladen. Monika wittert ihre Chance, den | |
| Verhältnissen zu entkommen, die zugleich immer bedrängender werden. Ihre | |
| Großmutter zieht sich zusehends in ihre eigene Welt zurück und ihre Mutter | |
| muss zugleich immer mehr in einer Fischfabrik arbeiten, um die Familie | |
| durchzubringen. | |
| ## Mikrokosmen der irischen Gesellschaft | |
| Lužytė bevölkert ihren im Grunde recht einfachen Coming-of-Age-Film mit | |
| einer Vielzahl interessanter und klug skizzierter Figuren, die dem Film | |
| über sich selbst hinauswachsen lassen zu einem Mikrokosmos der Ränder der | |
| irischen Gesellschaft. | |
| Der vierte Film der Auswahl, [4][Giedrė Žickytės Dokumentarfilm „The Jump�… | |
| zugleich der litauische Beitrag für den Auslands-Oscar, ist gegenüber den | |
| anderen drei Filmen der deutlich schwächste. „The Jump“ erzählt die | |
| Geschichte einer gescheiterten Flucht des litauischen Seemanns Simas | |
| Kudirka von einem sowjetischen auf ein US-amerikanisches Schiff inmitten | |
| des Kalten Kriegs. | |
| Leider wird an keiner Stelle des Films klar, warum man von heute aus außer | |
| aus reiner Freundlichkeit und allgemeiner Langeweile anderthalb Stunden | |
| Lebenszeit für die Geschichte Kudirkas aufbringen sollte. | |
| Ergänzt werden die „Festivalperlen“ durch zwei Kurzfilmprogramme und ein | |
| Dokumentarfilmprogramm zur Darstellung von Frauen im litauischen Kino seit | |
| der Unabhängigkeit. Auch in der 11. Ausgabe ist das Litauische Filmfestival | |
| eine Bereicherung für die Berliner Kinolandschaft und die seltene | |
| Gelegenheit, gegenwärtiges litauisches Kino zu sehen. | |
| 5 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://ltkinogoesberlin.de/de/awards-ceremony-de/ | |
| [2] http://ltkinogoesberlin.de/de/isaac-de/ | |
| [3] http://ltkinogoesberlin.de/de/the-castle-de/ | |
| [4] http://ltkinogoesberlin.de/de/the-jump-de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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