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# taz.de -- Kinotipp der Woche: Prekäre Existenzen
> Der Filmkenner Jan Gympel hat in der Reihe „Schon wieder Wohnungsnot!“
> Berlin-Filme aus 100 Jahren zusammengestellt.
Bild: „Die Kuckucks“ (1949, R: Hans Deppe) läuft am 20.11. um 22 Uhr und a…
1930 zeigt Slatan Dudow das Elend des Wohnens in Berlin. „Zeitprobleme –
Wie der Arbeiter wohnt“ beginnt mit einer Texttafel, die keine
Zweideutigkeiten aufkommen lässt. „In den Mietskasernen der Millionenstadt
müssen sich mehrere Familien eine lichtlose, ungesunde Wohnung teilen.
Feuchte Kellerwohnungen rauben dem Arbeiter die Gesundheit. Den Kindern
vernichtet das Wohnungselend die Lebenskraft.“
Zwei Jahre später dreht Dudow „Kuhle Wampe“, den Klassiker des
proletarischen Films der Weimarer Republik. Eine Arbeiterfamilie fliegt in
der Wirtschaftskrise aus der Wohnung, zieht auf den gleichnamigen
Campingplatz am Rand von Berlin. Anni (Hertha Thiele), die Tochter der
Familie ist die einzige, die noch Arbeit hat.
Sie verliebt sich in den Kommunisten Fritz (Ernst Busch). Wohnungsfragen
ziehen sich durch die Geschichte Berlins. Jan Gympel kennt sich in der
Filmgeschichte Berlins nicht zuletzt dank seines Projektes
Berlin-Film-Katalog, die versucht, alle Filme zu erfassen, die in Berlin
gedreht wurden oder spielen, bestens aus.
Nun hat er für das Kino in der Brotfabrik und mit der für Filmprojekte rar
gewordenen [1][Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds] eine große
Filmreihe mit dem Titel „[2][Schon wieder Wohnungsnot!]“ zusammengestellt.
Die Reihe spannt einen Bogen von den späten 1920er Jahren bis in die
Gegenwart, wobei ein Schwerpunkt auf den Westberliner Filmen zwischen Ende
der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre liegt.
## Auf der Suche nach Wohnraum
Hans Deppe dreht 1948 seinen letzten Film für die DEFA bevor er seine
Filmkarriere in Westdeutschland fortsetzt. „Die Kuckucks“ zeigt fünf
Geschwister, Mutter tot, Vater seit dem Krieg vermisst, auf der Suche nach
Wohnraum. Wieder und wieder fliegen die Fünf ihren Untermietverhältnissen,
bis sie schließlich zu fünft in einem einzigen Zimmer leben, mit einer
bitter gewordenen Vermieterin, die im Flur patrouilliert.
Durch Zufall stoßen sie auf eine leerstehende Villa, die sie sich mit
Einwilligung des Besitzers zum Wohnen herrichten. Deppes Film ist ein
Trümmerschwank, der am besten dann funktioniert, wenn sich alle möglichst
wenig bewegen.
Schnelle Bewegungen bringen Deppe schnell an seine inszenatorischen Grenzen
oder wie der Spiegel anlässlich von Deppes nächstem Film schreiben sollte:
„Regie: Hans Deppe, Altmeister-Fachmann für schlichte Filmgeschichten mit
kunstvoll eingefädelten Pseudo-Komplikationen, milden Scherzen und herzigen
Untertönen“.
1968/69 porträtieren Roland Hehn, Klaus Wildenhahn, Horst Schwaab in „Der
Reifenschneider und seine Frau“ eine prekäre Existenz auf einer der vielen
Brachen der Westberliner Nachkriegszeit. Schorsch Markgraf und Hilde Brahms
leben vom Verkauf gebrauchter Reifen von Autos und Lastwagen. Gegen Ende
wird „Der Reifenschneider“ doch noch zum „1968“-Film als Markgraf
kommentierend am Rande einer Demonstration der Studierendenbewegung steht.
## Selbstorganisation im Neubauviertel
Gleich zwei Programme widmet die Reihe den Auseinandersetzungen über das
Märkische Viertel. Thomas Hartwig und Jean-François Le Moign zeigen in „Wir
wollen Blumen und Märchen bauen“ (1970) die Diskussionen um die Entstehung
des Jugendfreizeitheims „Die Brücke“. Max Willutzkis „Der lange Jammer“
(1972/3) dokumentiert die Mieterselbstorganisation in dem Neubauviertel.
Sehr erfreulich ist, dass im Rahmen der Reihe Penelope Buitenhuis
Nachwendefilm „Trouble“ nach längerem mal wieder im Kino zu sehen sein
wird. „Trouble“ ist ein Spielfilmporträt der Musikszene im Berlin der
frühen 1990er Jahre durchwoben mit der Geschichte der kanadischen Sängerin
Jonnie und einem Piratensender, mit dem das Fernsehen gekapert werden soll.
Wer den nicht guckt, ist selber schuld.
Wie meist sind die eigentlichen Entdeckungen unter den Kurzfilmen
auszumachen. Neben einer Reihe von eigenständigen Kurzfilmprogrammen werden
viele der Langfilme durch Vorfilme ergänzt. Eine der Wiederentdeckungen der
letzten Jahre ist beispielsweise „Kreuzberg gehört uns“, der 1972 eine
Mieterselbstorganisation begleitet.
Aber auch in den spröderen Filmen wie Oskar Holls „Altstadt – Lebensstadt.
Stadterneuerung in Berlin-Kreuzberg“ (1975, Kamera: Edgar Reitz) und unter
Wolfgang Kiepenheuers unermüdlicher Berlinfilmerei, denen die Reihe ein
Programm widmet, gibt es von heute aus ungewohntes zu entdecken.
17 Nov 2021
## LINKS
[1] https://hauptstadtkulturfonds.berlin.de/en/funded-projects/project/project_…
[2] https://www.brotfabrik-berlin.de/kino-programm-aktueller-monat/
## AUTOREN
Fabian Tietke
## TAGS
Filmreihe
Wohnungsnot
Nachkriegszeit
Berlin im Film
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