| # taz.de -- Theaterstück „Selfie & Ich“: Glücksterror in Neukölln | |
| > Christiane Mudra erzählt mit ihrem mobilen Theaterstück vom Alltag | |
| > psychisch Erkrankter. Thema ist auch die Psychiatriegeschichte in | |
| > Deutschland. | |
| Bild: Eine Szene aus dem Stück „Selfie & Ich“, das in Privatwohnungen aufg… | |
| Als Sonja zur Haustür hineinstürzt, bricht sie zusammen. Im Schutz ihrer | |
| Kreuzberger Wohnung muss sie keine Fassade aufrechterhalten, muss ihre | |
| Angst, ihre Nervosität, ihr Herzrasen und ihr Minderwertigkeitsgefühl nicht | |
| mehr verstecken. Und während Sonja ihre Alltagskämpfe gegen ihre | |
| Angststörung, gegen ihre Alkoholabhängigkeit, gegen ihre Einsamkeit | |
| austrägt, steht das Publikum der Theaterarbeit „Selfie & Ich“ mit ihr in | |
| der Wohnung. | |
| Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie sind | |
| fast ein Drittel, 27,8%, aller Erwachsenen innerhalb eines Jahres [1][von | |
| einer psychischen Erkrankung betroffen]. Doch vom Alltagsleben mit einer | |
| psychischen Krankheit ist wenig bekannt. „Ich habe bemerkt wie viel Wissen | |
| fehlt, wie ablehnend und negativ Reaktionen häufig sind. Ich wollte | |
| Betroffene zu Wort kommen lassen, wollte so nah wie möglich an den Alltag | |
| und die kleinen Kämpfe herankommen“, sagt die Regisseurin und Autorin von | |
| „Selfie & Ich“, Christiane Mudra. | |
| Die Regisseurin hat einen ortsspezifischen, investigativen Theaterabend zu | |
| „psychischen Erkrankungen, Leistungsgesellschaft und Glücksterror“ | |
| erarbeitet. Uraufgeführt wurde das Stück 2022 in München, nun ist es in | |
| Berlin. In vier Neuköllner Wohnungen ist das Publikum – eine etwa | |
| 10-köpfige Gruppe – zu Gast, nähert sich Protagonist*innen, Alltagen, | |
| Krankheitsbildern an. Die Performer*innen leben dort in Echtzeit, eine | |
| 3D-Soundcollagen bringt den Gästen auf Kopfhörern das Erleben und Empfinden | |
| der psychisch Erkrankten näher. | |
| Christiane Mudras investigatives Theater geht jahrelange journalistische | |
| Recherche voraus. Sie arbeitet mit Originalquellen, in Archiven und | |
| Literatur, begeht Orte, spricht mit Betroffenen. Dokumentiert nicht nur, | |
| sondern forscht nach, untersucht, deckt auf. Und lässt anschließend die | |
| Zuschauenden, ohne Voyeurismus, ebenso untersuchen und erkunden. Zuletzt | |
| entwickelte sie so „The Holy Bitch Project“ zu [2][Gewalt an Frauen] und | |
| „Der Schlüssel“ zum Thema Verschwörungstheorien. „Selfie & Ich“ ist n… | |
| erste Teil einer Trilogie. In der forscht sie einerseits zur Bewertung und | |
| andererseits zum Wert von Menschen. | |
| Gefühl von Wertlosigkeit | |
| Das Stück isoliert und stigmatisiert dabei psychische Krankheiten nicht. Es | |
| zeigt hingegen die Entstehungsbedingungen, zeigt wie eine | |
| leistungsgetriebene Gesellschaft krank machen kann. Und wie eben jene | |
| Dogmen von Leistung, Erfolg und Glück psychisch erkrankte Menschen auch | |
| weiterhin krank halten. Weil das Gefühl von Wertlosigkeit, von Verzweiflung | |
| und Scham so groß ist, dass man sich lieber verschließt, als zuzugeben, | |
| dass es einem nicht gut geht. Weil man sich lieber selbst für das eigene | |
| Versagen verantwortlich macht, als die Verhältnisse öffentlich zu | |
| hinterfragen. | |
| Mit dem Trinken angefangen hat Protagonistin Sonja gegen den Stress, gegen | |
| die Erwartungen, um herunter zu kommen, nach einem Highperformance-Leben. | |
| Mit dem Alkohol kam die Scham, das Doppelleben, die Vereinsamung. „Was war | |
| zuerst: Die Henne oder das Ei? Die Angst oder der Alkohol?“. Die | |
| Soundcollage verdichtet Sonjas inneren Monolog, Geräuschkulissen, und | |
| O-Töne von Betroffenen: „Wenn alle einfach einmal aufhören würden immer zu | |
| sagen, dass es ihnen super geht, dass bei ihnen alles perfekt ist“, hört | |
| man die Stimme einer Betroffenen. Dann sind die 20 Minuten mit Sonja | |
| vorbei, das Publikum zieht weiter. | |
| Während die Teilnehmenden mit den rot-leuchtenden Kopfhörern mitten durch | |
| belebte Kreuzberger Straßen zwischen den Wohnungen umher laufen, erweitert | |
| sich das Theaterstück um eine historische Dimension: Erzählt wird von der | |
| Krankenakte von Horand S. Ihm wurde in den 1930er Jahren eine Schizophrenie | |
| diagnostiziert, 1939 wurde er im Rahmen der [3][NS-Euthanasie] in eine | |
| sogenannte Heil- & Pflegeanstalt eingewiesen. Dort blieb er bis 1984. | |
| Anhand seiner Krankenakte zeigt sich von 1939 bis 1984 die | |
| Psychiatrie-Geschichte in Deutschland, die Ausgrenzung und das Wegsperren, | |
| die umkämpften Reformbestrebungen. | |
| Über den Abend hinweg betritt man drei weitere Wohnungen, erlebt den Alltag | |
| von Menschen mit depressiven Störungen, mit Schizophrenie und Magersucht. | |
| Sind die jeweiligen Krankheitsbilder zwar unterschiedlich, ähneln sich doch | |
| die Erfahrungen der Betroffenen mit ihrem Umfeld. Sie fühlen sich | |
| beobachtet, bewertet, verurteilt. Die Scham nicht dem Leistungsanspruch | |
| unserer Gesellschaft zu entsprechen, führt zu Geheimnissen, Isolierung, | |
| Kontaktabbruch. Unter dem Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, zwischen | |
| innerem Leidensdruck und äußerem Leistungsdruck, leiden alle vier | |
| Protagonist*innen. | |
| Es ist eine eindringliche, beeindruckende und berührende Erfahrung, und es | |
| ist ein Theaterstück, das die Zuschauenden fordert. Die Nähe zu den | |
| Darstellenden, die Anwesenheit und die direkte Begegnung im Raum verlangt | |
| eine eigene Positionierung. „Das ist mir wichtig zu nutzen, sehr nah an die | |
| Menschen ranzugehen, dass man sich nicht entziehen und zurücklehnen kann | |
| sondern mitten im Geschehen ist und sich in einer Form Verhalten muss.“, so | |
| Mudra. [4][Das kollektive Wegschauen, das Ignorieren und Isolieren,] das | |
| gesamtgesellschaftliche Versagen im Umgang mit psychischer Erkrankung, | |
| lässt Mudra nicht durchgehen. | |
| 20 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Amelie Sittenauer | |
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