# taz.de -- Forscher über Zustand der Gesellschaft: „Die Bevölkerung ist er… | |
> Pandemie, Krieg, Klima: Laut Forscher Hurrelmann zeigt die Gesellschaft | |
> Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wie kann das | |
> überwunden werden? | |
Bild: Mit der Klimakrise folgt die „nächste Überforderung“: Starkregen in… | |
taz: Herr Hurrelmann, Sie kritisieren, dass die Bundesregierung die mentale | |
Verfasstheit der Bevölkerung viel zu wenig berücksichtigt – auch dadurch | |
habe die AfD derzeit leichtes Spiel. Was meinen Sie damit? | |
Klaus Hurrelmann: Die Bundesregierung nimmt die medizinischen | |
Langzeitfolgen der Coronapandemie ernst, aber nicht die psychischen und | |
sozialen. Dabei sind diese immens, wie die Ergebnisse unserer Studie | |
„Jugend in Deutschland“ zeigen, in der wir nicht nur die Jugend bis 30, | |
sondern auch die Altersgruppen 30 bis 50 und 50 bis 70 Jahre einbezogen | |
haben. | |
Was sind die Ergebnisse? | |
Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des | |
normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem | |
Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft. | |
Man kann eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen | |
Belastungsstörung ziehen. | |
Heißt? | |
Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn | |
man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt | |
beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. | |
Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften | |
Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen | |
stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht | |
auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem | |
Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die | |
nächste Überforderung. | |
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um ein klar | |
definiertes Krankheitsbild aus der Psychiatrie – kann man das so einfach | |
auf die Gesellschaft übertragen? | |
Nein, eins zu eins geht das natürlich nicht. Ich nutze es als Analogie, als | |
Metapher, damit die Mechanismen und das Ausmaß dessen klar werden, womit | |
wir es gerade zu tun haben. | |
Woran machen Sie die Traumatisierung der Gesellschaft fest? | |
Traumatisierung ist eine Befindlichkeitsstörung, die sich darin äußert, | |
dass Menschen unter sehr hohem Stress, unter Hilflosigkeit und starker | |
Belastung leiden. Sie kommen mit ihren Lebensherausforderungen nicht | |
zurecht, weil sie aus dem Rhythmus geraten sind. Es ist ein Gefühl von | |
Ohnmacht. Die Belastungssymptome gehen in drei Richtungen. | |
In welche? | |
Zum einen nach innen. Deswegen haben wir so eine starke Zunahme von | |
psychischen Störungen, von Angst- und Essstörungen und Depressionen. Dann | |
gibt es Druck nach draußen, eine Zunahme von Aggressivität, auch von | |
politisch extremen Haltungen. Und drittens gibt es Sucht als | |
Ausweichstrategie, um sich Entlastung zu verschaffen: die Zunahme bei | |
einigen legalen und illegalen Drogen, aber auch bei Videospielen oder | |
überhaupt der Nutzung von digitalen Geräten. | |
Was schon in der Pandemiezeit zu beobachten war. | |
Aber es verschwindet nicht. Und jetzt kommen die Klimakatastrophe, die wir | |
während der Pandemie etwas verdrängt haben, und all die anderen Krisen | |
hinzu. Sie erinnern daran, dass man erst vor Kurzem Ohnmachtsgefühle hatte. | |
Das schafft Unsicherheit und Pessimismus und große Erschöpfung. | |
Was ist die gesellschaftliche Folge, wenn die Bevölkerung derart erschöpft | |
ist? | |
Das Gefühl, wir können unser eigenes Leben selbst in die Hand nehmen, wir | |
schaffen das, kommt abhanden. Wir verstehen nicht mehr, was eigentlich los | |
ist, weil es über die eigenen Kräfte hinausgeht. Und dann sucht man nach | |
Unterstützung und Entlastung – und eine Verschwörungstheorie zum Beispiel | |
leistet das. Die gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, woran es liegt. Ich | |
habe die Ursache gefunden. Die CIA hat das Coronavirus erfunden, ich kenne | |
den Schuldigen. Der Klimawandel ist nicht menschengemacht, ich kann also | |
nichts tun. | |
Was natürlich alles Unsinn ist … | |
… aber es sind befreiende Mechanismen, weil sie entlasten. Solche | |
Mechanismen aktiviert jeder von uns in unterschiedlichen Situationen – | |
dann, wenn das Gefühl überhand nimmt, dass ich keine Kontrolle mehr über | |
mich und mein Leben habe. Nach dem Konzept der Salutogenese des Soziologen | |
Aaron Antonovsky braucht der Mensch aber dieses Kohärenzgefühl. | |
Dieses Kohärenzgefühl? | |
Das heißt, dass drei Dinge wichtig sind. Dass ich als Mensch erstens das | |
Gefühl brauche, ich kann die Welt verstehen, dass zweitens die | |
Herausforderungen, die vor mir liegen, machbar sind, und dass drittens das | |
Ganze auch Sinn macht, es sich also lohnt, in die Zukunft zu investieren. | |
Wenn dieses Gefühl Schaden nimmt, dann werde ich pessimistisch, glaube | |
weder an mich noch an die Gesellschaft und suche nach rettenden Strohalmen. | |
Sie sagen, von dieser Situation profitiert die AfD. Wie funktioniert das | |
aus Ihrer Sicht? | |
Das ist eine Ausgangssituation, die von der Politik aufgenommen werden | |
muss. Und man muss bisherigen und den jetzigen Regierungsparteien zugute | |
halten, dass sie daran gearbeitet haben, an der Pandemie, [1][am Krieg] und | |
an der [2][Klimakrise]. Klein-klein und rational. Aber es gelingt ihnen | |
nicht, die Bevölkerung auch emotional mitzunehmen. Das liegt auch an den | |
ständigen internen Debatten. Deshalb gelingt es nicht, in der Bevölkerung | |
den Eindruck zu erwecken: Wir wissen, wo’s langgeht, es gibt Licht am | |
Horizont. Und davon profitiert eine Partei … | |
Die AfD, die in Umfragen gerade ein Hoch erlebt. | |
Ja, [3][ihr Höhenflug] hängt auch damit zusammen. In einer solchen | |
Situation sind einfache Antworten auch für Menschen interessant, die nicht | |
zur rechtsextremen Stammklientel gehören. Weil diese einfachen Antworten | |
entlastend sind. Und die AfD bietet solche Antworten, die natürlich | |
zugleich oft untauglich sind. | |
Entlassen Sie mit einer solchen Pathologisierung die AfD-Wähler*innen nicht | |
aus ihrer Verantwortung? | |
Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung | |
vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese | |
Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser | |
nachvollziehbaren Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit der | |
Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational. Das bedeutet auch, es | |
mit neuen Herausforderungen nicht zu übertreiben. | |
Was würden Sie der Bundesregierung empfehlen? Was kann sie tun? | |
Notwendig ist eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im | |
Englischen so schön Empowerment heißt. Olaf Scholz sollte mit seiner | |
Regierung der Bevölkerung endlich anbieten, was sie dringend braucht: ein | |
Gefühl der Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit. | |
Haben Sie eine konkrete Idee? | |
In der Klimapolitik könnte ich mir zum Beispiel eine Meinungsumfrage | |
vorstellen, mit der die Bundesregierung die Mehrheitsverhältnisse in der | |
Bevölkerung vermisst und in der die Bevölkerung sich äußern kann, in | |
welchem Ausmaß Klimapolitik gemacht werden soll. Das wäre ein Signal | |
vonseiten der Regierung, dass sie die Ohnmachtsgefühle der Bevölkerung | |
ernst nimmt und Angebote macht, sie zu überwinden. | |
Aber besteht bei einer solchen Befragung nicht die Gefahr, dass die | |
Menschen das Gefühl bekommen, es wird ihnen noch mehr Verantwortung | |
aufgebürdet – Verantwortung, die sie nicht tragen können? Dass diese also | |
eine verstärkende und keine entlastende Funktion hat? | |
Das wäre kontraproduktiv, das dürfte nicht passieren. Man müsste das also | |
sehr sorgfältig konzipieren. | |
Der Kanzler versucht ja in der Regel, Optimismus zu verbreiten. Warum | |
funktioniert das nicht? | |
Weil es nicht glaubwürdig rüberkommt. Weil alle sehen, wie die Regierung | |
streitet. Das war bei Angela Merkel anders. Sie hat lange abgewartet und | |
abgewogen und dann entschieden und dann war es so. Jetzt haben wir eine | |
Regierung von drei Parteien, die alle ihre eigenen Pläne haben. | |
Welche Rolle spielt die Opposition, also die Union? | |
Weil sie so lange in Regierungsverantwortung war, wird sie weiter als | |
Bestandteil der Regierung wahrgenommen, quasi als Regierungspartei. Auch | |
das macht es der AfD leicht. | |
Wenn wir Ihre Analogie der posttraumatischen Belastungsstörung noch einmal | |
aufnehmen: Wie kann man eine solche Störung – medizinisch gesehen – | |
eigentlich überwinden? | |
Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische | |
Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt | |
ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Dazu muss ich | |
das Trauma, was mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass | |
es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss. Wichtig | |
ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde. | |
Deswegen ist es bei den großen politischen Herausforderungen jetzt so | |
wichtig, dass die Regierung mit der Bevölkerung einen Minimalkonsens | |
herstellt. | |
Also kein Vorpreschen der Grünen mehr wie beim Heizungsgesetz und zugleich | |
mehr Zugeständnisse von der FDP? | |
Alle müssen Zugeständnisse machen. Sie müssten zeigen, dass sie in der Lage | |
sind, eine große Herausforderung gemeinsam zu lösen. Auf keinen Fall | |
getroffene Vereinbarungen wieder infrage stellen, das unterhöhlt jede | |
Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit. Ich glaube, das ist das | |
Schlimmste, was der Ampel passiert ist. | |
3 Aug 2023 | |
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Sabine am Orde | |
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