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# taz.de -- Gesellschaft im Krisenmodus: Schluss mit dem Gejammer!
> 2023 sagten diverse Spitzenpolitiker:innen, man dürfe die Gesellschaft
> nicht überfordern. Sie verkennen, was wirkliche Überforderung ist.
Bild: Porzellanhirsch auf Wohnzimmerkommode: Jetzt ist die Lieblingsjahreszeit …
Eine Freundin von mir, sie ist eigentlich ein Nachrichtenjunkie, hat seit
einiger Zeit ein neues Abendritual. Statt auf dem Sofa durch die News zu
scrollen, durchkämmt sie die Kleinanzeigen-App nach Möbeln. Das entspanne
sie. So sehr, dass sie am liebsten auch noch meine Wohnung einrichten
würde. Lieber noch eine Kommode als noch ein Koalitionsstreit.
In diesen Tagen, in denen das alte Jahr irgendwie vorbei ist, das neue aber
noch nicht so richtig angefangen hat, denke ich viel an sie. Es ist die
Lieblingsjahreszeit der Wirklichkeitsflüchtlinge, der Wohnzimmerdekorierer
und Weihnachtsfilmverkriecherinnen. Klar haben wir diese Tage nötig, gerade
in diesem Winter. Noch eine Woche das Rauschen der Welt runterdrehen, bis
es wie Schneerieseln klingt.
Das Rheingold Institut hat 2023 eine Studie veröffentlicht mit dem Titel
„[1][Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit]“, sie basiert auf
tiefenpsychologischen Interviews und einer Onlinebefragung. Die
Forscher*innen diagnostizieren, dass sich immer mehr Menschen im
Angesicht der politischen Herausforderungen ins Private zurückziehen. Zwei
Drittel der 18- bis 65-Jährigen vertrauen der Regierung nicht. Nur 23
Prozent blicken mit Zuversicht auf die Politik. Doch das heißt nicht, dass
die Menschen grundsätzlich unglücklich sind. 87 Prozent finden Zuversicht
im persönlichen Umfeld.
Das Forscher*innenteam beschreibt, wie durch die Coronajahre das eigene
Zuhause an Bedeutung gewonnen hat und verschönert wird. Wie Menschen sich
Kraft beim Yoga holen, beim Joggen, bei der Hautpflege im Badezimmer oder
beim Anlegen eines Balkongartens. Alles Bereiche, in denen die positive
Wirkung des eigenen Handelns direkt sichtbar wird: das Glück des selbst
abgeschliffenen Tisches, des perfekten Bananenbrots oder der neuen Bestzeit
bei der Umrundung des Stadtparks.
## Kollektive PTBS
Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann hat die These aufgestellt, nach
der unsere Gesellschaft vor lauter Krisen unter so etwas wie einer
[2][posttraumatischen Belastungsstörung] leidet. Kollektive Erschöpfung.
Wir bräuchten jetzt eigentlich Ruhe. Auch Spitzenpolitiker*innen von
SPD bis FDP ließen zuletzt des Öfteren verlauten, man dürfe die Bürgerinnen
und Bürger nicht überfordern.
Mich regt diese Überforderungsdiskussion auf. Sehr sogar. Denn die Klage
der Überforderung klingt in meinen Ohren oft nach einer willkommenen
Rechtfertigung für unser viel zu niedriges Tempo in der Transformation.
Natürlich müssen Klimaschutzmaßnahmen sozial gerecht sein. Und dass der
CO2-Preis [3][angehoben wird], ohne mit einem Klimageld die Mehrkosten für
Geringverdiener abzufedern, ist ein Konstruktionsfehler.
Aber: die Folgen der [4][Klimakrise] selbst überfordern unsere Gesellschaft
eben auch. Und noch viel mehr überfordern sie Menschen, die bereits jetzt
und noch deutlich spürbarer betroffen sind. Weil ihr Haus weggespült wurde
oder ihre Ernte schon wieder vertrocknet ist.
Wenn es um ziviles Engagement gegen die Klimakrise geht, fällt ein
Stichwort besonders oft: Selbstwirksamkeit – das Gefühl, dass das eigene
Handeln etwas bewirkt. Doch wir lösen diese Krise weder auf der Yogamatte
noch im Balkonbeet.
Laut der Rheingold-Studie schöpfen 60 Prozent der Befragten Kraft und
Freude daraus, Teil einer sozialen Gemeinschaft zu sein. Vielleicht wäre
ein erster Schritt, bei einem Solidarische-Landwirtschafts-Projekt
mitzumachen, statt nur die eigenen Tomaten zu hegen. Oder einer
Bürger-Energie-Genossenschaft beizutreten, statt sich dicke Socken zu
stricken. Klingt anstrengend? 2024 ist es Zeit für ein bisschen
Überforderung.
31 Dec 2023
## LINKS
[1] https://www.rheingold-marktforschung.de/gesellschaft/deutschland-auf-der-fl…
[2] /Forscher-ueber-Zustand-der-Gesellschaft/!5951963
[3] /Klimafonds-der-Bundesregierung/!5949473
[4] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
## AUTOREN
Luise Strothmann
## TAGS
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