# taz.de -- Gelähmte Gesellschaft: Sackgassengefühl | |
> Klima, Krieg, Rechtsruck, Debattenfeindlichkeit. Die multiplen Krisen | |
> lähmen. Was kann daraus entstehen? Eine Bestandsaufnahme. | |
Bild: Kein Ausweg in Sicht? Zumindest fühlt es sich manchmal so an | |
Wir müssen mal wieder über Gefühle reden. Wenn nix mehr geht, geht es nicht | |
anders. Ein Leser schreibt mir von seiner Verzweiflung, angesichts des | |
Wissens um die [1][katastrophale Lage]. Das Schlimmste: Man weiß alles, und | |
kann nichts machen! Psychologisch ausgedrückt: Es herrscht fataler Mangel | |
an „Selbstwirksamkeitserwartung“. | |
Was man auch tut, denkt, sagt – es ändert nullkommanichts an der Lage, und | |
„man“ zu sagen, wenn man sich selbst meint, hilft auch nichts. Die einen | |
werden furchtbar vorsichtig, die anderen furchtbar aggressiv. Zu viele | |
Probleme, zu viel auf einmal. Zu wenig Mut. Zu wenig Ehrlichkeit, zu wenig | |
Kraft. Zu viele Krisen. | |
Wobei Krise mal Höhepunkt meinte oder Wendepunkt einer Konfliktentwicklung, | |
heute jedoch hört man bei dem Wort eine nicht endende, undurchschaubare, | |
sich selbst ernährende, weltweite Gemengelage von Krieg, Krankheit, | |
Zerstörung – totale Ausweglosigkeit. | |
Zum Beispiel Klima: Wir, Menschheit, Europäer, Deutsche, steuern sehenden | |
Auges in unfassbares Leid hinein. Auch wenn wir, individuell oder | |
gesellschaftlich, recyclen, keine Plastikgabeln mehr benutzen, die Heizung | |
runterdrehen, das Auto stehen lassen, nicht mehr fliegen – es ist egal. | |
Noch das konsequenteste Handeln der Klimaaktivistin bleibt im Grunde ohne | |
Konsequenzen. Warum sich also die Mühe machen? Wo doch im Moment nicht | |
[2][nur in Gaza] und in der Ukraine mit Hilfe unserer Waffenlieferungen | |
und Durchhalteparolen dem Klima immense Kriegsschäden zugefügt werden, die | |
kein Milliardenaufbauprogramm wiedergutmachen kann. | |
## Hinter netten Gedanken sterben täglich Menschen | |
Zum Beispiel Krieg: Wir, [3][Westliche-Werte-Inhaber], verlängern das | |
Sterben, nennen es Widerstand, Freiheitskampf etc. und haben keine Ahnung, | |
wohin das alles führen soll oder wie man vom hohen Ross wieder runterkommt | |
und mit dem üblen Angreifer sich an den hässlichen Tisch setzt. | |
Dass Russland besiegt werden kann, glaubt wohl nicht mal der ukrainische | |
Präsident. Aber nun sind Gesichter zu verlieren, und es bleibt bei der | |
mohrrübenartig vor die Esel gehaltenen, maximal zu optimierenden | |
„Verhandlungsbasis“ der Ukraine. | |
Netter Gedanke, aber hinter dem netten Gedanken sterben täglich nette | |
Menschen, auch wenn sie, mit russischem Pass, für ukrainische Soldaten | |
keine sind: „Wir töten keine Menschen, wir töten den Feind“, heißt es – | |
unproblematisiert – in einer der unzähligen Deutschlandfunk-Reportagen über | |
den Durchhaltewillen der brutal Angegriffenen. | |
Zum Beispiel „Rechtsruck“: Der Bundeskanzler versichert, man dürfe nach der | |
EU-Wahl nicht so weitermachen wie vorher: „Keiner ist gut beraten, der | |
jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen will“ – um dann exakt das zu | |
wollen. | |
Auf dem G7-Gipfel der Angeschlagenen schäkert er mit Italiens | |
Ministerpräsidentin Meloni, als wäre nichts gewesen, während | |
EU-von-der-Leyen mit Hilfe von Postfaschisten ihre Macht sichern will und | |
gewiss auch das wieder mit der „Verteidigung unserer Werte“ verkaufen wird. | |
Als gingen diese ohne diese CDU-Kommissionspräsidentin unweigerlich den | |
Bach runter. Dabei es geht wohl genau darum in Wahrheit: ums Verkaufen, von | |
sich selbst und allen anderen. Kaum jemand fragt öffentlich, wie sehr | |
gerade eine von der Leyen „unsere Werte“ schleift. | |
## Linke Debattenfeindlichkeit | |
Zum Beispiel Betroffenheitspflicht: „diese seltsame deutsche Fähigkeit, | |
unter den Krisen und Kriegen der Welt fast noch mehr zu leiden als die | |
direkt Betroffenen“ hat Jochen-Martin Gutsch mit komischer Verzweiflung im | |
Spiegel konstatiert. | |
Als hätten Deutsche nur als Leidens-Streber, als Klassenbeste im | |
Betroffensein ein Rede- und Daseinsrecht – und müssten deshalb auch den | |
Fußball mit jedem Schuss zum Statement gegen Rassismus, Kolonialismus, | |
Frauen-, Queer- und Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus und so weiter | |
zwingen. Jede kleine – unpolitische – Freude muss sich hierzulande erst mal | |
des Verdachts erwehren, nicht politisch korrekt zu sein – und schon ist sie | |
futsch. | |
Zum Beispiel linke Debattenfeindlichkeit: Wo manche noch fragen, ob man mit | |
Rechten reden soll, und wenn ja wie und mit welchen, gibt es nicht wenige, | |
die ganz offen Debattenfeindschaft als progressiv propagieren, etwa in | |
Reden von Carolin Emcke. | |
Die Moralpublizistin ruft – unter jubelndem Applaus – „dringend“ dazu a… | |
an Pro-und-kontra-Öffentlichkeit nicht mehr teilzunehmen: „Es wird uns | |
beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, | |
gleichermaßen vernünftige, einander widersprechende Positionen“, das sei | |
„Bullshit“. | |
In verblüffender Undifferenzierung sieht die Philosophin in einem ohnehin | |
bedrohten journalistischen Genre – Debatte – pauschal „eine systematische | |
Zerstörung von vernünftigem, rationalem, differenziertem Diskurs“. Und will | |
es abschaffen. | |
Zu allem Überfluss wird wohl demnächst ein Zig-Milliardenloch-Haushalt | |
beschlossen, der an allem spart, außer am Militär. Das nervt ja sowieso: | |
die Unlogik in der Militarisierungsverkaufe. Wir seien nicht | |
„kriegstüchtig“, befindet der Verteidigungsminister. Was ja schon mal nicht | |
so schlau ist dem „Feind“ unter die Nase zu reiben. Dann aber doch keine | |
Wehrpflicht zu machen und weiterzuwursteln, als würde der „Feind“ warten, | |
bis man bereit ist. | |
## Tiktok-Entblödung und Entprofitisierung | |
Wenn man glaubt, dass die Russen spätestens übermorgen gegen die Nato | |
marschieren – müsste man dann nicht sofort handeln? Und wenn man nicht | |
wirklich dran glaubt oder, besser noch, alles tun will, um den heißkalten | |
Vorkrieg zu beenden, all das Geld für Sinnvolleres ausgeben? | |
Kriegsvermeidung zum Beispiel. Demokratiestärkung. Tiktok-Entblödung. | |
Entprofitisierung von Medizin, Energie, Wissenschaft, Deutscher Bahn. | |
Bildung first – solche Sachen. | |
Doch es scheint ewig Gestrigen wie „Progressiven“ nur noch ums Bewahren von | |
monströs großen kleinen Übeln zu gehen. Sie nennen es Wohlstand, Freiheit, | |
Sicherheit, aber sie denken nicht mehr gestalterisch. Europa soll | |
demokratisch bleiben, forderten Parteien im EU-Wahlkampf, oder schlicht | |
„gegen rechts“. Leider motiviert höchstens fürs Rechtswählen, wer | |
verschleiert, wie sehr es bei der Demokratie- und Weltrettung eben auch um | |
Selbstdarstellung und die Rettung eigener Privilegien geht. | |
Wo so viele Lügen und scheineinfache Wahrheiten in Umlauf sind, ist nicht | |
nur das Handeln blockiert, auch das Denken. Solche Kommunikation führt zu | |
einem leeren „Weiter so“ auf der Seite der Medien- und Polit-Karrieristen �… | |
und zur Resignation der von ihnen Beschallten. Oder, und ich weiß nicht, ob | |
das schlimmer oder besser oder im Grunde dasselbe ist, zu einer sozusagen | |
postmarxistischen Sehnsucht nach dem Nochschlimmeren, nach dem | |
Zusammenbruch, und sei es nur der Ampel. | |
Damit es zwar dann erst mal noch übler, aber danach irgendwann endlich auch | |
wieder wirklich besser, nämlich anders werden kann: weg von neoliberal | |
brainwashing angefeuerten militaristischen Aporien, weg vom vermeintlich | |
einzig fortschrittlichen Wachstumswahn, weg von einer rosaroten Linken, die | |
sich immer feiner zersplittert und nicht mal mehr versucht, eine Vision zu | |
entwerfen. | |
Da scheint, ganz unfortschrittlich, Rückwärts erstmal das neue Vorwärts: | |
Wie geht es (uns) besser? Wie wollen wir (über)leben? Und was müssen wir | |
dafür tun? | |
Die Autorin ist Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der | |
Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt | |
22 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Körting | |
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