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# taz.de -- Westliche Werte: Zahltag für den Westen
> Die trotzige Zurückweisung berechtigter Fragen funktioniert nicht mehr.
> Die Verteidigung der Freiheit muss auch Selbstkritik einschließen.
Bild: Chinas Präsident Xi Jinping berät mit anderen Staatschefs der BRICS im …
Nicht wenige werden der Meinung sein, Bernard Hénri-Levy sei mit seiner
Eitelkeit, seiner Showmanhaftigkeit und seiner übertriebenen Theatralik
ein leichtes Opfer für Polemik. Ich hingegen neige zu Charaktergüte und
schätze bei einigermaßen fähigen Leuten mit den einigermaßen richtigen
Reflexen primär die Stärken und pflege deren Schwächen gegenüber Milde
walten zu lassen. Meine Voreingenommenheit gegen BHL hält sich deshalb in
Grenzen.
Der Mann hat seine Verdienste, komisch sind wir alle auf unsere Weise.
Möglicherweise wird meine Milde auch durch die Bereitschaft verstärkt, mir
schmeicheln zu lassen, schrieb BHL doch vor ein paar Jahrzehnten meinen
Namen und den von einer Reihe von Mitstreiterinnen, Freundinnen und
Großliteratinnen, um dann hinzuzufügen: „Die Namen und Vornamen Wiens. In
diesen Namen und Vornamen die Spur jenes Identitätsmosaiks: des Wiens von
Hermann Broch, Arthur Schnitzler und Karl Kraus.“ Denkbar, dass ich ohne
diesen kleinen Zucker- und Kitschguss eine Spur strenger wäre.
Aber BHLs Neugierde und sein Ereignisappetit haben auch etwas
Bewundernswertes. Wo immer sich etwas tut, dort taucht er auf. Er sorgt
halt stets auch dafür, dass alle Welt erfährt: BHL war da!
Selbstverständlich war er zuletzt viel in der Ukraine und in Israel. Jetzt
hat er einen Kommentar geschrieben ([1][deutsch in der Süddeutschen Zeitung
vom 21. Dezember erschienen]), in dem er proklamiert: Beide Länder seien
angegriffen worden, das eine aus Russland, das andere aus dem
Gazastreifen.
Aber es gebe „noch mehr Gemeinsamkeiten“, etwa die Partnerschaft der
jeweiligen Feinde „mit dem iranischen Regime“. Und: „Es gibt eine direkte
Verbindung zwischen Putin und der Hamas.“ Henri-Levy: „Auf der einen Seite
stehen demokratische Staaten. Und auf der anderen Seite steht die große
Allianz gegen Demokraten im In- und Ausland.“ Gleichsam in einem
planetarischen Konflikt stünden wir Demokraten gegen die „Internationale
des Schlimmsten“.
Ich habe das mit wachsendem Widerwillen gelesen. BHL sagt ein paar durchaus
richtige Dinge, aber eben auf furchtbar falsche Weise. Wir sind die
absoluten Guten, und alle anderen entweder die absoluten Bösen in diesem
großen Weltenringen – oder die Doofen, die unser Gutsein nicht zu würdigen
wissen.
Das Manichäische (ein Weltbild, wonach Gute und Böse in einem scharfen
Gegensatz zueinander stehen, d. Red.), gewürzt mit Selbstgerechtigkeit, ist
definitiv mehr Teil des Problems als der Lösung. Und kontraproduktiv, auch
in Hinblick auf seine eigenen Absichten: Wer die Welt als
Gut-versus-Böse-Fantasy malt, der wird „den demokratischen Westen“ nicht
verteidigen, er schadet ihm. Die Manichäiker sind die Totengräber des
Westens. So wie Benjamin Netanjahu mit seinem Extremismus die schlimmste
Bedrohung für Israels Sicherheit ist.
Gewiss ist westlicher Selbsthass auch eine Art von Infektion, die Freiheit,
Demokratie und Liberalität schwächen können. Aber zugleich sind vehemente
Abwehr und bockige Verdrängung mittels schönfärberischem Selbstlob alles
andere als empfehlenswert. Bernd Ulrich fragte kürzlich in der Zeit, wie es
denn eigentlich sein kann, dass der Angriff auf die Ukraine viele
Demokratien so gleichgültig lässt.
## Groteske Interpretation
Dass Länder wie Argentinien, Brasilien, Indien und viele andere geradezu
darauf versessen sind, mit Despotien wie China oder gar Russland
antiwestliche Allianzen zu schmieden? Zweifelsohne ist die groteske
Interpretation des Israel-Palästina-Konfliktes, die Israel als weiße,
[2][kolonialistische Täternation] anprangert, ähnlich verrückt wie der
skurrile Unfug, dass jedes Entsetzen an den gnadenlosen Bombardements von
Gaza und einer maßlos-kontraproduktiven „Selbstverteidigung“ antisemitisch
wäre. Aber wofür ist das denn alles ein Symptom?
Sehen wir die Dinge nüchtern: Selbst befreundete progressive Staatsmänner
sind der Meinung, der Westen habe es völlig verbockt. Ganze Generationen
junger Leute haben zudem im Westen seit den neunziger Jahren die Erfahrung
gemacht, dass nur noch das Geld zählt und jede Art von Gier und
Bereicherung gerechtfertigt sei. Und dass das Motto regiert: Tanzen,
solange die Musik spielt – und nach uns die Sintflut. Eine globale
Wohlstandsschicht lebt auf Kosten der Welt. Junge Leute habe die Verbrechen
ihrer eigenen Nationen in das gleißende Licht von Aufklärung und Kritik
gerückt. Sie leben auch gänzlich selbstverständlich mit Freundinnen und
Kumpels aus allen Ländern zusammen und wissen daher sehr genau, wie die
subtilen Mechanismen von Abwertung und Rassismus funktionieren.
## Befohlene Ansichten
Sowohl die Attraktion – die Soft Power – des Westens steht heute zerzaust
da als auch die ökonomische Dominanz und sein Beherrschungspotential. Der
Westen „purzelt geradezu“ (Ulrich) aus seiner Übermachtposition. Es
scheint, es herrscht payback time für den Westen. Da wird die „trotzige
Dämonisierung“ und die „aggressive Zurückweisung“ berechtigter Kritik an
westlicher Überheblichkeit, am Verrat der selbst postulierten Werte und an
bizarrsten Doppelstandards nicht mehr hinhauen. Ulrich: „[3][Der Westen hat
noch nicht einmal in Ansätzen verstanden, welcher historischen Erwartung
und Energie er ausgesetzt ist.]“
Es sollten ja eigentlich die Alarmglocken läuten, stattdessen glaubt man
immer noch, man könnte der Welt befehlen, unsere Ansichten zu haben – und
sie beschimpfen und verleumden, wenn sie sie sich herausnimmt, die Dinge
etwas anders als wir zu sehen. Die Verteidigung der Freiheit muss, im
Gegenteil, alles aufnehmen, was an Kritik am Westen triftig ist. Attraktion
hätten Gerechtigkeit, Pluralismus, Menschenrechte und ein Lifestyle der
Freiheit ja immer noch genug. Mahatma Gandhi soll seinerzeit auf die Frage,
was er denn von der westlichen Zivilisation halte, die schalkhafte Antwort
gegeben haben: „Ich denke, sie wäre eine sehr gute Idee.“
3 Jan 2024
## LINKS
[1] https://www.sueddeutsche.de/kultur/bernard-henri-levy-israel-und-ukraine-1.…
[2] /Vom-Antisemitismus-zum-Antizionismus/!5979214
[3] https://www.zeit.de/2023/52/globale-machtverschiebung-westen-krieg-respekt/…
## AUTOREN
Robert Misik
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