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# taz.de -- Kritik an Israel wird schärfer: Die Zeit spielt für die Hamas
> Zwei Monate nach dem Hamas-Überfall lässt das Leid der Zivilbevölkerung
> die Unterstützung für Israels Gegenangriff schwinden. Kann Israel
> gewinnen?
Bild: Flucht aus Chan Junis, 06.12.2023: Wie es in Gaza nach dem Krieg weiterge…
Jerusalem taz | Zwei Monate nach Beginn des Gazakriegs wiederholt sich in
Chan Junis für viele Palästinenser, was sie schon einmal durchleben
mussten. Flüchtlinge aus dem Norden Gazas, die in der größten Stadt im
Süden des Küstenstreifens Schutz gesucht haben, müssen wieder fliehen; die
israelische Armee bombardiert die Stadt und rückt seit Dienstag auch mit
Bodentruppen vor. Viele wissen angesichts der Bomben, die auch auf andere
Gebiete im Süden fallen, nicht mehr, wohin.
Das hinderte [1][Benjamin Netanjahu am Dienstag] nicht daran, ein positives
Fazit zu ziehen: Zwei Monate nach dem grausamen Überfall der Hamas, bei der
mehr als 1.200 Menschen ermordet wurden, sieht Israels Regierungschef seine
Armee „auf dem richtigen Weg“. Die Freilassung von mehr als einhundert
Geiseln durch einen Gefangenenaustausch sei auch dem militärischen Druck zu
verdanken. Zudem seien 12 von 24 Bataillonskommandeuren der Hamas tot. Für
Israels Führung, die seit dem 7. Oktober die Zerstörung der Terrorgruppe
und die Befreiung der Geiseln zu den obersten Kriegszielen erklärt hat,
augenscheinlich ein Erfolg.
Doch während israelische Soldaten nach wochenlangen Kämpfen im Norden nun
in Südgaza vorrücken, wächst die internationale Kritik angesichts des Leids
der Zivilbevölkerung und der tausenden zivilen Opfer, die Israels Armee für
die Erreichung der Kriegsziele in Kauf nimmt. Zwei Drittel der mehr als
17.000 Getöteten sind nach Angaben des von der Hamas geleiteten
Gesundheitsministeriums Frauen und Kinder.
Die Zahlen [2][lassen sich nicht unabhängig überprüfen], sie könnten
angesichts der tausenden Menschen, die noch unter Trümmern begraben liegen
sollen, aber auch sehr viel höher liegen. Von der Erfüllung seiner
Kriegsziele ist Israel indes noch weit entfernt. Je mehr die internationale
Unterstützung für den Krieg in Gaza schwindet, desto mehr stellt sich die
Frage, ob Israel diesen Krieg noch gewinnen kann.
## Was hat Israel bisher erreicht?
„Wir haben im Norden große Fortschritte erzielt“, sagt Kobi Michael vom
Zentrum für Nationale Sicherheitsforschung der Universität Tel Aviv (INSS).
In Gaza-Stadt und Umgebung hätten sich fast alle Regierungsgebäude und
viele militärische Einrichtungen befunden. Dasselbe müsse in Chan Junis und
danach in den übrigen Gebieten Gazas geschehen, bis Hamas-Anführer Jahia
Sinwar und die Geiseln gefunden seien.
Doch es mehren sich die Stimmen, die das Ziel, die Terrorgruppe zu
zerstören, infrage stellen. „Die totale Zerstörung der Hamas, glaubt
jemand, dass das möglich ist?“, fragte der französische Präsident Emmanuel
Macron am Rande der Weltklimakonferenz COP28. „Wenn, dann wird der Krieg
zehn Jahre dauern.“
In der Macht der Armee liege nur ein „militärischer Sieg“, schränkt Kobi
Michael ein. Und auch der scheint noch weit entfernt: Israelischen
Schätzungen zufolge verfügt der bewaffnete Arm der Hamas über rund 30.000
Kämpfer. Bisher seien rund 5.000 getötet worden, berichtet die Washington
Post unter Berufung auf drei Angehörige der israelischen
Sicherheitsdienste. Zudem verfügt die Gruppe nach Angaben des INSS
schätzungsweise noch über rund 15.000 Raketen. Noch immer werden
israelische Städte mit Raketen angegriffen. Seit Beginn der Bodenoffensive
wurden rund 90 israelische Soldaten getötet.
Es sei zwar möglich, die Anführer und Kämpfer der Hamas im Gazastreifen zu
töten oder gefangenzunehmen, sagte der Islamwissenschaftler Guido Steinberg
von der Stiftung Wissenschaft und Politik am Dienstag in einem Interview
mit der Deutschen Welle. Die Hamas sei aber nicht nur eine militärische
Organisation, sondern auch eine soziale Bewegung mit zahlreichen
nichtmilitärischen Mitgliedern. Sie sei kaum vollständig zerstörbar und
könne neue Anhänger rekrutieren.
Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Thinktanks Horizon
Center in Ramallah, sagt: „Die Hamas als politische Organisation und
extremistische Ideologie lässt sich mit Waffen nicht zerstören, das wird
nur mit einer besseren Idee gelingen.“
## Der Terror rückt in den Hintergrund
Aktuell spielt die Zeit für die Hamas. Israels Verteidigungsminister Joav
Galant sprach zuletzt von weiteren zwei Monaten Krieg. Bereits jetzt rücken
aber die grausamen Terrorakte der Gruppe am 7. Oktober in der Wahrnehmung
vieler zunehmend in den Hintergrund, es dominieren Bilder und Schlagzeilen
über das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, wo sich laut UN-Angaben rund
1,9 Millionen Binnenvertriebene auf engstem Raum zusammendrängen. Doch um
alle Verstecke der Hamas zu erreichen, die oft im Schutz ziviler
Einrichtungen liegen, müsste die Armee dorthin vordringen.
Israel fordert die Menschen vor Offensiven mit Flugblättern und
Textnachrichten zum Verlassen der Gebiete auf, bombardiert jedoch auch Orte
ohne Warnung. Eine Fluchtmöglichkeit über die Grenze in den Sinai lehnt
Ägypten hartnäckig ab. In der kleinen, von Israel ausgewiesenen Schutzzone
nahe der Siedlung al-Mawasi an der Küste soll es keinerlei Schutz und kaum
Nahrungsmittel geben.
Hilfsgüter kommen wegen israelischer Beschränkungen nur in geringer Menge
über die Grenze. Laut UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths
funktioniert die humanitäre Hilfe im Süden Gazas nur noch unregelmäßig.
38 Prozent der Menschen im Süden und 48 Prozent im Norden [3][leiden laut
dem Welternährungsprogramm schweren Hunger]. Der UN-Hochkommissar für
Menschenrechte, Volker Türk, nannte die Situation gegenüber dem TV-Sender
France24 „apokalyptisch“ und sieht „schwere Verstöße gegen das humanit�…
Völkerrecht“. Israel erwägt nach anhaltender Kritik laut Medienberichten
nun erstmals seit Kriegsbeginn die Öffnung des Grenzübergangs Kerem Schalom
für Hilfslieferungen.
Den Krieg im Süden ebenso hart zu führen wie bisher im Norden, stößt
mittlerweile auch bei vielen westlichen Verbündeten auf Widerspruch. Die
UNO bezeichnet die Zahl der zivilen Opfer als beispiellos in der jüngeren
Geschichte. [4][Selbst Israels wichtigster Verbündeter findet zunehmend
deutliche Worte]: Der US-amerikanische Außenminister Anthony Blinken sagte,
Israel dürfe „nicht wiederholen, was im Norden passiert ist, wenn es um den
Schaden der Zivilbevölkerung geht“.
UN-Generalsekretär António Guterres forderte derweil den Sicherheitsrat
auf, eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern. Israel [5][warf ihm
daraufhin vor], die Hamas zu unterstützen.
## Und was kommt nach dem Krieg?
Wie es in Gaza nach dem Krieg weitergehen könnte, ist unklar. Viele
fordern, die Gründung eines palästinensischen Staats endlich energisch
voranzutreiben. Dass die schwache Palästinensische Autonomiebehörde „auf
israelischen Panzern“ wieder nach Gaza komme, sei kaum vorstellbar, sagt
Michael Milstein, Palästina-Forscher am Mosche-Dajan-Zentrum der
Universität Tel Aviv. Ansätze wie internationale oder arabische Truppen
hält er für „eine Illusion“. Chancen habe möglicherweise übergangsweise
eine Technokratenregierung.
Israel bleibt selbst dann beschädigt, wenn es einen militärischen Sieg
erreichen kann. Bisher ist nicht geklärt, wie die Hamas ihren Angriff unter
den Augen von Israels hoch technisierten Sicherheitsapparat vorbereiten und
umsetzen konnte. Dessen Abschreckungspotenzial dürfte nachhaltig verringert
sein. Bleiben wird ebenfalls die Angst vieler Israelis, auch im jüdischen
Staat nicht sicher leben zu können. Der angesichts des Gazakriegs weltweit
aufflammende Antisemitismus macht die Sache nicht einfacher.
8 Dec 2023
## LINKS
[1] /Aktuelle-Lage-in-Israel/!5978525
[2] /Opfer-im-Gaza-Krieg/!5969294
[3] https://docs.wfp.org/api/documents/WFP-0000154766/download/?_ga=2.45657708.…
[4] /US-israelische-Beziehungen/!5978379
[5] /Appell-des-UN-Generalsekretaers-zu-Gaza/!5974364
## AUTOREN
Felix Wellisch
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