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# taz.de -- Nahost und Ukraine: Der Westen in der Minderheit
> Eindeutig hat die UN-Generalversammlung einen Waffenstillstand im
> Gazastreifen gefordert. Die westliche Position findet keine Mehrheit
> mehr.
Bild: Die UN-Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield, spricht auf der UN…
Die Stimmung am Dienstag in New York war eindeutig. Bei der
UN-Generalversammlung stimmten 153 Staaten für einen „sofortigen
humanitären Waffenstillstand“ im Gazastreifen. Mit der Resolution rufen sie
alle Konfliktparteien dazu auf, das Völkerrecht zu achten, sofort alle
Geiseln freizulassen, humanitäre Hilfe zu gewährleisten und bestehende
UN-Beschlüsse umzusetzen. 10 Staaten stimmten mit Nein, 23 enthielten sich.
Ähnlich eindeutig war es am 2. März 2022 gewesen, als 141 Staaten
[1][Russlands Überfall auf die Ukraine verurteilten] und forderten, dass
Russland sich „unverzüglich, vollständig und bedingungslos“ zurückzieht.
Auch diese Resolution rief alle Parteien dazu auf, das humanitäre
Völkerrecht zu achten und den Konflikt friedlich zu lösen. 5 Staaten
stimmten mit Nein, 35 enthielten sich.
Spiegelbildlich zeigt sich, wie sich die Mehrheitsverhältnisse auf der Welt
verschieben. 2022 war der „globale Westen“ in der Mehrheit. Russland war
isoliert, im „Nein“ gesellten sich lediglich Belarus, Eritrea, Nordkorea
und Syrien dazu. Nun, eineinhalb Jahre später, ist Israel isoliert. Mit
Nein stimmten neben Israel Guatemala, Liberia, Mikronesien, Nauru,
Österreich, Papua-Neuguinea, Paraguay, Tschechien – und die USA.
Lange hatten sich westliche Staaten bemüht, im Globalen Süden für die
Ukraine zu werben und die historische Moskau-Verbundenheit ehemals
europäisch kolonisierter Länder zu brechen. Im „neuen geopolitischen
Umfeld“ sei es „wichtig, sich mit den [2][Ländern des Globalen Südens] auf
Augenhöhe zu verständigen“, appellierte etwa Bundeskanzler Olaf Scholz, der
schon viele Reisen in dieser Angelegenheit absolviert hat.
Das war am 6. Oktober. Einen Tag später [3][überfiel die Hamas Israel],
tötete 1.200 Menschen, und die Welt wurde aus deutscher Sicht eine andere.
Viele Länder stellten sich zunächst hinter Israel. Doch je länger Israel im
Gazastreifen brutal zurückschlägt, desto stärker bröckelt international die
Unterstützung.
## Verlorene Menschenleben
Massive Bombardierungen, viele Tausend zivile Tote, die Zerstörung aller
Lebensgrundlagen für Gazas Zivilbevölkerung: [4][Der Brandbrief von
UN-Generalsekretär António Guterres] dazu vor einer Woche war die Grundlage
für die aktuelle Resolution. In deren Zentrum steht die „katastrophale
humanitäre Lage im Gazastreifen und das Leid der palästinensischen
Zivilbevölkerung“. Aber nicht das Selbstverteidigungsrecht Israels.
Enthalten haben sich neben Deutschland unter anderem Großbritannien, die
Ukraine, die Niederlande, Italien. Die USA stimmten mit Nein. Aber
Frankreich stimmte mit Ja.
Zur Begründung für die Enthaltung heißt es in Berlin: Einerseits wird die
Hamas in der Resolution nicht genannt, auch nicht der Terrorangriff vom 7.
Oktober. Damit wird nach Lesart des Auswärtigen Amtes „mindestens implizit“
das Recht Israels infrage gestellt, sich „gegen diesen Terror der Hamas zu
verteidigen“. Deswegen konnte es nicht zu einem deutschen Ja kommen. Ein
Nein fiel auch aus, da Deutschland seit Beginn des Krieges auf das Leid der
Palästinenser:innen verweist.
Am Mittwoch verkündete das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) die
Wiederaufnahme der Hilfszahlungen für die palästinensischen Gebiete und das
[5][UN-Hilfswerk UNRWA]. Am Wochenende soll die deutsche Luftwaffe
Brutkästen für Säuglinge und Beatmungsgeräte nach Ägypten fliegen, für den
Gazastreifen. Aber einen Waffenstillstand will Deutschland nicht, nur
„humanitäre Pausen“.
Diese Haltung stößt global auf Unverständnis. Dennis Francis, der aus
Trinidad und Tobago stammende Präsident der UN-Generalversammlung, brachte
es in seiner Eröffnungsrede am Dienstag auf den Punkt: Es habe bereits eine
Pause gegeben, aber nun gehe die Gewalt verstärkt weiter. „Wir sehen
momentan einen Ansturm auf Zivilisten, den Zusammenbruch humanitärer
Systeme und eine Missachtung von internationalem Recht sowie humanitärem
Völkerrecht“, sagte er. „Wie viele Tausend Menschenleben müssen noch
verlorengehen, bevor wir etwas tun? Die Zeit ist um. Das Schlachten muss
enden.“
Solche Worte passen auch zu Russlands Angriff auf die Ukraine. Aus Sicht
des Südens übt sich der Westen in Doppelmoral: Kriegsmethoden, die man bei
Russlands Angriff auf die Ukraine verdammt, werden bei Israel in Gaza
gebilligt. Es ist unschwer zu erkennen, wohin diese Wahrnehmung führen
kann: Die Ukraine wird zerrieben. Dem Globalen Süden stehen die
Palästinenser ohnehin näher als die Ukrainer; aber auch im Westen hat die
Solidarität mit Israel aktuell Vorrang vor Solidarität mit Kyjiw.
## Grenzen abschotten
Die alten Fronten kehren zurück, mit neuen Kriegen. Die Neuordnung der
Weltpolitik geht über den Nahostkonflikt hinaus. Die Angst in Europa vor
einem Flüchtlingsansturm aus Afrika oder in den USA vor
[6][Migrant:innen aus Lateinamerika] ist stärker als die vor Russlands
Kriegskurs. Statt die Ukraine weiter militärisch zu unterstützen, wollen
Rechte in den USA und Europa lieber die Grenzen stärker abschotten. Sollten
diese Kräfte sich bei den EU-Wahlen im Juni 2024 und den US-Wahlen im
November 2024 durchsetzen, wäre die Ukraine endgültig auf sich allein
gestellt. Auch, wenn der deutsche Kanzler Scholz der Ukraine trotz
Haushaltskrise Unterstützung zusagt.
Dass bei der Zuspitzung des Nahostkonflikts andere Krisen unter die Räder
kommen, befürchtet das International Rescue Committee (IRC) in seinem
Jahresausblick auf 2024, der am Donnerstag offiziell vorgestellt wird.
„Auch andere Teile der Welt stehen in Flammen“, warnt IRC-Präsident David
Miliband, ehemaliger britischer Außenminister. Sudan steht ganz oben auf
der IRC-Liste, es folgen der Gazastreifen, Südsudan und weitere
afrikanische Länder. Aber UN-Missionen etwa in Mali und im Sudan werden
abgewickelt, Hilfsprogramme zusammengestrichen, Konflikte angeheizt.
Freuen kann sich darüber Russlands Präsident Wladimir Putin, der vor der
Wahl im März massiv aufrüstet. Unlängst konnte er unbehelligt, trotz
Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs, Saudi-Arabien und die
Vereinigten Arabischen Emirate besuchen – eigentlich zwei westliche
Verbündete.
13 Dec 2023
## LINKS
[1] /Ukraine-Resolution-in-UN-Vollversammlung/!5884084
[2] /UN-Resolution-zu-Nahost/!5964079
[3] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[4] /Appell-des-UN-Generalsekretaers-zu-Gaza/!5974364
[5] /Krieg-in-Nahost/!5974728
[6] /Riesige-Karawane-durch-Mexiko/!5970694
## AUTOREN
Dominic Johnson
Tanja Tricarico
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