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# taz.de -- Experte zum Gazakrieg: „Sieg über die Hamas ist unmöglich“
> Eine Zerstörung der Terrorgruppe hält Abdalhadi Alijla für unrealistisch.
> Er fordert, die sozialen Gründe für deren Rückhalt in den Blick zu
> nehmen.
Bild: „Die Hamas spricht ihre Trauer an“: trauernde Palästinenser in Rafah…
taz: Sie beobachten die Hamas bereits seit 2007, also seit die
Terrororganisation den Gazastreifen unter israelischer Blockade regiert.
Israels aktuelles Kriegskabinett hat das Ziel, die Hamas zu „zerstören“.
Kann das gelingen?
Abdalhadi Alijla: Das ist unrealistisch, fanatisch und unmöglich. Die
israelische Rechte, die als faschistische Regierung bezeichnet wird, ist
sich der Realitäten vor Ort nicht bewusst. Israel ist nicht in der Lage,
den militärischen Flügel der Hamas zu besiegen, weil es ein Guerillakrieg,
ein Straßenkrieg ist. Und die Hamas gehört zu einem regionalen Netzwerk von
Milizen, die vom Iran finanziert werden. Iran wird nicht zulassen, dass die
Hamas besiegt wird. Es gibt noch viele andere Gründe dafür, dass ein
militärischer Sieg über die Hamas nicht möglich ist.
Zum Beispiel?
Beispielsweise die Mischung aus nationalistischer und religiöser Motivation
der Hamas-Kämpfer, ihre Taktik und Tunnel und der Druck auf die Wirtschaft
in Israel durch einen langen Krieg.
Was versteht der Westen falsch an [1][der Hamas]?
Ich lache über die israelischen und westlichen Politiker, weil sie offenbar
nichts aus der Geschichte im Irak oder in Afghanistan gelernt haben. Sie
wissen nichts über die lokale Politik in diesen Gesellschaften. George W.
Bush stand in Kabul und sagte: „Wir haben die Taliban besiegt.“ 20 Jahre
später sind die Taliban wieder da, obwohl die USA über das modernste
Militär der Welt verfügen. Es gibt nur sehr wenige Forscher, die die Hamas
als soziale Bewegung und als Netzwerk untersucht haben, was meiner Meinung
nach aber am besten ist, um die Bewegung zu verstehen.
Wie ist die soziopolitische Struktur der Hamas im Gazastreifen?
Die Hamas wurde als NGO gegründet. Die soziale Bewegung in den frühen
1980er Jahren war eine Reaktion auf das Scheitern der säkularen und
nationalistischen Bewegung. Als glaubensbasierte Organisation bot sie
Dienstleistungen, Bildung und Gesundheitsversorgung an. Das ist die
Keimzelle der Hamas: Eine starke Basisorganisation, die mit den Menschen in
Kontakt tritt und qualitativ hochwertige Grunddienste anbietet. Sie haben
Zugang zu verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Das Netzwerk ist sehr
gut ausgebaut: Viele Hamas-Mitglieder stammen aus sehr bekannten
Großfamilien, die andere mobilisieren. Das Stammesnetzwerk, das mit der
Politik verwoben ist, macht es sehr schwierig, die Hamas aus dem sozialen
Gefüge der palästinensischen Gesellschaft herauszulösen oder zu trennen.
Was heißt das in der aktuellen Kriegssituation?
Fast jeder im Gazastreifen hat in diesem Krieg jemanden verloren. Die Hamas
spricht ihre Trauer an – weshalb eine Mehrheit der Palästinenser in Gaza
den bewaffneten Widerstand unterstützt. Das heißt nicht, dass sie der Hamas
angehören oder Hamas-Sympathisanten sind.
Es gibt andere politische Akteure, die Fatah oder die Linken. Warum wendet
sich die Mehrheit nicht ihnen zu?
Es gibt einige Linke wie die Front für die Befreiung Palästinas. Sie sind
aktiv, aber ihnen fehlen die finanziellen und sozialen Mittel. Vielleicht 3
Prozent unterstützen sie.
Und die Fatah?
Sie ist wie die Hamas eine korrupte politische Partei. Die Fatah ist seit
1994 an der Macht und hat im Westjordanland eine Sicherheitskooperation mit
Israel. Diese Zusammenarbeit ist ein großes Problem für die Palästinenser.
Die Fatah hat – wie die Hamas – einige autoritäre Praktiken in ihrer
Regierung. Etwa 25 Prozent der Palästinenser bezeichnen sich laut
Arabischem Barometer und jüngsten Umfragen des Palästinensischen Zentrums
für Umfragen und Forschung als Sympathisanten oder Mitglieder der Fatah.
Die Fatah hat auch einen militärischen Flügel. Ich rechne mit einem
baldigen militärischen Widerstand der Fatah im Westjordanland, wenn es so
weitergeht.
Warum?
Die Hoffnung zu verlieren, ist gefährlich. 2007, als die Hamas den
Gazastreifen übernommen und der Fatah verboten hat, zu operieren,
wechselten viele aus dem militärischen Flügel der Fatah zum Islamischen
Dschihad. Es besteht die Möglichkeit, dass der Islamische Dschihad, der dem
Iran näher steht als die Hamas, in Zukunft stärker wird. Wenn die Hamas
beseitigt wird, sollte man etwas Radikaleres als die Hamas erwarten.
In Interviews des Arabischen Barometers mit 399 Befragten im Gazastreifen
kurz vor dem 7. Oktober gaben 44 Prozent an, dass sie überhaupt kein
Vertrauen in die Hamas haben; 23 Prozent hatten kein Vertrauen in
irgendeine Art von Regime. Was bedeutet das Misstrauen für einen
Friedensprozess?
In den letzten zehn Jahren hat es öfter Proteste gegen die Hamas-Regierung
im Gazastreifen gegeben. Die Mehrheit der Bevölkerung ist mit den
Regierungsmechanismen der Hamas nicht zufrieden. Sie warten auf eine neue
Agenda, eine neue politische Kraft, die den Status quo ändert. Politische
Parteien, Eliten und zivilgesellschaftliche Organisationen haben es
versäumt, die Bedürfnisse der Palästinenser zu erfüllen. Vertrauen ist die
Essenz des sozialen Kapitals. Israel belagert den Gazastreifen seit 1991.
Jede politische Alternative muss den Palästinensern Hoffnung geben. Solange
die Besatzung besteht, hält das Trauma an. Solange es die Besatzung gibt,
wird es militärischen Widerstand geben. Die Hamas wird in Zeiten des
Friedens schwächer.
Haben Sie eine Vision für dauerhaften Frieden?
Nein. Ich war einer der optimistischsten Befürworter der Einstaatenlösung.
Also einen binationalen Staat, in dem Juden und Palästinenser, Muslime und
Christen gleichberechtigt nebeneinander leben und die gleichen
bürgerlichen, liberalen und politischen Rechte haben. Was in Gaza
geschieht, ist ein Völkermord. Es ist unmöglich, sich jetzt etwas
vorzustellen. Zuerst muss der Genozid aufhören, dann können wir an die
Zukunft denken.
Warum bezeichnen Sie die Massentötungen als Genozid?
Nun, nicht ich definiere es als Genozid; wenn 30.000 Zivilisten getötet
werden, 13.000 von ihnen unter zehn Jahren, ist das ein Völkermord. Wenn
Schulen, Krankenhäuser und Häuser bombardiert werden, dann ist es ein
Völkermord. Die offiziellen israelischen Erklärungen zur ethnischen
Säuberung wie die Rede von der Vertreibung der Palästinenser aus dem
Gazastreifen sind ebenfalls ein Völkermord. Dies ist die Meinung der
UN-Expertengruppe und anderer internationaler Akteure.
Sie sagen, die Besatzung des Westjordanlands und die Blockade von Gaza muss
enden. Was würde das bedeuten? Die Mauern niederreißen, Siedler
zurückholen, palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen
befreien …?
Sie sprechen von einigen Details. Im Kern geht es um den Rückzug auf die
Grenzen vor 1967 [vor der israelischen Besetzung der palästinensischen
Gebiete; Anm. d. R.]. Das Recht auf Rückkehr für palästinensische
Flüchtlinge. Ost-Jerusalem gehört den Palästinensern. Die Ressourcen des
Westjordanlands und des Gazastreifens gehören den Palästinensern.
Aber Israel befürchtet einen weiteren Angriff der Hamas.
Dann bleibt uns nur noch eine Option: die [2][Fortsetzung dieser
Situation]. Der Ball liegt im Feld von Israel und natürlich der westlichen
Welt.
Die Frage bleibt: Wer kann und will regieren?
Zuerst muss die Besatzung beendet werden. Dann können die Palästinenser
frei entscheiden, wer regiert und was sie mit ihrem Staat machen. Das ist
das Konzept der Selbstbestimmung.
7 Jan 2024
## LINKS
[1] /Nahostforscher-zur-Hamas-im-Libanon/!5978642
[2] /Kampf-gegen-Hamas-im-Libanon/!5979923
## AUTOREN
Julia Neumann
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