# taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Nachbarschaftshilfe | |
> Im Westjordanland war der Frieden zwischen Siedlern und | |
> Palästinensern schon vor dem 7. Oktober weit weg. Zwei Initiativen | |
> wollen das ändern. | |
Bild: Heiliges, geteiltes Land: Eine Mauer verläuft zwischen Bethlehem und Jer… | |
GUSH ETZION Es ist ein milder Tag Anfang November im israelischen | |
Siedlungsblock Gusch Etzion, südlich von Bethlehem. Im nahen | |
Einkaufszentrum schlendern junge Männer mit Kippa auf dem Kopf und | |
Sturmgewehr um die Schultern durch die Geschäfte. Menschen ohne jüdische | |
Kopfbedeckung sind kaum zu sehen. Palästinenser*innen, die früher | |
entlang der Schaufenster nach dem letzten Schnäppchen Ausschau hielten oder | |
sich einen Kaffee an den sauber polierten Tresen der Cafés und Restaurants | |
bestellten, trauen sich [1][nach dem 7. Oktober] nicht mehr in israelische | |
Läden. Selbst die, die es könnten oder vor dem Krieg gar in die Siedlungen | |
durften, wie etwa Bauarbeiter, nicht mehr. Sie haben Angst. | |
Draußen scheint die Sonne auf die kaum befahrenen Schnellstraßen des | |
Westjordanlandes, auf die bestellten Felder neben palästinensischen Dörfern | |
und auf die umzäunten Siedlungen. Noch fühlt sich die Luft warm an. Genau | |
ein Monat ist der Terrorangriff der Hamas her, die in Südisrael an einem | |
einzigen Tag etwa 1.200 Menschen tötete und mehr als 200 entführte. Und der | |
einen Gegenangriff Israels auf Gaza auslöste, bei dem bis heute mehr als | |
20.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Tendenz steigend. | |
Außerhalb des Einkaufszentrums sitzt Israel Piekarsh auf einem Plastikstuhl | |
und redet vom Frieden in einer Gegend und zu einer Zeit, die alles andere | |
als friedlich sind. Piekarsh, 39 Jahre alt, robuste Figur, rundes Gesicht | |
unter der kleinen, gehäkelten Kippa hat eine Vision – und Mission dazu. | |
Piekarsh Ideen gelten vor allem unter Siedler*innen nicht unbedingt als | |
Mainstream. Und doch hofft er, dass genau diese Vision irgendwann die | |
Zukunft Israels und Palästinas gestaltet. Er gehört zu einer Gruppe von | |
jüdischen Menschen, die sich auf eigene Art und Weise vorgenommen haben, | |
die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. | |
Piekarsh spricht von Akzeptanz, Versöhnung, Konsens, warmen Frieden. Den | |
letzten Begriff wiederholt er mehrmals. Warmer Frieden als Gegenpol zum | |
kalten Frieden, in dem sich beide Seiten nicht mehr angreifen, sich jedoch | |
auch trennen und nicht einander anerkennen „Das wird hier nicht | |
funktionieren. Nur Versöhnung, wenn wir die Rechte und die Geschichte von | |
beiden Seiten anerkennen“, sagt er. | |
Diese Art der Versöhnung wirkt seit dem Angriff der Hamas meilenweit | |
entfernt. Die aktuelle Spannung ist auch im Westjordanland zwischen | |
Siedlungen und palästinensischen Dörfern greifbar. Eine Spannung, die sich | |
über die Jahre hinweg angestaut hat und [2][sich seit Beginn des Krieges | |
immer häufiger in Gewalt entlädt]. | |
Acht Palästinenser*innen sind laut dem UN-Büro OCHA seit dem 7. | |
Oktober bei Angriffen von Siedlern gestorben, bei einer weiteren Person ist | |
unklar, ob sie durch Siedler oder Soldaten umkam. Mindestens 92 wurden | |
verletzt. Im selben Zeitraum sind vier Israelis, drei von ihnen | |
Soldat*innen durch Palästinenserattacken im Westjordanland und | |
Ostjerusalem ums Leben gekommen. | |
Die Palästinenser*innen fühlen sich auf ihrem eigenen Land angreifbar | |
und ungeschützt. Siedler*innen hingegen weisen die Schuld von sich und | |
zeigen auf die Gewalt, die von Terrorgruppen wie der Hamas ausgeht. Jeder | |
betrachtet das Westjordanland als sein eigenes Zuhause, nicht selten mit | |
Exklusivanspruch. Palästina für die einen, Judäa und Samaria für die | |
anderen. | |
Trotz der Spannungen will Piekarsh den Glauben an den Frieden nicht | |
aufgeben. Er ist Geschäftsführer einer von religiösen Siedler*innen und | |
laizistischen Israelis gegründeten Organisation. Anahnu, so heißt die | |
Bewegung, bedeutet auf Hebräisch so viel wie „wir“. Ihre Mitglieder haben | |
eine politische Vision für das Westjordanland. Sie fordern ein Ende der | |
israelischen Besatzung, die Gründung eines palästinensischen Staates [3][in | |
den Grenzen von 1967] und ein Recht auf Rückkehr der Palästinenser*innen. | |
Auch Siedler*innen sollen als doppelte Staatsbürger*innen bleiben | |
dürfen. | |
Zwei souveräne Länder mit Minderheiten der jeweils anderen Ethnie, die ihre | |
historische und kulturelle Bindung zum gesamten Gebiet anerkennen und in | |
Frieden leben. Zwei Länder, die die Menschenrechtsverletzungen und Gewalt | |
der letzten 75 Jahre auf beiden Seiten zugeben und auf Augenhöhe | |
aufarbeiten. Eine Art Amnestie. „Kein Unrecht rechtfertigt anderes | |
Unrecht“, betont Piekarsh immer wieder, während im Hintergrund | |
melancholische israelische Poplieder aus dem Einkaufszentrum schallen. | |
Man könnte Piekarsh als Idealisten abtun, der an unrealisierbaren Träumen | |
hängt, davon wimmelt es ja bekanntlich in Konflikten. Doch seine Vision ist | |
ziemlich konkret. In einem 20-minütigen Video auf der Webseite des Vereins | |
erklärt er, der 2005 selbst als Soldat in Gaza war und jetzt in einer | |
Siedlung von Gusch Etzion lebt, wie die Zukunft des Heiligen Landes | |
aussehen könnte. Es werden Hindernisse, Lösungen, Kompromisse, Pro und | |
Contra skizziert. | |
Piekarsh komme eigentlich aus einem konservativen Umfeld. Die Erfahrung als | |
Soldat in Gaza habe seine Sicht auf die Lage der israelischen und | |
palästinensischen Gesellschaft jedoch verändert, sagt er. Die | |
Zerstrittenheit der israelischen Gesellschaft, in der säkulare und | |
religiöse Israelis selten auf einen gemeinsamen Nenner kommen, das Leid der | |
palästinensischen Bevölkerung: Die Komplexität des Terrors in dem Gebiet. | |
Piekarsh hat bereits Treffen organisiert zwischen linken und konservativen | |
Israelis und zwischen Siedler*innen und Palästinenser*innen, um sie von | |
seinen Ideen zu überzeugen. Im Gespräch ist ihm wichtig, dass die Vision | |
des Vereins gänzlich wiedergeben wird. „Was die Hamas tat, hat nichts mit | |
der israelischen Besatzung zu tun“, schickt er gleich zu Beginn vorweg. Und | |
nach dem grauenhaften Angriff habe Israel „das Recht und die Pflicht, | |
Israelis zu verteidigen. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Glauben an | |
Menschenrechte aufgeben sollten. Israel sollte Verantwortung übernehmen für | |
die Menschenrechte von unbeteiligten Palästinenser*innen in Gaza.“ | |
Er holt einen Kugelschreiber heraus und zeichnet auf ein Stück Papier eine | |
Zeitachse. Dazu Sternchen als Ziele für die Zukunft des Westjordanlandes: | |
Die Teilungspläne mit einem getrennten Jerusalem als Hauptstadt beider | |
Länder sind nicht neu, sie entsprechen der [4][Zweistaatenlösung]. Hinzu | |
kommt die Idee zweier Minderheiten mit doppelter Staatsangehörigkeit und | |
das Rückkehrrecht palästinensischer Geflüchteter, solange die jüdische | |
Mehrheit in Israel bestehen bleibt. Israelische Truppen dürfen unter | |
internationaler Beobachtung auf palästinensischem Boden stationiert sein | |
und nur bei drohender Gefahr für Israelis eingreifen. | |
Dass dies für die Palästinenser*innen ein Problem sein könnte, weiß | |
Piekarsh. Auch, dass anderseits die Angst vor einem demografischen | |
Übergewicht der Palästinenser*innen in der israelischen Gesellschaft | |
herumgeistert. „Unsere Lösung ist nicht perfekt. Beide Seiten werden | |
Risiken in Kauf nehmen müssen. Denn die jetzige Lage ist die riskanteste. | |
Wir, die jüdische Seite, stehen unter einer totalen Bedrohung. Plus, es | |
gibt eigentlich keine ‚neuen‘ Risiken in unserem Vorschlag.“ | |
Piekarshs Ziele sind nicht selbstlos. Die Vision des Vereins würde den | |
Siedler*innen erlauben, unter israelischem Schutz im Westjordanland zu | |
bleiben. Dieser Punkt war bei Friedensverhandlungen schon immer kontrovers. | |
Ob und unter welchen Bedingungen die Palästinenser*innen dies | |
akzeptieren könnten, ist fraglich. Die Siedlungen im Westjordanland und in | |
Ostjerusalem stehen auf von Israel völkerrechtswidrig besetztem Land, nach | |
internationalem Recht sind sie illegal. | |
Entstanden nach dem Sechstagekrieg 1967, als Israel das Westjordanland und | |
den Gazastreifen besetzte, sollten sie vor allem die Sicherheit Israels | |
stärken und dem Land bessere Karten bei Verhandlungen sichern. Heute | |
bestehen sie aus „tatsächlichen“ Siedlungen, meistens kleinen Dörfern mit | |
gleich aussehenden Häusern, Schulen und Geschäften, und „wilden“ | |
Außenposten als ohne Erlaubnis errichteten Gemeinschaften, in denen oft | |
radikaler eingestellte Siedler*innen leben. Diese sind sogar unter | |
israelischem Recht illegal, auch wenn die Regierung in den vergangenen | |
Jahren immer mehr ihnen legalisiert hat. | |
Etwa 700.000 Siedler*innen in 279 Siedlungen leben nach Angaben der | |
Vereinten Nationen im Westjordanland und Ostjerusalem. Laut der | |
US-amerikanischen NGO Israel Policy Forum sind sie jeweils zu einem Drittel | |
Ultraorthodoxe, religiöse Nationalist*innen sowie Nicht-Religiöse. | |
Einige wollen jenseits der sogenannten Grünen Linie wohnen, der | |
Waffenstillstandslinie von 1949, weil sie das Westjordanland als | |
israelischen Boden ansehen. Andere, weil die Häuser günstiger sind und | |
teils von Israel, das die Hälfte der Siedlungen als rechtmäßig betrachtet, | |
subventioniert werden. Die aktuelle Regierung will die Siedlungen sogar | |
ausbauen. Bereits im Februar gab die Koalition unter Premierminister | |
Benjamin Netanjahu bekannt, [5][10.000 neue Wohneinheiten genehmigen zu | |
wollen]. | |
Itamar Ben-Gvir, Minister für die Sicherheit Israels und selbst Siedler, | |
tat laut Medienberichten Gewalt von Israelis als Vandalismus ab und | |
kündigte an, [6][10.000 Gewehre an zivile Einsatzkräfte verteilen zu | |
wollen], unter anderem an Siedler*innen. Finanzminister Smotrich, ebenfalls | |
Siedler, hatte für „No-go-Zonen“ rund um die Siedlungen plädiert, was die | |
Palästinenser*innen an der dortigen Olivenernte hindern würden. | |
Die UN haben die Siedlungen als Hindernis auf dem Weg zu einem dauerhaften | |
Frieden bezeichnet. Je mehr israelische Dörfer auf besetztem Land | |
entstehen, desto schwieriger wird es für die Palästinenser*innen, einen | |
eigenen Staat zu gründen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty | |
International beklagen, dass die Siedlungspolitik Israels die Rechte | |
Tausender Palästinenser*innen durch Landenteignung, Kontrolle der | |
Ressourcen und Bewegungseinschränkungen verletzt. | |
Das alles will Piekarsh nicht bestreiten. „Ich glaube, dass die Siedlungen | |
in ihrer jetzigen Form illegal nach internationalem Recht und Teil eines | |
Besatzungssystems sind“, betont er. „Aber sie haben ebenso ein großes | |
Potenzial für Versöhnung in einer Zweistaatenlösung.“ Der 39-Jährige läu… | |
in schwarzem T-Shirt über dem Parkplatz und zeigt auf eine Gruppe Häuser | |
auf den Hügeln. „Dieses palästinensische Dorf ist ein Flüchtlingscamp von | |
1948. Viele, glaube ich, kommen aus den heutigen Kiryat Gat und Kiryat | |
Malakhi in Südisrael. Die meisten Israelis hier wissen das nicht. Niemand | |
hat es ihnen gesagt. Und ich weiß nicht, ob Palästinenser*innen vom | |
Massaker an Juden in Hebron 1929 wissen. Aber wir können das ändern“, sagt | |
er. In seiner Stimme schwingt eine unerschütterliche Zuversicht mit. | |
Folgt man vom Parkplatz aus einen Schotterweg zwischen Feldern und | |
Brachflächen, erreicht man nach weniger als einem Kilometer eine kleine | |
Farm, die von einer weißen Steinmauer eingegrenzt wird. Jenseits der Mauer | |
sitzt Khaled Abu Awwad auf einer Holzbank und unterhält sich mit zwei | |
Männern. Auf dem Tisch vor ihm liegen reife, helle Weintrauben auf einem | |
Teller, hinter ihm ragen Obstbäume in die Luft. Ein Hund heult in der | |
Entfernung. Hühner gackern in ihrem Stall, eine kleine Katze schleicht sich | |
im Schatten zwischen den Beinen der Männer herum. | |
Abu Awwad, Mitglied der Familie des berühmten palästinensischen | |
Friedensaktivisten Ali Abu Awwad, sagt: „Wir versuchen, einen Weg zu | |
finden, um die Lage zu beruhigen“. Er sieht müde und etwas traurig aus. Er | |
kennt Piekarsh schon seit einigen Jahren, sie schätzen sich gegenseitig. | |
Abu Awwad ist der palästinensische Manager des Vereins Roots. 2014 | |
gemeinsam von Siedler*innen und Palästinenser*innen gegründet, | |
setzen sich seine Mitglieder für ein friedliches Zusammenleben ein. Sie | |
haben im Gegensatz zu Anahnu keine politische Vision, und wollen auch gar | |
keine haben. | |
Ihr Ziel ist ein anderes: dass sich die Menschen näher kommen, dass sie | |
sich überhaupt erst mal kennenlernen, diese Nachbarn, die sich | |
jahrzehntelang nicht gesehen und gekannt haben. Dass das nicht leicht ist | |
und es sehr viel Misstrauen gibt, gerade jetzt, das weiß Abu Awwad. | |
Trotzdem gibt er die Hoffnung nicht so leicht auf. | |
Würde, Respekt, Zusammenleben, Glück. Auch Abu Awwad hat Wörter, die er | |
wiederholt. „Bevor wir Lösungen auf den Tisch bringen, sollten wir die | |
Menschen darauf vorbereiten, einander zu akzeptieren.“ Dies sei der erste | |
Schritt auf dem Weg zum Frieden im Heiligen Land. Denn heilig sei dort das | |
Leben noch mehr als das Land. Das sagt Abu Awwad und es könnte wie bloße | |
Parole klingen, doch wer mit ihm redet, versteht, dass er es ernst meint. | |
„Wenn du jemanden tötest, tötest du die gesamte Menschheit. Und wenn du | |
jemanden rettest, rettest du die gesamte Menschheit“, zitiert er aus dem | |
Koran. | |
Abu Awwad lehnt sich zurück auf ein Kissen mit arabischen Mustern. Er | |
erklärt, wie sich Juden und Muslime oft gegenseitig missverstehen, wie sie | |
sich misstrauen, wie dies jeden Versuch einer Lösung, eines Friedens | |
untergräbt. Dann reicht er den Gästen den Teller mit den Weintrauben. | |
Auf der palästinensischen Farm, vor dieser friedlichen, nahezu idyllischen | |
Kulisse, trafen sich früher Israelis, Palästinenser*innen und | |
Ausländer*innen, um Diskussionen zu führen, zu Foto-Workshops oder | |
Sprachkursen. Jung und Alt, Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen. | |
Inspirierend war das, und herausfordernd, sagen die Veranstalter. Es war | |
Hoffnung. Vor dem Krieg. | |
Mit Beginn des Kriegs ist es schlagartig still geworden auf der Farm. Keine | |
Jugendlichen mit Kippas und Schleiern, die Lebensgeschichten austauschen. | |
Keine Kinder, deren Sprachen unterschiedlich klingen, die miteinander | |
spielen. Keine Nachbarn, die sich nach Jahrzehnten endlich kennenlernen. Es | |
sei für viele Palästinenser*innen wegen der Bewegungseinschränkungen | |
nicht mehr möglich, ihre Dörfer zu verlassen, erklärt Rabbiner Hanan | |
Schlesinger, Mitgründer von Roots am Telefon. Und selbst wer könnte, auf | |
beiden Seiten, habe davor große Angst. | |
„Keine Seite ist bereit, das auszusprechen, was die andere Seite hören | |
will.“ Palästinenser*innen verurteilten die Hamas-Attacke, jedoch | |
immer mit Verweis auf die Besatzung, was Israelis als eine schwache | |
Verurteilung deuten würden. Palästinenser*innen möchten hören, dass | |
Israelis die Bomben auf Gaza verurteilen und für Waffenstillstand | |
plädieren, doch die meisten Israelis könnten das nicht, weil sie sich durch | |
die Hamas existentiell bedroht fühlten. „Niemand würde jetzt zu einem | |
gemeinsamen Treffen kommen“, fasst Schlesinger zusammen. | |
Dabei ist genau das der Leitgedanke des Vereins: dass sich scheinbar | |
unversöhnliche Perspektiven näher kommen, dass sich parallele Narrative | |
kreuzen und fremde Welten berühren, wenn auch nur für einen flüchtigen | |
Augenblick. Israelis und Palästinenser*innen lebten in der Westbank | |
in komplett verschiedenen Welten, sagt Schlesinger. „Wir haben | |
unterschiedliche Rechtssysteme, unterschiedliche Dörfer, unterschiedliche | |
Verkehrswesen, haben eine andere Sprache und Religion, das Kalendersystem | |
ist anders, die Schulen sind anders, alles ist getrennt“, listet er auf. | |
„Wir wissen nichts voneinander.“ Für die Juden sei es so, als ob die | |
Palästinenser*innen nicht existierten. Die Dörfer der anderen seien, | |
metaphorisch gesehen, „unsichtbar“. | |
## Zwei Welten nebeneinander | |
Obwohl nur einen Katzensprung voneinander entfernt, unterscheidet sich das | |
Leben unter Besatzung gänzlich von dem in den bewachten Siedlungen. | |
Schlesinger nahm an einem Treffen zwischen Palästinenser*innen und | |
Israelis teil, redete zum ersten Mal in seinem Leben mit einem | |
Palästinenser. Und merkte zum ersten Mal, dass er eigentlich überhaupt | |
keine Ahnung hatte. Verunsichert, herausgefordert fühlte er sich. „Alles, | |
was sie über uns denken, widerspricht dem, was wir über uns selbst wissen. | |
Und umgekehrt.“ Es gab dann noch mehr Treffen, später war daraus Roots | |
geboren. | |
Schlesingers Stimme klingt am Telefon engagiert und ruhig zugleich. Zur | |
Zeit des Gesprächs ist er in einer Siedlung, nur einige Hundert Meter vom | |
Einkaufszentrum sowie Abu Awwads Farm entfernt. Die Spannung, die manche | |
Israelis und Palästinenser*innen mit Argwohn auf Initiativen wie | |
Roots blicken lässt, macht auch vor den Feldern und Dörfern rund um die | |
Farm nicht Halt. Angst vor weiteren Terrorangriffen auf der einen Seite, | |
Angst vor Sicherheitsmaßnahmen, die auch unschuldige | |
Palästinenser*innen treffen, auf der anderen Seite. | |
„Wir tun, was wir können“, sagt Schlesinger resigniert. Der Verein | |
veröffentlicht Appelle gegen Online-Hetze, fordert in Gesprächen mit | |
Rabbinern, dass sie sich öffentlich gegen Gewalt äußern, organisiert | |
Zoom-Meetings über das Stiften von Frieden in Zeiten des Krieges. Damit es | |
irgendwann wieder normal wird, dass sich Palästinenser*innen und | |
Israelis im Supermarkt unterhalten. | |
Initiativen wie Roots und Anahnu sind noch überschaubare | |
Graswurzelbewegungen. 500 Adressen zählt der Mailverteiler von Anahnu. | |
Nicht jeder blickt mit Begeisterung auf Projekte, die einen Austausch | |
zwischen den Israelis und Palästinenser*innen fördern. Als | |
Schlesinger und seine Mitstreiter*innen ein Summercamp für jüdische und | |
palästinensische Jugendliche organisieren wollten, seien einige | |
Siedler*innen zum örtlichen Rabbiner gegangen, um sich zu beschweren. | |
Groß sei die Angst gewesen, man wolle interreligiöse Ehen und Assimilation | |
fördern, erzählt der 66-Jährige. Als der Geistliche das Summercamp besuchte | |
und mit den Menschen redete, sei dann jedes Misstrauen verflogen. | |
Doch was die Zukunft für den Verein und das Land bereithält, das weiß | |
Schlesinger auch nicht. „Ich habe buchstäblich keine Ahnung. Aber trotzdem | |
weiß ich, dass Israelis und Palästinenser*innen am Ende in Frieden | |
leben werden“, sagt er. Egal, ob dafür fünf, fünfzig oder fünfhundert Jah… | |
nötig seien werden. | |
8 Jan 2024 | |
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