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# taz.de -- Taten, die fassungslos machen: Was uns den Atem raubt
> Der 7. Oktober 2023, der Fall Pelicot und Magdeburg: Warum das
> vermeintlich Unmenschliche eben doch etwas sehr Menschliches ist.
Es gibt Gewalthandlungen, die uns empören, sobald wir ihrer gewahr werden.
Und es gibt Gewalthandlungen, die so verstörend sind, dass sie unser
Menschenbild radikal infrage stellen. Eine verbreitete Reaktion auf solche
Erfahrungen besteht darin, sie zu verdrängen, sie sich gleichsam vom Leib
zu halten. Das geschieht etwa dadurch, dass wir die Täter:innen
symbolisch aus dem Kreis der Menschen ausschließen. Wir sprechen dann von
Unmenschlichkeit und geben damit unseren tief empfundenen Abscheu zu
erkennen.
Die Frage, wie Menschen zu derartigen Gewalthandlungen überhaupt fähig
sind, ist nicht neu. Sie wurde auch nicht erst am [1][7. Oktober 2023]
laut, aber damals mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Die Massaker der
Hamas waren von einer solchen Grausamkeit – lange vorbereitet, präzise
eingeübt und medial orchestriert –, dass vielen die Worte fehlten, um ihrem
Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Schon bald wurden die Verbrechen
„monströs„genannt – als wären sie von Monstern begangen worden und nicht
von Menschen.
Zu ähnlichen Reaktionen kam es, als im Sommer 2024 in Avignon der
[2][Prozess gegen Dominique Pelicot] und 50 weitere Angeklagte eröffnet
wurde. Die Tatsache, dass ein Mann seine Ehefrau über zehn Jahre hinweg
nicht nur regelmäßig betäubte und vergewaltigte, sondern sie auch noch über
eine Plattform anderen Männern dazu anbot und diese dabei filmte, ließ
viele fassungslos zurück.
Es waren Männer aus der Nachbarschaft, Vertreter aller Berufsgruppen,
Angehörige unterschiedlicher Milieus, Gebildete und weniger Gebildete –
solche, die man gemeinhin „ganz normale Männer“ nennt. Wie lässt sich
dieses Verbrechen verstehen, wenn man es sich verbietet, die Täter zu
dämonisieren, wie es die Boulevardpresse tat, die von „Bestien“ und
„Teufeln“ sprach?
## Was bleibt, ist das nicht ‚verstehen‘
Wenige Tage nach Abschluss des Prozesses lenkte Taleb al-Abdulmohsen einen
SUV in den Weihnachtsmarkt von [3][Magdeburg]. Das Entsetzen über die
Amokfahrt wurde noch größer, als bekannt wurde, dass der Täter als Arzt
arbeitete. Anders als rasch von Rechtsextremist:innen verbreitet, ist
er kein Islamist, sondern ein Islamkritiker, der sich in den letzten Jahren
politisch radikalisiert und Kontakt zur AfD sowie der Identitären Bewegung
gesucht hat.
Auch diese Tat geschah nicht im Affekt. Und ließ ebenfalls viele
fassungslos zurück. So schrieb [4][Kurt Kister in der Süddeutschen
Zeitung:] „Was aber bleibt, ist die Empfindung, dass man nicht ‚verstehen‘
kann, wie jemand am Steuer eines Autos auf einem Weihnachtsmarkt mit
Absicht Menschen überfährt, weil er ein ‚Zeichen‘ setzen will.“
Mit Phänomenen dieser Art hatte sich auch schon Helmuth Plessner befasst.
Der Philosoph, der den Nationalsozialisten als „Halbjude“ galt und 1952 aus
dem Exil zurückkehrte, zeigte sich in seiner Antrittsvorlesung an der
Universität Göttingen als scharfsinniger Beobachter des Zeitgeschehens. Er
musste in seinem Vortrag „Über Menschenverachtung“ den Nationalsozialismus
nicht namentlich erwähnen: Alle Anwesenden wussten, wovon die Rede war, als
er von „Menschenhass“ und Ideologien der „Minderwertigkeit“ sprach.
An diese Überlegungen knüpfte er an, als er 1967 über „Das Problem der
Unmenschlichkeit“ referierte. Schon die ersten Sätze ließen aufhorchen:
„Mit den Worten Unmensch und unmenschlich sollte man sparsam sein.“ Nicht
allein mit der Schoah konfrontiert, sondern auch mit den grausamen
Befunden, die Historiker:innen und Ethnolog:innen zusammengetragen
hatten, sah auch er sich der Frage gegenüber, die uns gegenwärtig umtreibt:
Wie ist es zu erklären, dass Menschen zu solchen Verbrechen überhaupt fähig
sind – zu Massakern, Vergewaltigungen, Amokläufen? Anders formuliert: Wie
müssen wir den Blick auf unsere Spezies justieren, wenn wir nicht länger
die Augen vor diesen Tatsachen verschließen wollen?
## Das Menschenleben ist ein Drahtseilakt
Plessners Antwort darauf lautet: Wir müssen die besondere Situiertheit des
Menschen berücksichtigen und die eigentümliche „Gebrochenheit“, die daraus
resultiert. Im Unterschied zu Tieren sind wir nicht auf einen Lebenskreis
beschränkt. Menschen verfügen über keinerlei Zentrum. Wir sind dazu
gezwungen, unser Leben ohne den Schutz tierischer Instinkte zu führen.
Diese besondere Existenzform nennt Plessner „exzentrische Positionalizät“.
Wir verfügen über große Freiheiten, müssen dabei allerdings ohne
Absicherungen auskommen. Kurz: Als Mensch sein Leben zu führen gleicht
einem Drahtseilakt.
Am Beispiel des Theaters hat Plessner dies erläutert: Beobachten wir die
Schauspieler:innen auf der Bühne, werfen wir einen Blick auf den Grund
unserer Existenz. Wir Menschen sind nicht zur „Authentizität“ verdammt und
können in die Haut einer Figur schlüpfen. Der Schauspieler „ist sein
eigenes Mittel, d. h. er spaltet sich in sich selbst, bleibt aber, um im
Bilde zu bleiben, diesseits des Spalts, hinter der Figur, die er
verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der
Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muss mit der Kontrolle über
die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren.“
Das Vermögen, auf Distanz zu sich selbst gehen zu können, ist Segen und
Fluch zugleich. Es bedeutet, dass wir von unseren Interessen abstrahieren
und diese zurückstellen können. Wir können uns anderer annehmen, uns für
Leid und Elend empfänglich erweisen, können uns solidarisch zeigen. Allein
– das ist kein Automatismus. Nur eine Fähigkeit. Allzu häufig ignorieren
wir die Bedürfnisse anderer oder manipulieren sie. Denn wer eine Rolle zu
spielen vermag, kann dieses Vermögen auch strategisch einsetzen. Er kann
sein Gegenüber täuschen und betrügen. Wer sich verstellen kann, so
Plessner, dem werden „Lüge und Heimtücke zu Instrumenten“.
Damit wird nun auch deutlich, dass jene Grausamkeiten, die uns den Atem
stocken lassen, gerade nicht das „Unmenschliche“ markieren, sondern auf den
Menschen selbst verweisen. Dazu Plessner: „Nur der Mensch kennt kein Maß,
nur er wird das Opfer seiner Träume und seiner Konsequenzen. Maßlosigkeit
ist das Stigma des Menschen, weil ihm die schützende Führung der Instinkte
fehlt.“
## Suche ins Leere
Im Unterschied zu Tieren ist der Mensch also nicht davor gefeit, sich in
phantasmatische Vorstellungen hineinzusteigern und Ideologien der
Ungleichwertigkeit zu entwickeln. Wir allein operieren mit der
Unterscheidung in „wertvolles“ und „unwertes“ Leben. Dies, so Plessner,
lehre auch der Blick in die Geschichte: „Unmenschlichkeit ist an keine
Epoche gebunden und an keine geschichtliche Größe, sondern eine mit dem
Menschen gegebene Möglichkeit, sich und seinesgleichen zu negieren.“
Reiner Haseloff, dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, ist daher
zuzustimmen, als er in Magdeburg von einer „menschenverachtenden Tat“
sprach. Wir Menschen können uns gegen uns selbst wenden, können die
Interessen anderer mit Füßen treten, sie manipulieren und
instrumentalisieren; wir können die Verletzlichkeit, die uns alle
kennzeichnet, ausnutzen, Gewalt systematisch einsetzen und uns zum Richter
über andere aufschwingen.
Wirft man nun einen Blick auf die unterschiedlichen Gruppen von Tätern, ist
vielleicht am verstörendsten die Einsicht, dass die Suche nach gemeinsamen
Persönlichkeitsmerkmalen häufig ins Leere läuft. Für die Terroristen der
Hamas lässt sich das noch am einfachsten beantworten: Sie folgten einer
Ideologie der Ungleichwertigkeit mit jener tödlichen Konsequenz, die schon
Plessner herausgestellt hatte. Anders als die Situation in Magdeburg, die
noch kein klares Bild erkennen lässt, ist die Sachlage in Avignon.
Hier wurden Männer verurteilt, deren Biografien – soweit man das weiß –
keine charakteristischen Verwerfungen aufweisen. Manche von ihnen waren als
Kinder selbst Opfer sexualisierter Gewalt. Aber daraus folgt kein
Wiederholungszwang. Gemeinsam ist ihnen einzig, dass sie sich ermächtigt
fühlten, eine wehrlose, betäubte Frau zu vergewaltigen. Wie lässt sich
damit leben?
## Abscheu ist das Fundament unserer Zivilisation
Zunächst ist daran zu erinnern, dass Täter kaum einmal isoliert handeln,
dass sie ihre Handlungen oft genug für gerechtfertigt halten und keinerlei
Reue erkennen lassen. Das war auch beim Prozess in Avignon zu beobachten.
Viele Angeklagte zeigten den Frauen dort während der Verhandlungen
unverhüllt ihre Verachtung. Hier trat uns, so Bernd Ulrich in der Zeit,
[5][das „Patriarchat in Reinform und in voller Größe“] gegenüber.
Es gilt daher jene überkommenen Strukturen vollständig aufzudecken.
Sexismus und Misogynie sind nur eine Spielart solcher Ideologien der
Ungleichwertigkeit. Diese gilt es noch genauer zu erforschen – und mit der
notwendigen Beharrlichkeit zu bekämpfen. Wie das geschehen kann, hat
[6][Lea Fauth jüngst in einem Beitrag für die taz] skizziert.
Nicht weniger wichtig als diese intellektuelle und politische Arbeit sind
Akte der Selbstverpflichtung. Daran erinnerte Jan Philipp Reemtsma just in
Magdeburg, als er im vergangenen Jahr über den 20. Mai 1631 sprach, den
„blutigsten Tag des dreißigjährigen Mordens“. Er rückte den Abscheu in d…
Zentrum seines Vortrags und stellte den immensen zivilisatorischen
Fortschritt heraus, den dieser bedeute. Hervorgegangen aus dem Ringen, auf
die Gewaltexzesse des 17. Jahrhunderts eine Antwort zu finden, führe der
Abscheu dazu, dass sich der Einsatz von Gewalt seither legitimieren müsse.
Menschheitsgeschichtlich sei dies kaum zu überschätzen: „Zivilisation“ ist
„Selbstbindung“. Die Gefühle von „Abscheu und Ekel“ – also genau das…
viele im Gerichtssaal von Avignon empfanden, als sie auf die Täter blickten
– zählten daher zum „Kostbarsten, was wir haben“. Der Abscheu ist, so
Reemtsma, nichts weniger als „das Fundament unserer zivilisatorischen
Sittlichkeit. Verlieren wir ihn, verlieren wir uns.“
12 Jan 2025
## LINKS
[1] /7-Oktober--ein-Jahr-danach/!6034819
[2] /Pelicot-Prozess/!t6057825
[3] /Magdeburg/!t5024667
[4] https://www.sueddeutsche.de/meinung/weihnachten-anschlag-magdeburg-hoffnung…
[5] https://www.zeit.de/2024/54/gisele-pelicot-vergewaltigung-gerichtsverfahren…
[6] /Pelicot-Prozess-und-Rape-Culture/!6054069
## AUTOREN
Markus Rieger-Ladich
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Anschlag in Magdeburg
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Anschlag in Magdeburg
Charlie Hebdo
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