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# taz.de -- Leben mit Psychose: Zwischen Wahn und Sinn
> Zwei der drei Brüder unseres Autors sind schizophren. Gemeinsam mit
> seiner Familie beschreibt er, was die Erkrankungen für das Miteinander
> bedeuten.
Bild: Vier Brüder am Ort ihrer Kindheit
Es war im Spätsommer 2009, als ich merkte, dass mit meinem großen Bruder
etwas nicht stimmte. Jörn war zu der Zeit gerade im westafrikanischen
Burkina Faso, wo er nach seinem Abitur ein Freiwilligenjahr absolvierte.
Eines Tages rief seine Betreuerin an, ich reichte das Telefon meiner Mutter
weiter. Die Betreuerin erzählte ihr, dass Jörn sich komisch verhalte. „Ich
konnte damit erst mal nicht viel anfangen“, erinnert sich meine Mutter.
„Ich dachte, der ist vielleicht ein bisschen gestresst von der Situation.“
Ein Krankentransport flog Jörn zurück nach Deutschland, wo meine Eltern ihn
vom Flughafen abholten. „Ich war mir eigentlich sicher, wir würden Jörn
wieder mit nach Hause nehmen, egal was ist“, sagt meine Mutter. „Aber als
ich ihn am Flughafen gesehen habe, war mir klar, dass das nicht passieren
würde.“
Mein Bruder wurde im Rollstuhl geschoben, weil man ihn vor dem Flug mit
Betäubungsmitteln ruhiggestellt hatte. Bald aber war er wieder auf den
Beinen und lief auf dem Weg zum Arzt andauernd um Laternenpfähle herum,
redete wirre Sätze. In der Arztpraxis fiel dann zum ersten Mal das Wort:
„Psychose“.
Einige Wochen später nahm mich meine Mutter mit in die Psychiatrie. Ich war
damals gerade dreizehn Jahre alt, sieben Jahre jünger als Jörn. Ich
erkannte meinen Bruder kaum wieder. Als er nach Burkina Faso gegangen war,
hatte Jörn seine blonden Haare kurz gescheitelt getragen. Jetzt hingen sie
zottelig herab.
Weil die Manie ihn zur Bewegung drängte und er unregelmäßig aß, war sein
Körper abgemagert, das Gesicht eingefallen. Mein Bruder sprach sinnentleert
von der Gaia-Theorie, nach der unsere Erde ein riesiger lebendiger
Organismus sei, und proklamierte, wahrheitsgemäß: „Ich bin nicht Gott!“
Psychosen gelten in der Fachwelt als Krankheitsepisoden, in denen sich die
Wahrnehmung verschiebt: Betroffene entwickeln Wahnvorstellungen,
halluzinieren – etwa indem sie Stimmen hören –, ziehen sich aber auch
sozial zurück und werden antriebslos. Wenn diese Symptome fortdauern oder
periodisch zurückkehren, sprechen Ärzte von einer Schizophrenie.
Den Begriff [1][prägte der Schweizer Psychiater] Eugen Bleuler Anfang des
20. Jahrhunderts. Er kombinierte dafür die altgriechischen Begriffe
s’chizein („spalten, zersplittern“), und phrēn („Geist“ oder auch
„Zwerchfell“ – dort vermuteten die alten Griechen den Sitz der Seele).
## Die erste Behandlung
Die Ärzte behandelten Jörn mit Neuroleptika – Medikamente, die die
Dopamin- und Serotoninrezeptoren im Gehirn blockieren: Eine gesteigerte
Ausschüttung des „Glückshormons“ Dopamin steht im Verdacht, die Wahnideen
auszulösen. Zunächst bekam mein Bruder Haloperidol, ein Neuroleptikum der
„ersten Generation“, das teils heftige Nebenwirkungen mit sich bringt. Bei
Jörn lähmte das Medikament seine Muskeln, weshalb er kaum noch sprechen
konnte. Besser reagierte er auf Olanzapin, das seit knapp 30 Jahren auf dem
Markt ist und weniger unerwünschte Begleiterscheinungen hat.
Das Olanzapin ließ Jörns Wahn bald schwinden. Er kam wieder nach Hause,
ruhte sich aus und begann im folgenden Jahr sein Studium. Mit der richtigen
Einstellung seiner Medikamente beeinträchtigt Jörn die Schizophrenie im
Alltag nicht, er kann ein normales Leben führen. Nur ganz selten ist er
seitdem in psychotische Episoden abgerutscht, aus denen er schnell wieder
herauskam.
Mit Jörns Erkrankung sollte unsere Familie das erste Mal mit Schizophrenie
in Kontakt kommen – eine prägende Erfahrung. Angesichts seines guten
Krankheitsverlaufs wäre die Episode wahrscheinlich nur ein Kapitel in
unserer Familiengeschichte geblieben und dieser Text in dieser Form niemals
entstanden, hätte uns die Krankheit nicht viele Jahre später erneut
heimgesucht. Und uns gezeigt, dass eine Schizophrenie ein Leben auch völlig
durcheinanderwerfen kann.
Über andere psychische Krankheiten wie etwa Depressionen spricht unsere
Gesellschaft inzwischen längst offener. Bei Schizophrenie aber bleibt das
Unverständnis groß: In den Medien taucht die Krankheit oft in Verbindung
mit Gewaltverbrechen auf. Auch radikal widersprüchliche Haltungen werden
metaphorisch als „schizophren“ bezeichnet. Entgegen dem Klischee haben
Erkrankte mit „zersplitterter Seele“ aber gar keine gespaltene
Persönlichkeit – ihr Gehirn spielt ihnen vielmehr eine andere Wirklichkeit
vor.
Dass es für Außenstehende schwierig ist, einen Zugang zu diesen wahnhaften
Parallelrealitäten zu bekommen, ist verständlich. Und genau hier möchte ich
mit meiner Familiengeschichte ansetzen: Vielleicht können unsere
Erfahrungen anderen helfen, Schizophrenie in ihrer Komplexität und Vielfalt
besser zu verstehen.
Um die Ereignisse zu rekonstruieren, habe ich viel mit meinen Eltern und
meinen drei Brüdern gesprochen. Sie alle tauchen hier mit ihren eigenen
Worten und Perspektiven auf, nicht aber unter ihrem echten Namen. Weil
Schizophrenie nach wie vor mit einem starken Stigma behaftet ist, heißen
sie für den Text anders – und auch ich selbst schreibe unter einem
Pseudonym.
## Eine Kleinstadt in Niedersachsen
Aufgewachsen sind Jörn, meine zwei jüngeren Brüder und ich in einer
Kleinstadt in Niedersachsen. Von zerrütteten Familienverhältnissen und
traumatisierten Kindheiten, die anderswo in Verdacht stehen, psychische
Krankheiten zu begünstigen, waren wir weit entfernt. Als Kinder spielten
wir viel auf einem kleinen Hof am Rande der Stadt, wo meine Eltern einige
Tiere hielten: Hühner, Schafe, auch Pferde.
Das Milieu war nicht übermäßig konservativ, aber doch spießig. Ein Bild, in
das unsere Eltern nicht so richtig passten. Kleinstadt und Natur, das
gefiel ihnen – aber als eher links und alternativ Gesinnte konnten und
wollten sie in dem kleinbürgerlichen Milieu keine tiefen Wurzeln schlagen.
So lag ihr Fokus vor allem auf der Familie: Wir Kinder sollten uns nach
unseren eigenen Möglichkeiten entwickeln und entfalten.
Als Kleinkind war ich meinem anderthalb Jahre jüngeren Bruder Merlin sehr
nahe. Er war ein ruhiges Kind und auch als Jugendlicher eher in sich
gekehrt, mit einem Hang zur Melancholie. Merlin „haderte mit der Welt“, wie
meine Mutter es ausdrückt. Schaukelten wir anderen Brüder uns gegenseitig
hoch, konnte sich Merlin durchaus mitreißen lassen. Doch oftmals saß er
einfach leise da, hörte zu, beobachtete. Und keiner wusste, was er sich
hinter seinem verschmitzten Lächeln gerade dachte.
Die innige Beziehung zwischen Merlin und mir war aber nicht von Dauer.
Irgendwann entwickelte sich bei mir ein Konkurrenzding. Mein Vater meint,
es hätte begonnen, als Merlin zwei Jahre nach mir eingeschult wurde. Ich
erinnere mich, dass es mich foppte, dass er immer ein bisschen besser im
Fußball war.
Mit kindlicher Unerbittlichkeit begann ich, ihn zu ärgern, verbündete mich
dafür mit meinem jüngsten Bruder. Mal sehen, wie weit ich es treiben kann.
Später, als wir schon Teenager waren, reagierte Merlin endlich auf meine
Provokationen, schrie mich an und wurde handgreiflich. Da war sie also, die
Grenze, die ich gesucht hatte. Anstelle offener Antipathie herrschte nun
frostiges Schweigen.
Obwohl wir nicht mehr miteinander konnten, stellten Merlin und ich beide
fest, dass uns die niedersächsische Provinz nicht nur räumlich, sondern
auch geistig einengte. Wir mussten raus, wollten zum Studium beide nach
Berlin. So luden wir im Herbst 2016 unsere Sachen in einen Anhänger und
fuhren mit meiner Mutter gen Osten.
Merlin begann Jura zu studieren und zog in eine Wohnung im Norden, ich in
den Süden Berlins. Mit meinem Studium und den alkoholgetränkten
Erstsemesterpartys fiel es mir leicht, den Bruder in der neuen Stadt zu
verdrängen. Er sollte sein Ding machen, ich machte meins. Da wir keinen
Kontakt hatten, fiel mir zunächst nicht auf, dass er sich Ende 2017 immer
mehr zurückzog. Aber das kann Merlin am besten selbst erzählen:
Der Umzug nach Berlin war für mich eine Dreifachbelastung: Vom Elternhaus
in die WG. Von der Kleinstadt in die Großstadt. Und von der Schule ins
Studium. All das hat mich überfordert, weshalb ich viel kiffte – und
begann, meine Struktur zu verlieren. Ich ging nicht mehr in die Uni,
sondern verbrachte meine Zeit damit, kleine Kunstwerke zu schaffen. Auch
distanzierte ich mich immer von meinem sozialen Umfeld und schlief zu
wenig.
Die Wahnideen näherten sich schleichend. Ich fing an zu glauben, dass
wildfremde Menschen persönliche Informationen über mich besitzen, dass um
mich herum ein „Medienphänomen“ existiert. In den sozialen Netzwerken
streuten Leute Andeutungen über mich ein, eine Art Zeichensprache. Jeder
noch so banale Gedanke, den User:innen dort äußerten, jedes Meme, das sie
teilten, hatte auf einmal einen Bezug zu mir. Am Anfang hat mich das stark
euphorisiert.
Gegenüber Freunden und Familie verheimlichte ich diese Ideen zunächst. Doch
irgendwann wurden mir die Andeutungen auf mich zu viel, ich konnte das
alles nicht mehr verarbeiten. Im Frühjahr 2018 brach ich psychisch komplett
zusammen.
Emotional überfordert von seinen Wahnvorstellungen griff Merlin zum Telefon
und rief meinen großen Bruder Jörn an. Seit dessen erster psychotischer
Episode in Burkina Faso waren mittlerweile fast zehn Jahre vergangen.
Damals war Jörn zwanzig gewesen, genauso alt wie Merlin, als sie nun
miteinander sprachen: Das Risiko, erstmalig an einer Psychose zu
erkranken, ist vom späten Teenageralter bis Mitte zwanzig am größten. Am
Telefon stellte Merlin schnell die Selbstdiagnose.
Zu dem Zeitpunkt war ich nicht überzeugt, psychotisch zu sein. Ich dachte,
ich müsste das sagen, weil ich mich meinem Umfeld gegenüber konform
verhalten muss. Ich hatte keine Einsicht, dass ich krank war.
Jörn war schockiert. Bis dahin hatte niemand in der Familie mitbekommen,
dass es Merlin so schlecht ging. „Ich habe auch Angst bekommen, weil ich ja
weiß, wie schlimm das ist, wenn man tief in eine Psychose reinrutscht“,
erinnert sich Jörn. Also ließ er alles liegen und fuhr nach Berlin, wo er
Merlin dann zunächst in ein Krankenhaus für Psychiatrie in Berlin-Weißensee
brachte.
Weil der aber im Aufnahmegespräch recht gefasst wirkte – ganz anders als
Jörn 2009 –, gaben ihm die Ärzte lediglich Medikamente und schickten ihn
wieder nach Hause in die WG. Von dort brachte Jörn ihn bald in die Heimat
zu meiner Mutter, die mittlerweile von meinem Vater getrennt lebte.
Als ich von Merlins Erkrankung hörte, verschwand plötzlich jedes
Überbleibsel von Feindseligkeit. Stattdessen begannen Zweifel an mir zu
nagen: Hatte ich mit meinem brüderlichen Mobbing womöglich selbst zu
Merlins Psychose beigetragen?
Ich war ein sensibles Kind. Der Bruch zwischen uns Brüdern war für mich
schrecklich. Vorher war unser Verhältnis ja immer sehr harmonisch. Dass es
dann so gekippt ist, hat mich aus allen Wolken gerissen.
Jetzt wollte ich helfen, wo ich konnte – und fühlte mich gleichzeitig
hilflos. Was tun, wenn der Bruder im eigenen Kopf gefangen ist? Ich wollte
also für ihn da sein, besonders als Merlin zwischenzeitlich zurück nach
Berlin kam. So verbrachten wir viele Abende zusammen und redeten oder
gingen gemeinsam auf Partys.
Dass Merlin und ich uns wieder näherkamen, hat es ermöglicht, dass wir
heute zusammen über unsere Erlebnisse schreiben. Die kursiven Passagen aus
seiner Sicht stammen aus von ihm verfassten Texten und unseren Gesprächen.
Ein Freund brachte mich vergangenes Jahr erstmals auf die Idee für den
Text. Ich erwähnte sie gegenüber Merlin, der damals zurück in Berlin in
psychiatrischer Behandlung war. Ihm gab das zunächst den Anstoß, seine
Krankheitsgeschichte selbst niederzuschreiben. Ich leitete den Text meinem
Redakteur weiter. Der war interessiert – legte mir aber nahe, selbst als
Autor dazuzukommen, um Merlins Erfahrungen einzubetten und zu übersetzen
zwischen seiner Realitätswahrnehmung und der unseren. Doch was würde Merlin
davon halten? Am Telefon berichtete ich ihm von der Idee.
„Soll das dann dein Text werden?“, entgegnete er etwas genervt.
„Nein, unserer.“ Das hier wird kein Wettbewerb.
## Was ist Wahn – und was Realität?
Nach seiner Diagnose behandelten die Ärzte Merlin zunächst mit Olanzapin,
das bei Jörn gewirkt hatte.
Bei mir schlug der Wirkstoff allerdings nie völlig an. Zwar lösten sich die
emotionalen Ausnahmezustände und ich schrie und heulte nicht mehr
nächtelang in mein Kissen. Doch Beziehungsideen und Wahn blieben.
Wer Merlin heute zum ersten Mal begegnet, würde nicht merken, dass er
schizophren ist. Die meisten würden es wohl erst erfahren, wenn Merlin
anfängt, von seiner Krankheit zu erzählen. Und das tut er so nüchtern und
reflektiert, dass er sich gar die Sprache seiner Ärztinnen und Ärzte zu
eigen macht. Merlin redet dann selbst von „Wahnideen“ oder seiner
„Realitätswahrnehmung“. Für psychotische Menschen ist das ungewöhnlich.
Meine Mutter gibt aber zu bedenken, dass die Wahnwelt seine „Hauptwelt“
ist. „Er lebt und fühlt darin und hat mit unserer Welt eigentlich gar
nichts zu tun. Außer, dass er weiß, dass wir eine ganz andere Meinung
haben, wie die Dinge sind.“
Anderen Schizophrenen geht es wesentlich schlechter als mir. Sie können mit
ähnlicher Symptomatik überhaupt nicht erkennen, dass sie krank sind. In
Gesprächen wird mir oft klarer, wie unwahrscheinlich meine Sicht der
Realität ist, dass sie an Unmöglichkeit grenzt. Und doch weiß ich oft
einfach nicht, was Wahn und was Realität ist.
Die Forschung weiß heute nach wie vor wenig über die Ursachen und
neuronalen Wirkmechanismen von Schizophrenie. Sie geht aber davon aus, dass
eine genetische Veranlagung die Erkrankung stark begünstigen kann. [2][Etwa
ein halbes] [3][bis ein Prozent aller Menschen] erkranken im Laufe ihres
Lebens an Schizophrenie. Ist ein Geschwisterteil oder ein anderer naher
Verwandter betroffen, steigt die Wahrscheinlichkeit [4][um ein Vielfaches].
Bei uns sind es zwei von vier Brüdern.
Konkrete Auslöser, die zum Ausbruch einer Psychose führen können, sind
psychische Belastung, etwa durch Stress, oder auch die Einnahme
psychoaktiver Substanzen. Jörn hatte in Burkina Faso gelegentlich gekifft.
Hinzu kam, dass er zur Vorbeugung von Malaria auch das Medikament Lariam
einnahm, das ihm nachts häufiger Albträume bescherte.
Schon beim Vorbereitungsseminar hatte Jörn auf der Packungsbeilage von
einem erhöhten Psychoserisiko gelesen, erinnert er sich. „Da haben wir noch
Scherze drüber gemacht: Höhö, jetzt bekommen wir alle Psychosen, lustig.“
Auch der belgische Sänger Stromae musste 2015 eine Afrikatournee abbrechen,
weil ihn plötzlich Angstattacken überfielen, die ihn bis heute verfolgen.
Stromae hatte ebenfalls [5][Lariam zur Malariaprophylaxe eingenommen]. Das
Medikament ist in Deutschland heute nicht mehr auf dem Markt.
In unserer Familie herrschte zunächst nur ein Bewusstsein für eine andere
genetische Prädisposition. Zwei meiner Großeltern, einmal mütterlicher- und
einmal väterlicherseits, waren schwere Alkoholiker. Meine Eltern machten
uns daher stets klar, dass wir mit Bier, Wein, und Spirituosen aufpassen
sollten. Doch auch nach Jörns Erkrankung schärften sie uns jüngeren Brüdern
kein vergleichbares Bewusstsein für unser gesteigertes Psychoserisiko ein.
Meine Mutter dachte, Jörns Erkrankung wäre eine einmalige Sache, „weil da
so viele Faktoren zusammenkamen: Afrika, Lariam, das Kiffen. Dass das noch
ein anderes Kind betreffen könnte, hätte ich niemals gedacht.“
Auch Merlin hatte sich darüber keine Sorgen gemacht:
Hätte ich gewusst, dass es bei der Schizophrenie eine genetische Komponente
und für mich ein höheres Risiko gibt, hätte ich vielleicht weniger gekifft.
Ich hatte beim Kiffen fast immer Paranoia und schizophrenieähnliche
Gedanken. Aber ich habe diese Verbindung zu mir einfach nicht gezogen.
Nachdem das Olanzapin nicht richtig wirkte, probierten die Ärzte bei Merlin
eine Reihe anderer Neuroleptika, die ihn vom Wahn befreien sollten. Doch
obwohl sie seine Symptome linderten, schlug keines richtig an. So verlief
die Schizophrenie schwankend. Auf bessere Tage folgten schlechtere, auf
schlechtere Wochen wiederum bessere.
Einige Monate lebte Merlin in der Heimat, dann wieder in Berlin – ein Hin
und Her. Er nahm sein Jurastudium wieder auf und bestand trotz seiner
Psychose Prüfungen. Doch merkte er bald, dass er überfordert war. Also
wechselte Merlin den Studiengang, begann Geschichte zu studieren – und
musste wieder abbrechen. Seine Wahnideen und die Nebenwirkungen der
Medikamente minderten seine [6][Konzentration.]
Ich war regelrecht abhängig nach den Andeutungen um meine Person. Es zählte
nur der Größenwahn. Als 2020 die Coronapandemie begann, war ich, wie viele
psychisch Kranke, hart von den strengen Maßnahmen betroffen. Die soziale
Isolation und das Kontaktverbot machten mir besonders zu schaffen. Ich
suchte eine Ausflucht und kiffte wieder. Nachdem ich wieder einmal ein paar
Tage durchgehend bekifft gewesen war, tat dies sein Übriges: Ich fing an,
Stimmen zu hören.
Das waren Stimmen von Menschen, die mir nahe standen, aber auch von
historischen Personen wie Rosa Luxemburg oder Jimi Hendrix. Anfangs habe
ich darunter gelitten, weil die Stimmen mich heftig beleidigten. Ich dachte
erst, wenn ich mich ablenke und lese, gehen sie vielleicht weg – aber das
war nicht so. Kurz vorher hatte ich in einem Zeitungsartikel gelesen, dass
auf der Venus Phosphingas entdeckt wurde – ein Indiz für außerirdisches
Leben.
Inspiriert davon war ich nun der Meinung, dass Aliens zu meinen Gunsten
eingreifen und mich diese Stimmen hören ließen. Das Phänomen um meine
Person, an das ich glaubte, wollten die Aliens nutzen, um ein
revolutionäres Rätesystem einzuführen, eine Art direkte Demokratie auf der
Basis von Häusergemeinschaften. Ein Netzwerk von Aktivisten setzte dieses
Projekt in die Tat um. Und ich stand im Mittelpunkt.
Bemerkenswert ist, dass die politischen Ideen, die Merlin in sein
Wahnkonstrukt einbindet, unabhängig davon durchaus plausibel sind. Wir
können uns heute über seine Vorstellungen einer Rätedemokratie unterhalten,
ohne dass er durchscheinen lässt, dass er dahinter höhere Mächte am Werk
sieht. Oder dass er glaubt, er sei gleichzeitig die zentrale Figur in dem
Projekt, seine Bedeutung werde aber nur in Anspielungen kommuniziert. Doch
nicht alle Ideen, die ihm die Stimmen eingaben, waren so harmlos –
insbesondere als er im Coronawinter 2020/21 wieder in unserer Heimatstadt
lebte und sich sogar von meiner Mutter abkapselte.
## Dunkle Gedanken
Die Wahnideen, die mein krankes Hirn fabrizierte, wechselten sich oft ab.
So drängten mich die Stimmen auch zu Selbstmordversuchen. Sogar einen
Strick bestellte ich im Internet. Doch immer kurz bevor ich vom Stuhl oder
Leiter springen oder vom Ast rutschen wollte, machten sie wieder Halt. Ein
Glück. So viel Lebenswillen hatte ich anscheinend doch noch.
Zu der Zeit studierte ich gerade im Ausland und hatte keinen Kontakt zu
Merlin. Meine Mutter berichtete mir, dass er ihr gegenüber Suizidgedanken
äußerte. Angesichts des tiefen Abgrunds, in dem Merlin festhing, schienen
es keine leeren Drohungen zu sein. Zurück war die Hilflosigkeit: Physisch
hunderte Kilometer und psychisch Lichtjahre von Merlin entfernt, konnte ich
mich nur ablenken und meine Sorgen notdürftig übertünchen. Und hoffen, dass
die Nachricht oder der Anruf niemals kommen würden.
Merlin war mit seinen dunklen Gedanken nicht allein. Etwa fünf Prozent
aller an Schizophrenie Erkrankten begehen später Suizid. Gewisse
[7][persönliche Eigenschaften lassen diesen Wert steigen]: Junge,
arbeitslose Männer mit hohem Bildungsgrad nehmen sich im Schnitt noch
häufiger das Leben – all das trifft auf Merlin zu.
2021 zog ich wieder nach Berlin. Es ging mir aber schlecht, weshalb ich im
Herbst erneut in die Psychiatrie ging. Genauer gesagt ins
St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte. Die Station dort heißt „Soteria“,
benannt nach einem alternativen Behandlungskonzept, das mir besser gefällt
als die klassische Psychiatrie: Die Hierarchien sind flacher, und es wird
Wert auf ein besseres Miteinander unter den Patienten gelegt. In der
Soteria bekam ich das Medikament Amisulprid, das ähnlich wirkt wie
Olanzapin.
Schon die geringe Dosis von 300 Milligramm beseitigte meine gesamte
Symptomatik fast buchstäblich von einem Tag auf den anderen. Als ich
entlassen wurde, war ich von dem Stimmengewirr befreit. Zurück blieb nur
noch diese eine, mir unbekannte Frauenstimme. Sehr sanft, aber bestimmt,
fragte sie mich immer wieder: „Was vermisst du am meisten im Leben?“
Genauso neblig und mysteriös wie die Psychose heraufgezogen war, genauso
wundersam verschwand sie nach vier Jahren wieder. Bald war auch die
Frauenstimme weg und Merlin ausgebrochen aus seinem Kopfgefängnis. Dass er
das Amilsuprid nicht schon früher bekommen hatte, sieht Merlin heute als
Behandlungsfehler. Weil er häufig den Wohnort und damit die Psychiaterinnen
wechselte, fehlte ihm die konstante Betreuung.
Die Wahnideen und das Beziehungsdenken waren vorbei. Zwar schwand damit
auch meine Leidenschaft und ich fühlte mich apathisch, als würde ich nur
noch wie ein Roboter funktionieren. Aber ich stürzte mich voll in mein
neues Leben, wollte aufholen, was ich verpasst hatte: So spielte ich
Fußball an der Uni, ging regelmäßig in die Bibliothek, um juristische Fälle
zu bearbeiten, engagierte mich wieder politisch und startete auch erste
journalistische Gehversuche. Meine Zukunft stand mir offen.
Als mein jüngster Bruder Theo zu der Zeit mit Merlin telefonierte, war er
überrascht, wie klar dieser auf einmal wieder war: „Ich weiß noch, dass wir
das Telefonat beendeten und ich komplett losgeheult habe. Das hatte sich
das erste Mal angefühlt, als hätte ich wieder mit Merlin geredet.“ Doch
schon bald verschlechterte sich sein Zustand wieder.
Da ich symptomfrei war und voller Tatendrang, hielt ich mich für
unbesiegbar. Weiterhin zweimal täglich Medikamente einzunehmen, schien mir
lästig und nutzlos. Anfang Dezember reduzierte ich das Amilsuprid in
Absprache mit meiner Ärztin leicht – und schon setzten die Stimmen wieder
ein.
Verängstigt erhöhte Merlin die Dosis sofort wieder. Aber vergebens. Nur
drei Wochen später, an Heiligabend, waren wir als Familie versammelt,
tauschten Geschenke aus und sangen Weihnachtslieder. Alle, bis auf Merlin.
Der hatte sich ein Stockwerk tiefer zurückgezogen und verneigte sich – denn
er nahm gerade Glückwünsche vom Papst entgegen. Der Wahn war mit voller
Wucht zurück.
## Psychonauten auf Abwegen
„Psychische Krankheiten sind Familienkrankheiten“, sagt unser Vater: Alle
Angehörigen sind davon betroffen. Auch wir als Familie haben viel gelitten
und gebangt. Und doch wurden wir wohl nicht so heftig getroffen, wie
womöglich andere Familien. Das mag auch daran liegen, dass wir ein gewisses
Interesse am Komischen und „Abnormalen“ teilen: Meine Mutter hatte sich
schon als Jugendliche in der Bibliothek Bücher über Alkoholismus und
„Verrücktheit“ ausgeliehen, weil sie ihren alkoholkranken Vater verstehen
wollte. Meinem Vater hilft seine eigene Arbeit mit psychisch kranken
Menschen nicht nur, mit der Schizophrenie seiner Söhne umzugehen, sondern
auch, sie im Alltag zu unterstützen.
Auch dass meine Brüder früh – womöglich zu früh – mit Drogen
experimentierten, liegt an ihrer Neugier für die Grenzerfahrungen des
menschlichen Bewusstseins. Dieses Interesse macht natürlich auch vor der
Veränderung des Denkens in der Schizophrenie nicht völlig halt. Jörn nennt
diese Faszination für die Erkundung der eigenen Innenwelt „Psychonautik“ �…
ein Begriff, der Drogen- und Psychoseerfahrungen gleichsam einfassen kann
und positiv deutet.
Die Euphorie zu Beginn seiner Episoden vergleicht Jörn mit dem Wirken einer
„geilen Droge“, weil das Gehirn viel Dopamin ausschüttet. „Es fühlt sich
unglaublich gut an. Deswegen denkst du erst mal nicht, dass du ein Problem
hast.“
Bei vielen Erkrankten lässt die Schizophrenie religiöses Denken gedeihen:
Sie glauben, sie seien von Dämonen besessen, dass Gott zu ihnen spricht,
oder halten sich für Propheten. In Jörns Psychose brachen diese
spirituellen Züge klar durch. Bei Merlin, dem Spiritualität fern liegt,
finden sich religiöse Vorstellungen nicht voll ausgebildet, gleichwohl aber
in Versatzstücken: Die Aliens sind für ihn keine übernatürliche, aber doch
eine höhere kosmische Macht. Sie versprechen Merlin zwar keine ewige
Erlösung, aber doch ein längeres Leben für ihn und seine Liebsten, dazu
Macht und Reichtum. Und auch Merlin selbst: kein Prophet, aber doch die
zentrale Figur in einem Projekt, das eine bessere Welt zu errichten sucht.
Jörn hat nach seiner Psychose die Meditation für sich entdeckt. Sie hilft
ihm, seinen Seelenhaushalt besser zu überblicken. Gleichfalls müsse er
dabei vorsichtig sein: „Vor der letzten Episode hatte ich bei einer
Meditation ein Erleuchtungserlebnis, das dann aber unmittelbar in die
Psychose überging.“
Jörn sagt heute: Die Schizophrenie habe auch seine Entwicklung
vorangetrieben, ihn zu dem gemacht, der er ist.
Gäbe es einen Schalter, der die ganze Krankheitsgeschichte ungeschehen
macht – würde er ihn umlegen?
Er überlegt kurz. „Nein, ich glaube, ich nicht.“
## Eine Krankheit – zwei Erfahrungen
Weil die Menschheit noch so wenig über die Ursachen und neuronalen
Wirkmechanismen von Schizophrenien weiß, bleibt auch mit Blick auf meine
Familie viel Raum für Spekulation. Wieso hat es Jörn und Merlin getroffen?
Wieso nicht auch – oder an ihrer statt – mich und meinen jüngsten Bruder?
Jörn und Merlin sind charakterlich zwei Pole unter uns Brüdern. Jörn:
extrovertiert und aufbrausend. Merlin: ruhig und reflektiert. Dieser
Unterschied zeigt sich auch im Verlauf ihrer Schizophrenie. Jörns Wahnideen
kamen plötzlich und heftig und beförderten ihn komplett aus der Realität.
Merlins hingegen bahnten sich langsam an und steigerten sich über Monate.
Hatten die Ärzte einmal das richtige Medikament gefunden, war Jörn rasch
symptomfrei, während die Neuroleptika Merlins Wahnvorstellungen (bis auf
das Intermezzo im Herbst 2021) lediglich lindern können. Mein großer Bruder
kann deshalb ein Leben nach seinen Vorstellungen führen. Merlin hingegen
kann das momentan nicht – oder nicht so, wie der gesunde Merlin sich das
wünschen würde. Und das, obwohl er zumindest noch eine Verbindung zu
unserer Wirklichkeit hat. So unterschiedlich können zwei Menschen eine
Krankheit erleben.
Das Stimmenhören, Beziehungserleben und vor allem die Wahnideen sehe ich
heute ambivalent. Einerseits behindern sie mich im Alltag und halten mich
davon ab, gesund zu werden. Andererseits vermitteln sie mir, dass mein
Denken, mein Handeln und meine gesamte Existenz Sinn und Bedeutung haben.
Ich erhoffe mir nach wie vor, dass meine Realitätswahrnehmung bald
bestätigt wird. Obwohl das vielleicht eine unrealistische Hoffnung ist.
Nach wie vor hat Merlin, was er „Anfälle“ nennt. Die Stimmen werden dann
stärker und strengen ihn an. Sie fordern ihn auch auf, in sozialen Medien
wirre Nachrichten und Texte zu schreiben. Anfang dieses Jahres ist Merlin
aus unserer Heimatstadt nach Hannover gezogen, wo er in einem Wohnheim mit
anderen psychisch Kranken wohnt. Eine enge therapeutische Betreuung soll es
ihm ermöglichen, selbstbestimmt zu leben.
Merlin hofft, dass die Fortschritte in der Neuroleptikaforschung ihm „Ruhe
im Kopf“ bringen. In den USA hat das Biotech-Unternehmen Karuna
Therapeutics ein Medikament entwickelt, das nicht wie andere Neuroleptika
die Dopaminrezeptoren hemmt, sondern auf die Muskarinrezeptoren abzielt,
die für Denkprozesse im Hirn verantwortlich sind. Nach [8][Tests mit
Patienten] spricht der Hersteller von einer möglichen „neuen Klasse“ von
Psychosemedikamenten. Die Food and Drug Administration entscheidet im
Herbst über die Zulassung.
Während Jörns Psychose mir lange wie ein Kuriosum schien, über das wir auch
scherzen konnten, hat Merlins Schizophrenie bei der ganzen Familie einen
tieferen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mir wünsche, dass mein Bruder
gesund wird, denke ich manchmal: Ich will den „echten“ Merlin zurück.
Gleichzeitig aber ist mein Bruder, so wie er ist, nicht unecht. Er ist voll
und ganz Merlin. Nur eben anders.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, können sich rund um die Uhr an die
Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder
[9][www.telefonseelsorge.de] besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit,
mit Seelsorgenden zu chatten.
11 Feb 2024
## LINKS
[1] https://schizinfo.com/de/sprechen-wir-darueber/herkunft-des-begriffs-schizo…
[2] https://www.psych.mpg.de/848212/schizophrenie
[3] https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichtersta…
[4] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1914490/
[5] https://www.dw.com/de/stromae-comeback-album/a-61554400
[6] https://www.apotheken.de/krankheiten/hintergrundwissen/10543-neuroleptika
[7] https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1359786810385490
[8] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(23)02190-6/…
[9] https://www.telefonseelsorge.de/suizidpraevention/
## AUTOREN
Valentin Grebe
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