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# taz.de -- Placebos: Heimlicher Star der Psychiatrie
> Placebos können bei verschiedensten psychischen Erkrankungen so effektiv
> sein wie Medikamente mit Wirkstoffen. Das zeigt jetzt eine neue Studie.
Bild: Diese Placebopillen enthalten mikrokristalline Zellulose, die vom Körper…
Was ist das am meisten untersuchte medizinische Mittel der
Wissenschaftsgeschichte? Es ist ein Mittel, das in Tausenden Studien
getestet wurde, an sehr, sehr vielen Versuchsteilnehmer*innen. Seine
Wirkung ist seit mehr als 100 Jahren beschrieben. Die Nebenwirkungen gelten
als ungefährlich, das Einsatzgebiet ist breit.
Die Rede ist von Placebos, von Scheinmedikamenten, die seit den
1970er-Jahren standardmäßig in wissenschaftlichen Studien eingesetzt
werden, um die Wirkung des eigentlich getesteten Medikaments zu überprüfen.
Der Star ist Placebo im medizinischen Bereich jedoch selten. [1][In einer
aktuellen Studie zum Placeboeffekt] bei den wichtigsten psychiatrischen
Erkrankungen ist Placebo nun aber mehr als eine Randerscheinung. Die Studie
macht sich die quasi nebenbei anfallenden Daten aus Medikamentenstudien
zunutze.
Neuartige Medikamente und Behandlungsansätze werden in sogenannten
randomisierten Doppelblindstudien getestet. Dabei wird allen
Teilnehmer*innen ein Mittel verabreicht. Doch nur ein Teil der
Versuchsmenschen bekommt, per Zufall ausgewählt, das neue Medikament. Eine
Kontrollgruppe erhält, ohne es zu wissen, entweder ein bewährtes Mittel
oder ein Scheinmedikament. Die verabreichte Pille oder Spritze ist dann –
pharmakologisch betrachtet – ohne Wirkung, also ein Placebo, das in der
Regel nicht viel mehr als Zucker oder Stärke enthält.
Diese Placebostudien werden immer dann eingesetzt, wenn es ethisch
vertretbar ist, die Patient*innen für die Dauer der Studie auch ohne
eine bewährte Behandlung zu lassen. In sehr vielen medizinischen Bereichen
ist das der Fall und so lässt sich eben mit Fug und Recht behaupten:
Placebo ist das am besten untersuchte „Medikament“ der
Wissenschaftsgeschichte.
Und es ist, auch das weiß man schon länger, alles andere als wirkungslos.
Der Placeboeffekt wurde um 1900 beschrieben: Bereits die mehr oder minder
bewusste Erwartung einer wirksamen Therapie sorgt demnach für eine
Besserung der Erkrankung. Für die unter Placebo beobachteten Effekte sind
auch weitere Faktoren wie eine engmaschige Betreuung der Patient*innen, wie
sie auch in Studien üblich ist, von Bedeutung.
## Umfangreiche Studie zum Placeboeffekt
Nun gibt es aus all den placebokontrollierten Studien umfassende Daten über
den Placeboeffekt. In der Regel dienen diese aber nur zur Bewertung des
jeweils getesteten neuen Medikaments. Eine Gruppe um den Berliner
Psychiatrieprofessor Tom Bschor – derzeit auch Kopf der
Regierungskommission, die für Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)
Vorschläge für eine moderne Krankenhausversorgung erarbeitet – hat nun eine
Studie zum Placeboeffekt bei den wichtigsten psychiatrischen Diagnosen
vorgelegt.
Dafür haben sie die Daten aus 90 Placebostudien mit fast 10.000
Versuchsteilnehmer*innen miteinander verglichen. Es ist, so die
Autor*innen, [2][die umfangreichste Studie zum Placeboeffekt] bei
psychiatrischen Diagnosen. Ende Mai wurde sie in der medizinischen
Fachzeitschrift JAMA Psychiatry veröffentlicht.
Von den neun untersuchten Erkrankungen haben zwei besonders gut
abgeschnitten. Das wäre zum einen und für die Forscher*innen wenig
überraschend [3][Depressionen]. Hier hatten schon vorherige Studien
gezeigt, dass der überwiegende Teil der Wirkung von Antidepressiva
vermutlich auf dem Placeboeffekt beruht und vor allem bei leichten und
mittleren Depressionen der Placeboeffekt sogar vergleichbar ist zur Wirkung
von „echten“ Medikamenten.
## Ethik und Recht im Alltag
Auch die generalisierte Angsterkrankung – also ein den Alltag
beherrschendes Gefühl von Besorgtheit und Anspannung – spricht laut den
Ergebnissen der Vergleichsstudie sehr gut auf Placebo an. Die Ergebnisse
bei diesen beiden psychiatrischen Diagnosen seien so überzeugend, sagt
Bschor, „dass sie eine Behandlung mit Placebo absolut rechtfertigen
würden.“
Im Behandlungsalltag scheitert eine zu den Studien vergleichbare
Placebobehandlung an Ethik und Recht: „Wir müssen unsere Patienten immer
genau darüber aufklären, was sie bekommen“, so der Psychiater. „Aber in d…
Praxis, da muss man sich ehrlich machen, gibt es einen Graubereich“, sagt
Bschor auch. Nämlich dann, wenn Ärzt*innen Mittel verschreiben oder
empfehlen, deren Wirkung pharmakologisch nicht nachgewiesen ist. Globuli
sind hier sicher das gängigste Mittel. „In gewisser Weise rechtfertigen die
Studienergebnisse auch diesen Graubereich“, sagt Bschor.
Zu der Gruppe psychiatrischer Diagnosen, die laut Studie gut auf Placebo
ansprechen, gehörten außerdem Panikstörungen, das
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), posttraumatische
Belastungsstörungen und soziale Phobien. Zwangserkrankungen schnitten in
Sachen Placeboeffekt dagegen eher schlecht ab, genau wie Manie und das
Studienschlusslicht Schizophrenie. Selbst bei Schizophrenie sei der Effekt
aber nicht minimal, auch hier gab es messbare Verbesserungen in der
Placebogruppe, so Bschor.
## Medikamente allein reichen nicht
Das heißt: Bei allen psychiatrischen Erkrankungen ist laut Studie ein
Placeboeffekt zu beobachten. „Das ist ein ganz zentrales Ergebnis“, sagt
der Psychiater. Damit lasse sich der Einsatz von Placebos in Studien auch
mit psychiatrisch schwer erkrankten Patient*innen rechtfertigen –
ethisch sei es vertretbar, eine Kontrollgruppe mit Placebomitteln zu
behandeln, eben weil sie nicht wirkungslos sind.
Aber auch die Bedeutung für den Behandlungsalltag sei erheblich, so Bschor:
Denn der Placeboeffekt wirke ja nicht nur, wenn der Patient ein
pharmakologisch wirkungsloses Mittel erhält. Er ist Teil jeder
Medikamentengabe. „Eine wichtige Schlussfolgerung ist, dass die in der
Psychiatrie gängigen Medikamente erst dann ausreichend wirken können, wenn
sie eingebunden sind in eine ordentliche Betreuung, die den Patienten ernst
nimmt, Zeit für Fragen, Aufklärung und zum Sprechen lässt“, sagt der
Psychiater.
[4][Mehr Zeit für Patient*innen, mehr Zuwendung] – besonders neu und
bahnbrechend klingt diese Erkenntnis nicht. „Aber man muss es wiederholen
und wissenschaftlich mit Zahlen belegen“, sagt Bschor und verweist auf die
noch immer gängige Praxis, bei der Psychiater*innen nach wenigen
Minuten Patientenkontakt Rezepte ausstellen – mit Einnahmeempfehlung und
Wiedervorstellungstermin in sechs Wochen. Behandlung sei immer ein
Gesamtkonzept, so Bschor. „Den Placeboeffekt, den muss man mit abholen,
sonst bleibt zu wenig übrig.“
23 Jun 2024
## LINKS
[1] https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/article-abstract/2818945
[2] https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/article-abstract/2818945
[3] /Behandlung-von-Depressionen/!5995963
[4] /Aerztliche-Behandlung/!5945588
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Schizophrenie
psychische Gesundheit
ADHS
Depression
Medizin
Forschung
Psychische Erkrankungen
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Behandlung
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