# taz.de -- Behandlung von Depressionen: Mit dem Dunklen leben | |
> Oliver Vorthmann ist an einer chronischen Depression erkrankt. Therapien | |
> haben ihm nicht geholfen. Die Pharmaindustrie sucht weiter nach | |
> Heilmitteln. | |
Es ist, als hätte jemand der Welt die Farben genommen. Als wäre alles um | |
mich herum von einem Schleier überzogen. Als sei ich in einer Glocke aus | |
Milchglas gefangen, mit einem Stein auf der Brust, mit Säure in den Adern – | |
und immer wieder diesen schrecklichen Gedanken, wie ich diese monströse | |
Ausweglosigkeit beenden soll. | |
Oliver Vorthmann kennt dieses Gefühl. Er ist ein Hüne, locker zwei Meter | |
groß, stabil. Den kann keiner umhauen, könnte man meinen. Vorthmann lehnt | |
an einem Brückengeländer und schaut hinunter aufs Wasser der Spree im Osten | |
Berlins. Schiebt sich die schwarze Mütze aus der Stirn, pustet | |
Zigarettenrauch in den Morgennebel. Er ist 55 Jahre und chronisch | |
depressiv. „Seitdem ich denken kann, fühle ich mich so.“ | |
Oliver Vorthmann hat Klinikaufenthalte und Therapeutenbesuche hinter sich, | |
[1][mehrere Psychopharmaka bekommen]. Venlafaxin, Mirtazapin, Fluoxetin. | |
Sie alle sollen das Hirn mehr Glückshormone ausschütten lassen, die | |
Stimmung aufhellen, Ängste lösen. | |
„Sechs Medikamente habe ich insgesamt durchprobiert. Keins hat geholfen. | |
Hoch dosiert, runter dosiert, alle wieder abgesetzt.“ Nur ein Schlafmittel | |
bewirke etwas bei ihm, Quetiapin, ein Neuroleptikum. Normale Dosis: 25 | |
Milligramm. „Ich nehme 500, damit ich überhaupt schlafen kann.“ | |
Unter depressiven Episoden leiden weltweit 320 Millionen Menschen, in | |
Deutschland mindestens vier Millionen. Die Symptome sind vielfältig: | |
Schlafstörungen, eine anhaltende gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit, | |
Interessenverlust, Apathie. | |
Insgesamt haben hierzulande knapp 18 Millionen Menschen psychische | |
Erkrankungen. Gegen die Ängste, Zwänge, Süchte, Ess- und Schlafstörungen, | |
schizophrenen Züge und eben Depressionen schluckt der Großteil von ihnen | |
Psychopharmaka. | |
Rund zwei Milliarden Tagesdosen Antidepressiva werden derzeit in | |
Deutschland pro Jahr verschrieben. In anderen Ländern sind es noch mehr: | |
Portugal schluckt in Relation mehr als doppelt so viele Antidepressiva wie | |
Deutschland, Island fast das Dreifache. In den USA nimmt jede und jeder | |
Fünfte tagtäglich Psychopharmaka ein. | |
Die Medikamente sollen die Dämonen vertreiben, uns wieder zuverlässig | |
funktionieren lassen. Bei manchen wirken sie. Bei anderen nicht. | |
Die genaue Ursache vieler psychischer Störungen im Gehirn ist dabei immer | |
noch unklar, Wissenschaftler*innen sind sich uneinig. Und doch werden | |
die Pillen verschrieben, weil sie Schieflagen des Hirnstoffwechsels ins | |
Gleichgewicht bringen sollen. Pillen, von denen zwar nicht wirklich bekannt | |
ist, warum sie wirken, wohl aber, welche Nebenwirkungen sie haben. | |
Oliver Vorthmanns Biografie zeigt, wie Betroffene manchmal jahrzehntelang | |
nach [2][der richtigen Behandlungsmethode suchen] – und sie doch nicht | |
finden. Seine Geschichte führt uns zu neueren medikamentösen Versuchen mit | |
Stoffen wie Ketamin und Psilocybin – und dazu, wie sich eine | |
Gesprächstherapie in die medikamentöse Behandlung einbinden lässt. | |
Der Blick geht aber zunächst einmal zurück. Psychopharmaka sind ein recht | |
junges Kapitel in der Medizingeschichte. Und wie so oft bei großen | |
Durchbrüchen der Forschung war es der Zufall, der die Psychiatrie | |
revolutionierte. Die deutsche Farbindustrie war kurz nach dem Zweiten | |
Weltkrieg auf Farbstoffe mit sedierender Wirkung gestoßen. 1952 wurde als | |
erstes Antipsychotikum Chloropromazin entdeckt, fünf Jahre später folgte | |
„Sommerblau“ oder auch Imipramin, das erste Antidepressivum. | |
Binnen weniger Jahre drängten immer mehr Medikamente auf den Absatzmarkt | |
der Antidepressiva. Dort formieren sie sich zu Substanzengruppen mit | |
jeweils ähnlichen Wirkstoffen. Doch ob trizyklische Antidepressiva, | |
MAO-Hemmer oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – im | |
Wesentlichen tun diese alle dasselbe: Sie beeinflussen die Konzentration | |
wichtiger Botenstoffe im Gehirn, zum Beispiel das vereinfacht als | |
„Glückshormon“ bezeichnete Serotonin, oder auch Noradrenalin und Dopamin. | |
Werden diese vom Gehirn ausgeschüttet, dann wirkt sich das positiv auf | |
unsere Stimmung aus. Wir sind begeisterungsfähig, energetisch, redselig, | |
fühlen uns mit unseren Mitmenschen verbunden. Nicht bei allen Menschen | |
funktioniert das gleichermaßen gut. | |
Die Gedanken zirkulieren zäh, als hätte jemand Kleister in den Kopf | |
gekippt. Ich kann den Kreisel nicht stoppen, es raubt mir die Kraft. Die | |
Erschöpfung lässt nicht nach. Ich will mich abschirmen. Nur noch die | |
eigenen vier Wände fühlen sich halbwegs sicher an. | |
Vorthmann ist in Paderborn aufgewachsen. Seine Eltern sind alkoholkrank. Er | |
ist vier Jahre alt, da unternimmt seine Mutter ihren ersten Suizidversuch. | |
„Mein Vater hatte uns verlassen und meine Mutter kam nicht mehr klar“, | |
erzählt er in der Ecke eines Cafés am Schifffahrtskanal in Berlin-Neukölln. | |
In dem Berliner Stadtteil lebt Vorthmann. Hochparterre Hinterhaus, ruhig | |
und anonym. Mit einem Zimmer als Rückzugsort, seinem Versteck. „Da | |
verschwinde ich, wenn ich in meiner Depression bin, wenn ich aus der Welt | |
sein will. Ich weiß nicht, wann ich dort das letzte Mal die Jalousien | |
hochgezogen habe.“ | |
Immer, wenn er beginnt, von seiner Kindheit zu reden, atmet er tief durch. | |
Er schiebt seine Tasse auf dem Holztisch herum. „Ich erinnere mich, dass | |
ich anders war: still, ohne Freunde, beim Sport immer zuletzt gewählt.“ Und | |
immer dieselbe Frage von den anderen: Oli, was hast du denn? | |
„Ja – nix, so war ich halt. So bin ich noch.“ Aber deshalb zum Psychologen | |
gehen? „Es war doch normal für mich, nicht normal zu sein. Ich war ruhig, | |
ich war Einzelgänger, aber nicht krank.“ | |
Er löst seine Probleme so, wie junge Männer ihre Probleme lösen, wie seine | |
Eltern sie lösen: Er trinkt. Viel. Später lernt er eine Frau kennen. „Sie | |
kannte meine Art und Weise von Anfang an, natürlich war das nicht leicht | |
für sie. Schlimm wurde es, wenn ich gar nicht mehr geredet und meine | |
Probleme weggeschwiegen habe.“ Die beiden ziehen zusammen und heiraten. | |
Dann macht sich Vorthmann selbstständig, mit einem Küchengeschäft für | |
Menschen mit Einschränkungen. „Das war eigentlich eine absolute | |
Marktnische. Aber der Laden ist gefloppt.“ | |
Die Geldsorgen, die Depression, der Alkohol. „Zu dem Zeitpunkt habe ich | |
schon eine Flasche Hochprozentiges am Tag gesoffen.“ Weinbrand-Cola, | |
Ramazzotti. Vorthmann verlässt seine Frau, vielleicht, um sie vor seiner | |
Krankheit zu beschützen. 2012 schickt er seiner Cousine eine Mail. Er | |
bedankt sich für alles, schreibt, er wolle nicht mehr, und verabschiedet | |
sich von ihr. Die Cousine reagiert. „Sie hat mich sofort eingesammelt und | |
ins Krankenhaus gefahren.“ | |
Wenn Psychiater*innen mit neuen Patienten sprechen, beginnen sie | |
zunächst mit der Diagnostik. Die [3][läuft seit jeher] nach einem immer | |
wieder überarbeiteten Klassifikationssystem ab, dem diagnostischen | |
Leitfaden psychischer Störungen, kurz DSM. In dessen frühen Versionen | |
wurden Depressionen noch in mehrere Formen mit mehreren Ursachen | |
eingeteilt: die reaktive Depression, die auf einen Schicksalsschlag folgt, | |
die neurotische Depression, die aus seelischen Konflikten aus der Kindheit | |
herrührt, die endogene, also biologisch begründbare Depression, und so | |
weiter. | |
Der US-amerikanische Psychiater Robert Spitzer glaubte Anfang der achtziger | |
Jahre, dass sich die Psychiatrie bei ihren Diagnosen unnötig in teils | |
willkürlichen Theorien verrenne. Als Chefautor des DSM-III sorgte er dafür, | |
dass sich die Diagnostik fortan darauf beschränkte, die wesentlichen | |
Symptome gründlich zu beschreiben, Ursache hin oder her. Seitdem erfragen | |
die Therapeut*innen, ob wir ruhelos sind und schlecht schlafen, ob wir uns | |
energielos fühlen und zu nichts aufraffen können, ob wir desinteressiert | |
sind. Die Checkliste der Symptome und deren Dauer zeigt schließlich, ob wir | |
bloß ein Stimmungstief durchlaufen oder an einer Depression leiden. Man | |
unterscheidet dabei zwischen leichter, mittelschwerer und schwerer | |
Depression. | |
Vor Spitzers Neuordnung hätte man Oliver Vorthmann eine neurotische | |
Depression diagnostiziert. Spitzer wollte den Ausdruck „depressive | |
Persönlichkeit“ ersetzen und führte den Begriff Dysthymie ein, das | |
griechische Wort für Missmut. Damit ist eine über Jahre andauernde | |
Depression gemeint, die häufig auch von Ängsten und auch Suchtverhalten | |
begleitet wird. Betroffene ertragen die Symptome über Jahre, Jahrzehnte, | |
weil sie die Schwermut für einen Teil ihrer Persönlichkeit halten. Andere | |
Menschen erleben eine Depression eher episodenhaft. | |
Nach der Traurigkeit kam die Nüchternheit. Ich fühlte einfach gar nichts | |
mehr, nicht nur keine Freude, sondern auch keine Trauer. Die ganze Zeit | |
wollte ich unbedingt diese Trauer loswerden. Nun wollte ich sie zurück, | |
damit ich wenigstens überhaupt etwas fühle. | |
„Die Dysthymie sieht bei mir so aus“, erklärt Vorthmann und malt mit dem | |
rechten Zeigefinger einen unsichtbaren Horizont auf den Tisch. „Sagen wir, | |
das ist die normale Nulllinie. Die meisten Leute fühlen auf dieser Linie | |
und erleben in Peaks emotionale Höhen und Tiefen.“ Dann zeichnet er mit dem | |
linken Zeigefinger eine weitere Linie, die ein Stück weit parallel unter | |
der Nulllinie verläuft. „Hier bewege ich mich normalerweise. Meine Stimmung | |
ist grundsätzlich ein bisschen beschissener als die der anderen. Von dieser | |
Linie aus geht es gern mal noch tiefer in den Keller, aber üblicherweise | |
nicht wirklich höher.“ | |
Natürlich gab es auch die schönen Momente in Vorthmanns Leben. Seine | |
Hochzeit. Oder das Konzert der Indie-Band Editors, als ihm Sänger Tom Smith | |
nach dem ersten Song zuwinkte. „In solchen Momenten muss ich aufpassen, | |
dass ich keine Bäume ausreiße. Sonst stürze ich umso schneller und umso | |
tiefer wieder ab.“ Die Abstürze können dreimal im Jahr kommen oder gleich | |
zweimal die Woche, das ist unberechenbar für ihn. | |
„Erst vor kurzem habe ich wieder drei Tage gebraucht, um den Müll | |
rauszubringen. Ich habe die ganze Zeit ins Treppenhaus gehorcht, ob da | |
jemand ist. Ich weiß, wie sich das anhört.“ Eine kühle Distanz zu Menschen | |
bis hin zu agoraphobischen Züge gesellen sich zu Olivers Dysthymie. | |
Was genau geschieht in unserem Kopf bei einer Depression? Aus der | |
Erkenntnis, dass die Antidepressiva die Konzentration des Serotonins im | |
Gehirn erhöhen, bildete die Neurowissenschaft die Hypothese, dass bei | |
Menschen mit Depressionen ein Mangel an bestimmten Neurotransmittern | |
vorliegen müsse. | |
Serotonin und Noradrenalin würden nicht so recht von einer Nervenzelle zur | |
nächsten diffundieren, die Übertragung in den Synapsen laufe nicht optimal. | |
Auch hier war es also so: Durch einen Zufallsfund gelangte man zu | |
Erkenntnissen über biochemische Prozesse im Kopf. | |
Die Pharmaindustrie konzentrierte sich fortan auf noch mehr Medikamente, | |
die dafür sorgen, dass die Botenstoffe länger an ihrem Wirkungsort bleiben. | |
Wie auch die SSRI: Sie hemmen gezielt die Wiederaufnahme des | |
Neurotransmitters Serotonin in die Präsynapse und erhöhen so dessen | |
Konzentration im synaptischen Spalt. | |
In den neunziger Jahren gab es einen regelrechten Hype um SSRI, die | |
Psychiater*innen bis heute bevorzugt verschreiben, einfach deshalb, | |
weil sie als vergleichsweise gut verträglich gelten. Wie etwa Citalopram, | |
Sertralin oder Fluoxetin, international besser bekannt als Prozac. | |
Geh doch mal raus, spazieren, ein bisschen Sonne tanken. Koch was Gesundes. | |
Mach Sport, geh schwimmen oder joggen, probier mal Yoga aus. Wie sinnlos | |
mir solche Ratschläge gerade vorkommen. Als wüsste ich das nicht alles | |
selbst. | |
Von seinem ersten Tag im Krankenhaus an versuchten es die Ärzte auch bei | |
Oliver Vorthmann mit Psychopharmaka. „Ein halbes Jahr war ich dort. Drei | |
Medikamente haben die Ärzte an mir ausprobiert, geholfen hat keines. Damit | |
war die Therapie vorbei. Sie sagten, sie können nichts mehr für mich tun. | |
Vielleicht würde eine Auszeit guttun.“ Vorthmann presst beide Hände an die | |
Stirn und atmet tief durch. „Du kannst einen Depressiven nicht einfach nach | |
Mallorca verfrachten und dann geht’s dem wieder gut.“ | |
Kurz vor Vorthmanns Einweisung im Jahr 2012 war die Serotonin-Hypothese | |
erstmals ins Wanken geraten. Der US-amerikanische Wissenschaftler Irving | |
Kirsch hatte in einer Metaanalyse Studien ausgewertet und war zu dem | |
Schluss gekommen, dass Antidepressiva aus der Klasse der SSRI genauso | |
wirksam seien wie Placebos. Die Geschichte wurde öffentlich, Medizin und | |
Pharmalobby gerieten in Erklärungsnot. Vor zwei Jahren erschien eine | |
weitere Metastudie, mit ähnlichem Ergebnis. | |
Heißt das also, die ganzen Pillen bringen es überhaupt nicht? | |
Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung schreiben in ihrer | |
aktuellen nationalen Versorgungsleitlinie zur Unipolaren Depression: „Über | |
die Mechanismen, durch welche die Wirkung der Antidepressiva zustande | |
kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Daher ist es bis heute nicht möglich, | |
verlässlich vorauszusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein | |
bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird.“ So bleibt die | |
Serotonin-Hypothese bis auf weiteres das, was sie immer gewesen ist: eine | |
Annahme. | |
Manche Forschende versuchen es deshalb mit anderen Erklärungen. Für sie ist | |
es wahrscheinlich, dass Depressionen einen oxidativen Stress auslösen. | |
Oxidativer Stress bezeichnet einen Zustand im Stoffwechsel, bei dem Zellen | |
beschädigt und rote Blutkörperchen angegriffen werden, so entstehen | |
Entzündungen im Gehirn. Die ersten Warnsignale: Müdigkeit und | |
Konzentrationsschwäche. Das effektivste Mittel dagegen: die | |
Selbstheilungskräfte aktivieren, und zwar durch gesundes Essen, frische | |
Luft, Meditation und Sport. Gerade hat die University of South Australia | |
knapp einhundert Arbeiten ausgewertet, die belegen sollen, wie effektiv | |
Sport und Bewegung gegen Depressionen und Angststörungen wirken. | |
Auch Gerhard Gründer zweifelt daran, dass einzig die fehlenden Botenstoffe | |
eine Depression ausreichend erklären. Gründer ist Professor für Psychiatrie | |
und Leiter der Abteilung für Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut | |
für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Es ist zu simpel zu sagen, die | |
Krankheit liege an einem Mangel der Neurotransmitter“, sagt er, „Es ist | |
aber ebenfalls nicht richtig, daraus zu schließen, die Medikamente wirken | |
nicht, weil es zu wenig Evidenz für die Hypothese gibt. Das ist eine | |
falsche Kausalität. Medikamente können wirksam sein, auch wenn wir nicht | |
wissen, warum.“ Die Medikamente hälfen Millionen Menschen. Und sicher gehe | |
es Depressiven heute besser als vor 60 Jahren, als psychische Erkrankungen | |
noch viel stärker stigmatisiert waren und das Gespräch mit dem Psychiater | |
verheimlicht werden musste. | |
Doch ist es eben auch so, dass die Pharmaindustrie bis heute keine | |
bahnbrechenden, besser wirkenden Psychopharmaka entwickelt hat. Noch immer | |
gibt es Medikamente, die es in ihrer grundlegenden Zusammensetzung schon | |
vor 60 Jahren gab. Offenbar wissen wir immer noch zu wenig Konkretes über | |
die Funktionsweise des Gehirns. | |
Und irgendwie passt das zu Robert Spitzers Diagnoseverfahren: Wir | |
konzentrieren uns auf die Symptome und haben Medikamente, die sie mehr oder | |
weniger gut lindern. Die Patient*innen haben mit möglichen | |
Nebenwirkungen zu kämpfen, etwa Gewichtszunahme und eingeschränkte | |
Sexualfunktionen, sowie der Tatsache, dass die meisten Psychopharmaka erst | |
nach rund zwei Wochen wirken. Wenn sie denn wirken. | |
Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller stehen auf dem Feld der | |
Antidepressiva derzeit über 60 neue Substanzen für eine Zulassung auf dem | |
Prüfstand. Es gibt weitere SSRIs, neuroaktive Steroide oder auch Extrakte | |
aus chinesischen Kräutern. Auffällig in der Liste: Ein Drittel der | |
Präparate sind Psychedelika und Dissoziativa, also psychoaktive Substanzen, | |
die unsere Wahrnehmung beeinflussen. [4][Schon etwas länger im Visier der | |
Forschung ist dabei Ketamin]. | |
Ketamin, eigentlich ein Anästhesie-Medikament, ist in den vergangenen | |
Jahrzehnten als Partydroge bekannt geworden. Nun gilt es als neue Hoffnung | |
in der Depressionstherapie. Esketamin, sozusagen der Zwilling von Ketamin, | |
wird inzwischen in den USA als Antidepressivum eingesetzt, in Form eines | |
Nasensprays. | |
Esketamin macht Dopamin in der Region verfügbar, die für das Belohnungs- | |
und Motivationssystem zuständig ist. Die Dosierung liegt bei einem Zehntel | |
der Menge, die man sich auf einer Clubtoilette durch die Nase ziehen würde. | |
Die klinischen Studien sprechen für Ketamin, bei vielen als | |
therapieresistent geltenden Depressionspatienten nahmen die Symptome ab. | |
Doch es gibt auch mahnende Stimmen. Die US-Gesundheitsbehörde FDA warnt | |
davor, dass der Markt mit Präparaten geflutet werden könnte und Menschen | |
mit Depressionen und zu großen Erwartungen durch eine Ketamintherapie in | |
Eigenregie abhängig werden könnten. | |
Die Schwere sinkt in dich hinein und breitet sich aus wie ein Parasit. Jede | |
Bewegung wird zum Kraftakt. Dein Gehirn schaltet auf Autopilot, um | |
überhaupt noch irgendwie zu funktionieren. Dann kommen die Schuldgefühle. | |
Gerade noch hatte ich ein voll durchgetaktetes Leben, ich habe | |
funktioniert. Du willst, dass es wieder so wird, wie es vorher war, aber | |
weißt nicht, wie. | |
Für Oliver Vorthmann war ein normales Berufsleben irgendwann nicht mehr | |
möglich. Bis 2015 arbeitete er noch bei Fujitsu im Vertrieb, dann kündigte | |
er. „Mein Antrag auf Erwerbsminderungsrente wurde natürlich trotzdem | |
abgelehnt“, sagt er. „Ich kann ja meine Arme und Beine bewegen, mein Herz | |
schlägt, also hat der Gutachter das Problem nicht gesehen. Der dachte | |
einfach nur, ich bin ein Weichei.“ | |
Die Alkoholsucht hat Vorthmann überwunden, die Depressionen bleiben. | |
„Irgendwann habe ich gelernt, mit dem schlimmen Gedanken zu leben, nicht | |
leben zu wollen“, sagt er. | |
Natürlich hat Vorthmann auch Gesprächstherapien durchlaufen. Medikamentöse | |
Therapie ist das eine, empfohlen wird aber immer auch das therapeutische | |
Gespräch. Wie gut Psychotherapie bei Depressionen wirkt, hat gerade das | |
Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München mit einer umfangreichen | |
Psychotherapiestudie herausgefunden. | |
Drei Jahre lang hat es Daten von knapp 300 Patient*innen | |
zusammengetragen, etliche Symptome wurden analysiert. Zwei Monate lang | |
erhielten die Teilnehmenden ein psychiatrisches Programm mit | |
Therapiesitzungen. | |
Das Ergebnis: „Zwar geht die Forschung sowohl in der medikamentösen | |
Therapie als auch in den verschiedenen Praxen der Gesprächstherapie nur zäh | |
voran“, räumt Forscher Johannes Kopf-Beck ein. „Trotzdem haben wir bei der | |
Kombination beider Therapieformen sehr gute Effektstärken gemessen.“ | |
Die Studien zeigten den Forschenden, dass die Probanden, mit ihrer | |
Leidensgeschichte konfrontiert, in Konzentrationstests besser abschnitten | |
als vor den Therapiesitzungen. Durch die aufarbeitenden Gespräche mit den | |
Therapeuten werden im Hirn neue Nervenzellverbindungen gebildet – und die | |
halten nachhaltig. | |
„Die langfristigen Effekte der Psychotherapie sind wichtig, da bei | |
Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen der relapse, also der | |
Rückfall, eine der größten Herausforderungen darstellt. Die | |
Pharmakotherapie wirkt im Vergleich dazu eben meist nur so lange, wie die | |
Medikamente genommen werden.“ | |
In Deutschland gibt es aber lediglich 32.500 Kassensitze für | |
PsychotherapeutInnen, also Lizenzen, mit denen die Therapien über die | |
gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden können. Und das bei einer | |
ständig zunehmenden Zahl an Leuten, die gerne eine Therapie machen würden. | |
Entsprechend sind die Wartezeiten in Deutschland derzeit immens. Allein für | |
einen ersten Termin in der Richtlinienpsychotherapie wartet man in Berlin | |
durchschnittlich 13 Wochen, in Baden-Württemberg sind es 17 Wochen und in | |
Nordrhein-Westfalen gar 23. | |
Bei Oliver Vorthmann hat es ein Jahr gedauert, ehe er 2016 seine erste | |
tiefenpsychologische Therapie beginnen konnte. Die Behandlung beim | |
Psychiater ist insgesamt weniger zeitaufwendig. „Ein Termin beim Psychiater | |
kann ruck, zuck gehen. Nach zwei Minuten bist du mit einem neuen Medikament | |
wieder draußen“, sagt er. | |
Dass so sehr auf Medikamente gesetzt wird, hat auch mit dem Zeitgeist zu | |
tun, meint Psychiater Gerhard Gründer. „In unserer Leistungsgesellschaft | |
ist auch die Hoffnung auf einen Quickfix mit einer Pille verankert.“ In | |
Vorträgen und Büchern fragt Gründer, wie wir uns mit der sich ständig und | |
schnell wandelnden Gesellschaft arrangieren. „Versuchen wir, unsere | |
Lebensumwelt so zu verändern, dass wir darin gesünder leben können, oder | |
versuchen wir unser Gehirn an eine lebensfeindliche Umwelt anzupassen?“ Es | |
sei einfacher, Tabletten zu schlucken, als dass wir uns mit unseren | |
Problemen auseinandersetzen. „Das kostet Zeit, Geld und viel Mühe.“ | |
Gerhard Gründer forscht [5][nach Alternativen zu den herkömmlichen | |
Psychopharmaka] – und konzentriert sich dabei auf Psilocybin, also Pilze, | |
die einen psychedelischen Rausch auslösen. In seiner aktuellen Studie | |
sammelt Gründer mit seinem Team belastbare Erkenntnisse zur Wirksamkeit und | |
Sicherheit von Psilocybin in der Depressionstherapie. | |
Gründer bereitet seine Proband*innen in aufwändigen Vorgesprächen auf | |
die psychedelische Erfahrung vor. Dann schickt er sie in einem | |
kontrollierten Setting auf einen mehrstündigen Trip. Im Labor gibt es einen | |
Therapieraum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist. Es gibt ein Bett und | |
Sessel, Schränke, dicke Vorhänge, gedämpftes Licht, Pflanzen, eine | |
Stereoanlage mit 30 Stunden Musik. Während der Erfahrung werden die | |
Personen von einer Therapeutin und einem Therapeuten betreut. | |
„Die Studien legen nahe, dass die psychedelische Erfahrung für die | |
Wirksamkeit der Therapie eine Bedeutung hat“, erklärt Gründer. „Das | |
Erlebnis muss intensiv sein. Dabei spielt es anscheinend keine Rolle, ob es | |
sich um eine angenehme spirituelle oder eine herausfordernde Erfahrung | |
handelt, was man im Volksmund auch Horrortrip nennt.“ Ein Proband erzählte | |
Gründer, er sei trotz der Vorbereitungen und des Settings in dem | |
gemütlichen Raum mit der angenehmen Musik über sechs Stunden durch die | |
Hölle gegangen. Er habe sich mit den schwierigsten Teilen seiner Psyche | |
auseinandersetzen müssen. Aber dabei wesentliche Muster überwunden. | |
Bei der Nachbesprechung ergeben die Antworten der Probanden eine Einordnung | |
in ein Punktesystem, die Hamilton-Skala. Das ist ein Diagnosewerkzeug, mit | |
der der Schweregrad einer Depression beurteilt wird. Ab einer Punktzahl von | |
9 beginnt die leichte Depression, ab 25 Punkten die schwere. Der Proband | |
mit dem Horrortrip hatte auf der Hamilton-Skala nur noch einen Punkt. | |
Wie genau Psychedelika Depressionen lösen können, ist wieder mal ungeklärt, | |
doch es gibt Hinweise, dass sie die Hirnstruktur entscheidend verändern. In | |
früheren Studien zeigten Hirnscan-Bilder aus dem MRT eine Zunahme der | |
Verbindungen zwischen den Neuronen, und das über Wochen und Monate. | |
Das ist ein Zeichen für Neuroplastizität und somit des sich verändernden | |
und anpassenden Gehirns. Die Proband*innen sprechen nach der | |
psychedelischen Erfahrung von einer emotionalen Gelassenheit und erhöhten | |
Flexibilität. | |
„Ich glaube, dass Psilocybin vielen Menschen mit Depressionen helfen kann“, | |
sagt Gerhard Gründer. „Allerdings wird es noch dauern, bis das in der | |
psychiatrischen Regelbehandlung ankommt.“ Das Bundesinstitut für | |
Arzneimittel und Medizinprodukte lehnte Gründers Vorschlag ab, schon | |
Ersterkrankte mit dem Wirkstoff zu behandeln. Diese Art der Behandlung | |
solle bis auf Weiteres Menschen mit therapieresistenten Depressionen | |
vorbehalten sein. | |
Die Hoffnung auf Psilocybin ist groß – was die Ergebnisse der Studie | |
verzerren kann. Denn wenn die Teilnehmer*innen auf eine schnelle | |
Wunderheilung hoffen, nehmen sie kleinere Verbesserungen in ihrem | |
Wohlbefinden weniger wahr. Und ein weiteres Problem: Die Versuchsperson | |
weiß ziemlich genau, ob sie auf einem Pilztrip ist oder ein Placebo | |
geschluckt hat. | |
Auch Oliver Vorthmann hat an Gerhard Gründers Studie teilgenommen. Sechs | |
Monate Vorbereitung brauchte er dafür: „Um mitmachen zu können, musste ich | |
mein Quetiapin ausschleichen. Bis zur ersten Sitzung habe ich | |
durchgehalten. Ich saß in dem Zimmer und habe die Pille bekommen. Und nach | |
einer Stunde war klar: Scheiße, Placebo.“ Das Psilocybin wäre Vorthmann | |
erst in Runde zwei verabreicht worden. Dann hätte er noch einmal über | |
Wochen ohne Schlaf auskommen müssen. | |
Er hat aber einen anderen wichtigen Schritt getan: Er geht mit seiner | |
Krankheit aktiver, offensiver um. „Ich bin in die Depressionsliga | |
eingestiegen, bin inzwischen im Vorstand und arbeite beim Gemeinsamen | |
Bundesausschuss mit. Jetzt mache ich die Ausbildung zum Peer-Berater.“ | |
Dabei würde er als Betroffener Betroffenen helfen. Schließlich weiß er am | |
besten, wie lebenswichtig Hilfe in akuten Krisen sein kann. | |
„Ich will Menschen auf Augenhöhe begegnen, beim Antistigmatisieren helfen, | |
Forschungsarbeit machen“, sagt Oliver. Er weiß, dass das Gespräch hilft, | |
dass das soziale Umfeld hilft. „Die Arbeit gibt mir Hoffnung. Für mich ist | |
das die beste Therapie. Es ist in etwa so, als würde ich meine Berufung zum | |
Beruf machen. Nur halt nicht ganz so spaßig.“ | |
Die kursiven Beschreibungen stammen von Menschen mit Depressionen, mit | |
denen der Autor gesprochen hat. | |
19 Mar 2024 | |
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