| # taz.de -- Streit um Psycho-Diagnosen: Was ist normal? | |
| > Die Neuauflage des Diagnosehandbuchs für psychische Krankheiten in den | |
| > USA sorgt für Streit. Experten befürchten, dass Gesunde als Kranke | |
| > abgestempelt werden. | |
| Bild: Traurigkeit – dauert sie länger als zwei Wochen, könnte sie bereits a… | |
| HAMBURG dpa | Was ist krank – und was noch gesund oder normal? Erst Mitte | |
| Mai wird das neue Psychiatrie-Handbuch aus den USA zu haben sein, doch der | |
| Streit darum schwelt schon seit Jahren. Die [1][Amerikanische | |
| Psychiatrische Vereinigung (APA)] will den Leitfaden für seelische Leiden | |
| (DSM-5) bei ihrer Jahrestagung offiziell veröffentlichen. Hunderte | |
| Experten, darunter auch einige Deutsche, haben mehr als ein Jahrzehnt daran | |
| mitgearbeitet und die Einteilung von Depressionen, Angst oder Schizophrenie | |
| auf den Prüfstand gestellt. Zuerst erschien das DSM im Jahr 1952. | |
| Kritiker wie der [2][US-Psychiater Allen Frances] mahnen, dass nun neue | |
| Diagnosen ohne ausreichende wissenschaftlichen Belege und unzureichende | |
| Praxistests eingeführt werden. Der emeritierte Professor hatte die Arbeit | |
| am Vorgänger DSM-IV (1994) maßgeblich mitverantwortet. Seither hat es | |
| seiner Ansicht nach „drei neue falsche Epidemien“ bei Kindern gegeben: | |
| Autismus, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und bipolare Störungen. | |
| „Jeder fünfte erwachsene US-Bürger nimmt mindestens ein Medikament wegen | |
| eines psychiatrischen Leidens ein“, schreibt Frances in seinem Buch „Normal | |
| – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“. | |
| Manche Erkrankung taucht im DSM-5 neu auf, etwa die „affektive | |
| Dysregulation“ für kleine Kinder, die regelmäßig mit Verhaltensausbrüchen | |
| auffallen. Unter „minorer neurokognitiver Störung“ wird die nachlassende | |
| Gedächtnisleistung im Alter als Krankheit erfasst. Das Asperger-Syndrom | |
| hingegen – eine Form von Autismus – wird im neuen Handbuch anders | |
| einsortiert. Doch was bedeutet dies nun für deutsche Patienten? | |
| „Für Deutschland wird die Veröffentlichung des DSM-5 im Mai keine | |
| unmittelbaren Auswirkungen haben, weil Ärzte und Psychologen nach dem | |
| Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10, abrechnen“, | |
| sagt der Hamburger Professor Rainer Richter, Präsident der | |
| Bundespsychotherapeutenkammer. | |
| Doch auch das ICD-10 werde gerade überarbeitet und es sei nicht | |
| auszuschließen, dass Diagnosen nach dem Vorbild der USA in den ICD-11 | |
| übernommen werden. „Diese Entwicklung müssen wir sorgfältig verfolgen, | |
| gerade wenn es darum geht, eine für Deutschland gültige Fassung zu | |
| erstellen.“ Das DSM ist vor allem auch als Grundlage für die Forschung | |
| anerkannt. | |
| ## Zunehmende Medikalisierung befürchtet | |
| Auch die [3][Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, | |
| Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)] plädiert in einer Stellungnahme | |
| dafür, „die Zahl der Diagnosen nicht durch neue, leichtere Störungen – f�… | |
| die es zumal keine Therapien gibt – zu erhöhen“. Der Vorstand äußert die | |
| Sorge, dass dies zu einer „Medikalisierung von Problemen unserer | |
| Gesellschaft“ führen könnte und außerdem „zu einer Vernachlässigung der | |
| medizinischen Versorgung von Menschen mit schweren psychischen | |
| Krankheiten“. | |
| Die DGPPN fügt jedoch hinzu, das Manual enthalte auch notwendige | |
| Anpassungen im Diagnosesystem, die „nicht grundsätzlich abgelehnt werden | |
| sollten“. Und die Gesellschaft begrüßt, dass einige Beschwerdebilder nicht | |
| in das DSM-5 aufgenommen wurden. Dazu zählt unter anderem das | |
| Burnout-Syndrom. | |
| Kritiker Frances schreibt, dass in den USA inzwischen 80 Prozent aller | |
| Psychopharmaka von Allgemeinmedizinern verschrieben und Diagnosen oft | |
| vorschnell gestellt würden. In Deutschland gestalten sich die | |
| Verschreibungszahlen etwas anders: „Je nachdem welche Zahlen man zugrunde | |
| legt und welche Psychopharmaka man mit einbezieht, werden etwa ein Drittel | |
| bis etwas mehr als die Hälfte dieser Medikamente von Hausärzten | |
| verschrieben“, sagt Professor Wilhelm-Bernhard Niebling, Allgemeinmediziner | |
| und Vorstandsmitglied der [4][Arzneimittelkommission der deutschen | |
| Ärzteschaft.] | |
| ## Hausärzte mit einbinden | |
| Etwa 50.000 Hausärzte stünden rund 6.000 klassischen Nervenärzten und | |
| Psychiatern gegenüber. „Wir setzen vom System her voraus, dass Hausärzte | |
| beispielsweise Depressionen erkennen und sich in der Versorgung einbringen | |
| müssen.“ Und so schwingt bei der Debatte um DSM-5 auch die Frage mit, wer | |
| eigentlich psychisch Kranke behandeln sollte. | |
| Eine neue DSM-Diagnose werden die Fachgesellschaften besonders im Auge | |
| behalten: Demnach kann eine mehr als zwei Wochen anhaltende Trauer schon | |
| der Krankheit Depression zugeordnet werden, was mit einer Behandlung – | |
| inklusive Antidepressiva – einhergehen könnte. | |
| Laut Arzneiverordnungsreport 2012 hat sich die Zahl der verschriebenen | |
| „definierten Tagesdosen“ an Antidepressiva in Deutschland in den zehn | |
| Jahren zuvor bereits mehr als verdoppelt. Auch Frances kritisiert diese | |
| Neuerung scharf. Sein Appell am Ende seines Buches: „Die Normalität ist | |
| jeden Rettungsversuch wert. So wie die Psychiatrie.“ | |
| 22 Apr 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.psychiatry.org/advocacy--newsroom/news-releases | |
| [2] http://www.psychologytoday.com/experts/allen-j-frances-md | |
| [3] http://www.dgppn.de/ | |
| [4] http://www.akdae.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Christiane Löll | |
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