# taz.de -- Neue Bücher zum „Burnout“: Hurra, hurra, die Klasse brennt | |
> Vom Rock 'n' Roll ins Management: Die Soziologen Sighard Neckel und Greta | |
> Wagner analysieren den Burnout als Besserverdiener-Syndrom. | |
Bild: Nur noch ein Schatten ihrer selbst: vom Burout Betroffene. | |
Harald Schmidt ist ja nicht nur Entertainer, er ist auch bekennender | |
Hypochonder und Schirmherr der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Als | |
solcher hat er kürzlich den öffentlichen Wirbel um Burnout kritisiert. Das | |
sei inzwischen ein Besserverdiener-Syndrom, so Schmidt. | |
Für Greta Wagner ist Burnout ein Ehrenmal: „Manager schmücken sich mit | |
Burnout, sie zeigen, wie sehr sie sich eingesetzt haben und wie viel sie | |
geleistet haben, sodass Burnout so eine Art Verwundeten-Abzeichen | |
darstellt.“ Die Frankfurter Soziologin hat mit ihrem Kollegen Sighard | |
Neckel einen Sammelband herausgegeben: „Leistung und Erschöpfung – Burnout | |
in der Wettbewerbsgesellschaft“. | |
Ausbrennen ist also eine Frage der Klasse – und des Geschlechts, so Wagner: | |
„Burnout wird assoziiert mit männlichen Leistungsträgern der Oberschicht. | |
Also eine Krankheit, die man sich durch außergewöhnliche Leistungen | |
verdient hat. Depression ist eher weiblich konnotiert, als passive | |
Erkrankung, die lähmt und nicht als Ergebnis herausragender Anstrengungen | |
betrachtet wird.“ | |
Auch im Rock ’n’ Roll ist Burnout Privileg und Zierde männlicher | |
Leistungsträger aus der Oberschicht. „It’s better to burn out, than to fade | |
away, cause rust never sleeps“, sang einst Neil Young, Kurt Cobain schrieb | |
den Satz unter seinen Abschiedsbrief, bevor er sich mit einer Ladung Schrot | |
das finale Burnout verpasste. Während der selbstzerstörerische „Die Kerze | |
muss von beiden Seiten brennen“-Lifestyle im Rock ’n’ Roll seinen | |
fadenscheinigen Glanz längst verloren hat und die wenigen verbliebenen | |
Protagonisten dieser Sorte Rockismus zu Lemmy-artigen Witzfiguren | |
verkommen, feiert der Wild-&-gefährlich-Habit ein Comeback in einem ganz | |
anderen Milieu: dem Topmanagement. | |
## Wild-&-gefährlich-Habit | |
„Joe Kaeser liebt das Rampenlicht“, schreibt die Frankfurter Rundschau über | |
den neuen Boss von Siemens. „Klingelton auf seinem Handy ist der | |
Rolling-Stones-Song ’I can’t get no satisfaction‘. Keine Befriedigung | |
finden zu können ist für einen Topmanager wohl eher ein positives Moment.“ | |
Kaeser hat den Ökonomiestudenten und Thatcher-Bewunderer Mick Jagger ganz | |
richtig verstanden. Dessen „Satisfaction“ war ja nicht der Hilferuf eines | |
armen Frustrierten, sondern das präpotente Braggadocio eines Superfickers, | |
den noch so viele willige Weiber nicht befriedigen können. | |
Nie genug kriegen, den Hals nicht vollkriegen, mit ihrer ostentativen Gier | |
machen sich Topmanager vom Schlage eines Josef Ackermann zum Buhmann der | |
niederen Stände und zur Zielscheibe einer ebenso alt- wie hausbackenen | |
Kapitalismuskritik. | |
Für sich selbst, so scheint es, ziehen sie einen gewissen Glamour aus ihrer | |
Performance: Für den Erfolg brennende, gegen sich und andere rücksichtslose | |
Ego-Fighter, die letzten Rock ’n’ Roller der Wirtschaft, die Iron Men des | |
Managements: „Was ich mag: Leistung, die auf Willen, Anstrengung, | |
Überwindung und Leiden beruht.“ Das war das Burnout-Credo von Carsten | |
Schloter, wie einem Artikel der Zeit im September zu entnehmen ist. | |
## Einer lückenlosen Überwachung ausgesetzt | |
Unter der Überschrift „Freitod in der Chefetage“ berichtet das Blatt über | |
eine Selbstmordserie unter Topmanagern in der Schweiz. Schloter war Chef | |
des Telekommunikationsunternehmens Swisscom und hat sich im Juli erhängt, | |
mit 49. „Immer erreichbar, immer unterwegs, immer auf Vollgas“, so wird er | |
in der Zeit charakterisiert. Um den mobilen Menschen zu verkörpern, habe er | |
auf ein eigenes Büro verzichtet. Was für ein sagenhaftes (Vor-)Bild: der | |
sich selbst kasteiende Boss als Obdachloser, auf never ending World Tour. | |
Für Greta Wagner ist die Erreichbarkeit des mobilen Menschen „Teil eines | |
Prozesses, den man unter Entgrenzung von Arbeit fasst, das zunehmende | |
Ineinandergreifen von Arbeit und Freizeit. Das sind alles Dinge, die | |
erkämpft wurden: flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit, zu Hause zu | |
arbeiten, was zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie führt, | |
also der Schritt vom Fordismus, in dem man von neun bis fünf arbeitet und | |
das mit Stechuhr gemessen wird, zum Postfordismus, in dem man flexibel | |
arbeitet und von zu Hause aus.“ Die Errungenschaft von gestern wird zur | |
Pein von heute. | |
Im Postfordismus bestimmt nicht mehr die Fabriksirene den Lebensrhythmus, | |
kein Vorgesetzter treibt uns an. Das Individuum selbst kann entscheiden, | |
wann und wie viel es arbeiten muss, um eine bestimmte Vorgabe zu erfüllen. | |
Die neue Freiheit bringt neue Pflichten mit sich und ein neues Profil: den | |
Burnout-gefährdeten Arbeitskraftunternehmer. Greta Wagner: „Ein neuer | |
Typus, der zwar abhängig beschäftigt ist, sich aber verhalten soll wie ein | |
Unternehmer, also selbstverantwortlich und innovativ, gleichzeitig aber, | |
weil er abhängig beschäftigt ist, einer lückenlosen Überwachung ausgesetzt | |
ist, in kleinteiligen Erfolgskontrollen und Kennziffern kontrolliert wird.“ | |
## Nicht krank, ausgebeutet | |
Diese Arbeitsorganisation verlangt erhöhte Selbstkontrolle und | |
Selbstmotivation. Im permanenten Multitasking verzettelt sich der | |
Arbeitskraftunternehmer, er brennt aus. Die Container-Diagnose „Burnout“ | |
privatisiert und individualisiert gesellschaftliche Konflikte, die | |
Ausgebrannten sind nicht in der Lage, sich zu organisieren. Dafür müssten | |
sie sich „nicht als krank, sondern als ausgebeutet“ begreifen, so Frieder | |
Vogelmann im Burnout-Reader. Und sie müssten den schwierigen Schritt vom | |
Ich zum Wir schaffen. | |
Eine Gewerkschaft der Ausgebrannten ist einstweilen nicht in Sicht, kein | |
Burnout United nirgends. Beim unvermeidlichen Versuch, der fatalen Lage | |
etwas Positives abzugewinnen, landen die Herausgeberinnen Neckel und Wagner | |
bei einer hübsch paradoxen Figur: „Burnout als Innovation“. Burnout sei | |
eine Möglichkeit, sein Leiden an der Arbeitswelt zu artikulieren und zu | |
kommunizieren. „Diese Möglichkeit steht mittlerweile immer mehr Leuten | |
offen“, meint Wagner. Unklar bleibt, an wen sich die Klage richten könnte. | |
Wo im Fordismus der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit feste Rollen | |
garantierte, gilt heute: „Ein identifizierbarer äußerer Feind existiert | |
nicht länger.“ So der englische Kulturtheoretiker Marc Fisher in seinem | |
Buch „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“. An die Stelle | |
gewerkschaftlich organisierter Proleten treten atomisiert konkurrierende | |
Arbeitskraftunternehmer, die gezwungen sind, „unternehmerisch zu handeln | |
und ihre Arbeitskraft fortwährend zu optimieren“. Wenn die alte bipolare | |
Ordnung der Klassengegensätze sich auflöst bzw. unkenntlich wird, dann | |
verlagert sich die Bipolarität in die multitaskend | |
arbeitskraftunternehmerischen Subjekte – Störungen und Symptome inklusive. | |
## Ungleiches Wettrennen | |
Fisher erkennt zum Beispiel eine um sich greifende „depressive Hedonie“. | |
Ein guter Ersatz für die Allzweckdiagnose Prokrastination, die das | |
Depressive an Aufschubtechniken des Burnout-gefährdeten Multitaskers | |
einseitig betont – zu Ungunsten der hedonistischen Freuden, die mäandernd | |
surfende Arbeitsumgehung ja nun auch mit sich bringt –, um hier nicht das | |
große Wort „Arbeitsverweigerung“ zu benutzen. | |
Die von Neckel und Wagner avisierte Möglichkeit, sein Leiden an der | |
Arbeitswelt zu artikulieren, wird offenbar tatsächlich vermehrt genutzt. | |
Adressaten sind allerdings weniger diejenigen, die diese Leiden verursacht | |
haben – wer immer das sein mag –, als diejenigen, die von den Leidenden | |
profitieren und dafür sorgen, dass diese so schnell wie möglich wieder in | |
der Arbeitswelt funktionieren. | |
Parallel zum Burnout boomt seit geraumer Zeit das Geschäft der | |
Verhaltenstherapeuten. Mit ihrer effizienz- und ergebnisorientierten, | |
strikt an Preis-Leistungs- und Machbarkeitsmargen orientierten Methodik | |
läuft die Verhaltenstherapie sukzessive der Psychoanalyse den Rang ab. Alt | |
und langsam sehen sie aus, die Lehren Doktor Freuds mit ihren ebenso | |
endlosen wie ergebnisoffenen Couchsessions, die dem Burnout mit Ödipus | |
beizukommen suchen und dabei manchen Umweg in Kauf nehmen, wo die | |
Verhaltenstherapie mentale Fitness mit kybernetisch-gymnastischer Präzision | |
garantiert. In diesem ungleichen Wettrennen droht der Psychoanalyse mangels | |
messbarerer Erfolge der ökonomische Burnout. Man könnte depressiv werden. | |
13 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Walter | |
## TAGS | |
Burnout | |
Manager | |
Rock'n'Roll | |
Babak Rafati | |
Burnout | |
Stress | |
Großbritannien | |
Psychologie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Schiedsrichter Rafati über den DFB: „Ich bin ein neuer Mensch“ | |
Schiedsrichter Babak Rafati erklärt, warum er nach seinem Suizidversuch den | |
DFB so offensiv angriff. Und wie der Verband versucht, Probleme | |
auszusitzen. | |
Debatte Burn-out: Mode oder Aufschrei | |
Viele belächeln das Ausgebranntsein als Managerkrankheit. Doch die vielen | |
Burn-outs bedeuten mehr: Die Erschöpfung bedroht die Demokratie. | |
Studie der Techniker Krankenkasse: Deutschland im Stress | |
Frauen sind gestresster als Männer. Großstädter fühlen sich stärker | |
belastet. Am meisten leiden Menschen, die um die 40 Jahre alt sind. | |
Kulturkritische Flugschrift: Populär ohne Populismus | |
Wichtiges Diskursfutter: Mark Fishers kritischer Essay „Kapitalistischer | |
Realismus“ ist nun endlich ins Deutsche übersetzt. | |
Streit um Psycho-Diagnosen: Was ist normal? | |
Die Neuauflage des Diagnosehandbuchs für psychische Krankheiten in den USA | |
sorgt für Streit. Experten befürchten, dass Gesunde als Kranke abgestempelt | |
werden. |