| # taz.de -- Debatte Burn-out: Mode oder Aufschrei | |
| > Viele belächeln das Ausgebranntsein als Managerkrankheit. Doch die vielen | |
| > Burn-outs bedeuten mehr: Die Erschöpfung bedroht die Demokratie. | |
| Bild: Wenn nichts mehr geht, geht vielleicht noch Ausspannen. | |
| Bereits vor 20, 30 Jahren war Burn-out als „Helfersyndrom“ unter | |
| Sozialarbeitern ein bewegendes Thema, also in einer Nische. Heute lässt es | |
| sich aus den Zentren dieser Mediengesellschaft nicht mehr vertreiben. | |
| Der Kultursoziologe Ulrich Bröckling stellt fest: Zwar werde von Fachleuten | |
| unentwegt gestritten, ob Burn-out ein eigenes Krankheitsbild sei, nur ein | |
| anderes Wort für erschöpfungsbedingte Depressionen oder nur eine von der | |
| Therapie- und Wellnesswirtschaft erfundene Mode, jedoch stehe fest: | |
| Burn-out ist „ein Diskursereignis von geradezu epidemischen Ausmaßen“. | |
| Seit einigen Jahren analysiert der DGB, wie sich der „Psychostress“ unter | |
| den Beschäftigten entwickelt. Die Erscheinungsformen: mehr Leistung in | |
| weniger Zeit, kürzere Taktzeiten an Montagebändern, Präsenzdruck bei | |
| virtuellen Teams, ständige Um- und Neustrukturierungen in Unternehmen, ein | |
| unauflösliches Ineinanderübergehen von Arbeits- und Privatleben, der | |
| Arbeitnehmer als „Arbeitskraftunternehmer“, so der Industriesoziologe | |
| Günther Voß, der Zwang zur „permanenten Selbstoptimierung“ (Bröckling). | |
| Das Syndrom der Erschöpfung und des Ausgebranntseins hat die Masse der | |
| Beschäftigten erreicht. | |
| ## Es trifft alle Schichten | |
| Burn-out trifft also alle Schichten: die, die am besten, und die, die am | |
| schlechtesten verdienen, Führungskräfte wie Arbeiter am Band. Trotzdem | |
| bleibt Raum für „feine Unterschiede“ (Pierre Bourdieu): Burn-out gilt als | |
| die Erschöpfung der Leistungsstarken, eine Art Heldenabzeichen der | |
| kapitalistischen Arbeitsgesellschaft; depressiv sind nur die Antriebslosen, | |
| Schwachen und latent Nutzlosen. | |
| Es gesellt sich zu den sprachlichen Unterschieden noch ein veritabler | |
| materieller: Die Belastungen der oberen Schichten, etwa im Management, sind | |
| rein psychischer Natur. Besonders bei prekär Beschäftigten speist sich die | |
| emotional-nervliche Überlastung dagegen aus zwei Quellen: dem Arbeitsdruck | |
| und den Sorgen, die sich aus einer materiell tendenziell unsicheren Lage | |
| ergeben. | |
| So sehen Soziologen wie Sighard Neckel, Universität Frankfurt, die Ursache | |
| in der sich verstärkenden Wechselwirkung von drei zeitgleichen | |
| Entwicklungen: Die Politik hat die soziale Absicherung so verringert, dass | |
| sich die Menschen angesichts der starken Unsicherheit an den Finanzmärkten | |
| allein verantwortlich um ihre finanzielle Sicherheit in existenziellen | |
| Fragen wie Alter und Krankheit kümmern müssen. Die normale Arbeit wird | |
| anstrengender und unsicherer. Und der dritte Punkt: Die seit Jahren | |
| herrschenden Managementmethoden greifen nicht nur nach der Zeit und der | |
| Arbeitskraft der Beschäftigten, sondern auch nach deren Psyche. | |
| Diese innere Landnahme durch die stummen Mechanismen der Profit- und | |
| Wettbewerbslogik ist die Signatur dieses relativ neuen kapitalistischen | |
| Arbeitslebens. Der Besteckkasten ist gut gefüllt mit Instrumenten, die | |
| geeignet sind, in das Innerste vorzudringen: Deadlines, Milestones, | |
| Projekttermine, Zielvereinbarungen. | |
| ## IG Metall muss umdenken | |
| Was tun? Eine Antwort: Eine wachsende Beraterindustrie hilft – im Verbund | |
| mit der Pharmaindustrie – Unternehmen und Verwaltungen, die wichtigen | |
| Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, längst nicht nur auf der Führungsebene, | |
| so zu formen, dass sie ohne Änderung der Verhältnisse weiterfunktionieren. | |
| Eine andere Antwort: Die Gewerkschaften setzen bei den Arbeitsbedingungen | |
| an. „Gute Arbeit“ und „Anti-Stress-Verordnung“ stehen im Mittelpunkt von | |
| Kampagnen und Verhandlungen. Was dabei auffällt: Große Schritte wagen die | |
| Gewerkschaften nicht. Denn: Wenn tatsächlich Arbeitszeiten und | |
| Arbeitsintensität Ursachen sind, dann sind Anti-Stress-Verordnungen | |
| richtig, aber die Entschleunigung via Arbeitszeitverkürzungen wäre noch | |
| richtiger. Wo, wenn nicht in den hochproduktiven und hochprofitablen | |
| Exportbranchen, organisiert von IG Metall und IG BCE, wäre eine Strategie | |
| der kürzeren Arbeitszeiten mach- und finanzierbar? | |
| Angekettet als Prominentenschicksal in Talkshows oder in Unternehmen als | |
| Frage der Arbeitsplatzgestaltung, ist die Perspektive auf das Ganze bisher | |
| nur selten in den Blick geraten: Braucht diese Demokratie eine | |
| Anti-Stress-Verordnung? Denn wie sollen Millionen sich im Beruf | |
| buchstäblich erschöpfende Menschen eine Gesellschaft mitgestalten? | |
| ## Verkehrte Aufklärung | |
| Um die geistig-ideologischen Schäden richtig zu würdigen, sei an den Kern | |
| des Prozesses erinnert. Die Unternehmen und ihr Management greifen mit | |
| Prinzipien nach der Psyche der Beschäftigten, die aus der Welt von | |
| Aufklärung und Demokratie stammen: Autonomie, Selbstorganisation, | |
| Selbstverwirklichung, Enthierarchisierung, Eigenverantwortung. | |
| Diese Prinzipien werden in den Unternehmensalltag integriert, dort den | |
| Beschäftigten erst entwendet, um sie dann gegen sie zu wenden und in den | |
| Dienst der betriebswirtschaftlichen Verwertung zu stellen. Die platte | |
| Devise: Ihr könnt arbeiten, wie, wann und was ihr wollt, ihr müsst nur | |
| nachweisbar profitabel sein. Wir haben es also mit einem Prozess der | |
| Zerstörung von Begriffen der Emanzipation zu tun. | |
| Sighard Neckel ist dennoch optimistisch: „Wenn die Unternehmen von den | |
| Menschen verlangen, ihre Energien, Kreativität und Motivation zu | |
| mobilisieren, dann hat das eine Eigendynamik. Diese Potenziale an | |
| Eigenständigkeit können die Unternehmen irgendwann einmal nicht mehr | |
| kontrollieren.“ | |
| Erschöpfte aller Länder, vereinigt euch? | |
| Damit daraus etwas wird, werden sich die Parteien und Gewerkschaften, die | |
| die Verhältnisse verändern wollen, überlegen müssen, ob und wie sie Neckels | |
| Anliegen unterstützen. Um Burn-out glaubwürdig in den Mittelpunkt des | |
| politischen Streits rücken zu können, werden die Organisationen links des | |
| Mainstreams ihre fast absolute Konzentration auf eine Politik des rein | |
| Materiellen aufgeben müssen. Eine neue Gewichtung in ihrer Politik, die in | |
| einer Gesellschaft, in der es mehr als 60 Prozent der Bevölkerung materiell | |
| ordentlich bis gut geht, bereits seit Längerem überlegenswert ist. | |
| 9 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Wolfgang Storz | |
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