# taz.de -- US-Psychiater über Diagnosehandbuch: „Die Experten waren betrieb… | |
> Der US-Psychiater Allen Frances ist besorgt, dass Kinder noch mehr | |
> Psychopharmaka bekommen. Früher hat Frances selbst am Diagnosehandbuch | |
> DSM mitgearbeit. | |
Bild: Depressionen oder einfach nur zuviel Stress und überarbeitet? | |
Sie haben in den 1990er Jahren die Kommission zur Erarbeitung des DSM-IV | |
geleitet. Seit vier Jahren kämpfen Sie gegen Änderungen im DSM-5, das von | |
der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) herausgegeben wird. | |
Wie kam es dazu? | |
Allen Frances: Ich hörte von Plänen, eine Diagnose namens | |
„Psychoserisikosyndrom“ einzuführen. Damit sollten Jugendliche | |
identifiziert werden, die Gefahr liefen, schizophren zu werden. Doch wir | |
können solche Psychosen nicht sicher vorhersagen. | |
Es bestand die Gefahr, dass Jugendliche unnötig Psychopharmaka einnehmen | |
und diese Diagnose ungerechtfertigt ein Leben lang mit sich tragen würden. | |
Zwar wurde das Syndrom dann doch nicht in DSM-5 aufgenommen, aber die APA | |
hätte das Buch so nicht verabschieden sollen. | |
Sie nennen ein gutes Dutzend Diagnosen, die Sie für falsch halten. Welche | |
macht Ihnen am meisten Sorgen? | |
Ich bin vor allem besorgt über die Kinder. Nach dem DSM-IV haben wir einen | |
dramatischen Anstieg an diagnostizierten Kindern mit | |
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, bipolaren Störungen und Autismus gesehen. | |
Aber nicht die Kinder haben sich geändert, sondern die Etiketten, oft | |
erhalten sie Psychopharmaka mit all ihren Nebenwirkungen. | |
Nun soll die Diagnose „affektive Dysregulation“ (disruptive mood | |
dysregulation disorder) für Kleinkinder aufgenommen werden, die regelmäßig | |
Wutanfälle haben. Also ein Verhalten, das oft nur eine Phase in der | |
Entwicklung eines Kindes ist. Ich befürchte, dass nun noch mehr Kinder | |
Psychopharmaka erhalten. | |
Hunderte Experten haben ein Jahrzehnt am DSM-5 mitgearbeitet - und Sie | |
sagen nun „Verwendet es nicht!“. Das führt zur Verunsicherung bei | |
Patienten. Was ist eine gute Diagnose? | |
Ich bin ein Verfechter von Psychiatrie, wenn sie nach den Regeln der Kunst | |
ausgeübt wird. Sie kann lebensrettend sein. Wenn jemand eine Schizophrenie, | |
eine schwere Depression oder extreme Panikattacken hat, dann werden Ärzte | |
dies erkennen, und die Einordnungen aus dem DSM-III von 1980 sind sehr | |
hilfreich. Medikamente und Therapien helfen den Patienten. | |
Komplizierter wird es bei den leichten bis mittelschweren Störungen, die | |
Grenzen verschwimmen da. Man kann davon ausgehen, dass fünf bis zehn | |
Prozent der Bevölkerung einmal an einer mittleren bis schweren psychischen | |
Erkrankung leiden wird. Derzeit könnte aber ein Viertel der Bevölkerung | |
eine psychiatrische Diagnose bekommen – das ist zu viel. | |
Was hätte die Kommission des DSM-5 Ihrer Meinung nach tun sollen? | |
Die Experten meinten es ja gut. Als sie mit der Arbeit anfingen, gab es | |
gerade den Zeitgeist, dass Psychiatrie viel mit Biologie und einem | |
chemischen Ungleichgewicht im Gehirn zu tun hat. Man hoffte auf | |
neurowissenschaftliche Durchbrüche, und es gab auch in anderen Bereichen | |
der Medizin die Hoffnung, Krankheiten vorbeugen oder früh erkennen zu | |
können mit Tests. | |
Das hat sich alles nicht bewahrheitet: Es gibt bisher keine | |
Früherkennungstests für psychische Krankheiten, und man hat keine einzelnen | |
Gene als Auslöser gefunden. Die APA hätte dies erkennen müssen, aber die | |
Experten waren betriebsblind. Ich plädiere, dass solche Diagnosekriterien | |
nicht von den Psychiatern selbst, sondern von unabhängigen | |
Gesundheitsexperten erstellt werden, die den Stand der Forschung | |
überprüfen. | |
24 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Christiane Löll | |
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