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# taz.de -- Psychische Probleme und viel Ideologie: Kampfzone Patchworkfamilie
> Kinder aus solchen Familien stehen schlechter da. Das liegt auch an
> Benachteiligungen im Familien- und Steuerrecht. Und an schlechten
> Beziehungen.
Bild: Für Patchwork-Kinder ist das Leben oft etwas schwieriger.
MÜNCHEN taz | Immer wenn Nora bei ihrem Papa zu Besuch ist, herrscht
Ausnahmezustand. Der hat nämlich eine neue Frau, Tamara. Sie kommt mit der
neunjährigen Nora nicht klar: "Das Kind ist verzogen und neurotisch",
glaubt sie. Nora hat mal wieder Kaugummis unter die Tische geklebt und ist
selten bereit, im Haushalt mitzuhelfen. "Du hast mir gar nichts zu sagen",
keift sie Tamara dann an. In der Schule ist Nora sehr schlecht geworden,
auch die Lehrerin empfiehlt den Gang zum Kinderpsychologen, wenn sich die
Wogen in der Patchworkfamilie nicht bald glätten.
Patchworkfamilien, auch Stieffamilien genannt, gibt es immer häufiger. Und
zwar, weil die Scheidungsrate seit den 60er Jahren ansteigt. 50 Prozent
aller deutschen Ehen werden heute innerhalb von sieben Jahren geschieden.
Mehr als die Hälfte der geschiedenen Eltern hat schon nach einem Jahr
wieder einen neuen Partner. Etwa drei von zehn Kindern erleben darum bis zu
ihrem 18. Lebensjahr eine Patchwork-Konstellation.
In den 80er Jahren schätzte man, dass heute 50 Prozent der Kinder in einer
Patchworkfamilie groß werden. Es herrschte damals auch eine gewisse
Euphorie hinsichtlich dieser neuen Lebensform, zumindest in gewissen
Kreisen. Patchwork, Flickenteppich – das klingt irgendwie bunt und lustig,
nach Befreiung von der spießigen Normalfamilie. Heute assoziieren die
meisten Menschen Patchworkfamilien jedoch mit Chaos, viel Streitereien und
unglücklichen Kindern.
## Bunt und lustig – oder pures Chaos?
Und auch die Wissenschaft bescheinigt Kindern aus Patchworkfamilien
zahlreiche Nachteile: Patchworkkinder werden öfter Opfer von Misshandlung
oder Vernachlässigung, sind häufiger psychisch auffällig, häufiger
übergewichtig, Jugendliche haben öfter Schulprobleme und werden häufiger
straffällig.
Marcelo Aebi, Kriminologe an der Universität Lausanne, hat etwa im Jahr
2003 aufgedeckt, dass rund 40 Prozent der Jugendlichen aus traditionellen
Familien schon mindestens einmal gegen das Gesetz verstoßen haben, bei
Kindern aus Ein-Eltern-Familien waren es 48 Prozent, bei Patchwork-Kindern
58 Prozent. Aebi hat auch eine Erklärung dafür: "Die stärksten Bindungen an
die Eltern bestehen in klassischen Familien, die schwächsten in
Stieffamilien." Und wenn Kinder nicht gut mit ihren Eltern auskämen,
begünstige das das Abgleiten in die Kriminalität.
Laut den Studien von Martin Daly und Margo Wilson, Evolutionspsychologen an
der kanadischen Uni Hamilton, sterben Stiefkinder früher. Zudem haben die
Forscher herausgefunden, dass 32 Prozent der Kinder, die bei mindestens
einem Stiefelternteil leben, Opfer einer Misshandlung werden, dagegen nur 3
Prozent jener Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern leben.
## Stiefkinder zeigen doppelt so viele Verhaltsauffälligkeiten
Für diese Phänomene haben Daly und Wilson evolutionsbiologische Erklärungen
parat: Stiefeltern wollen lieber in die Weitergabe ihrer eigenen Gene
investieren. Vor allem Stiefväter würden die Kinder der Frau regelrecht
"wegbeißen" wollen. Auch die Psyche leidet offensichtlich in Stieffamilien:
So weisen Stiefkinder doppelt so häufig, etwa 20 Prozent,
Verhaltensauffälligkeiten auf wie Kinder aus traditionellen Familien.
Der Neurologe und Psychiater Bertrand Flöttmann glaubt, dass eine
verwöhnende Erziehung, Vernachlässigung und schmerzhafte Trennung beim Kind
zu psychischen Störungen führen: "Darum zeigen Patchworkkinder eine erhöhte
Aggressivität, neurotische Fehlhaltungen und verringerte soziale
Kompetenz." Viele Wissenschaftler sind darum der Meinung, dass Eltern "der
Kinder wegen" möglichst lange zusammenbleiben sollten.
Doch ist das Leben in Stieffamilien wirklich so düster, wie es diese
Befunde glauben machen? Klaus Hurrelmann, Soziologe an der Universität
Bielefeld, meint dazu: "Man kann nicht leugnen, dass Kinder statistisch
besehen etwas schlechter dastehen, wenn sie in Stieffamilien aufwachsen."
## Es gibt auch Familien, in denen es gut läuft
Allerdings gibt es auch viele Patchworkfamilien, wo es gut läuft. "Der
große Teil der Patchworkfamilien sind normale Familien, von denen manche
Mitglieder nicht wissen, dass sie in einer Patchworkfamilie leben. Ein
kleiner Teil genießt das Patchworkdasein: mehr Großeltern, mehr Geschenke,
man kann zum anderen Elternteil ausweichen, es gibt mehr Feste, eben alles
was eine Großfamilie lebenswert macht. Und ein nicht zu unterschätzender
Anteil der Patchworkfamilien ist problematisch bis höchstproblematisch",
meint Walter Bien, Soziologe am Deutschen Jugendinstitut. Also alles so wie
im richtigen Leben.
Die Unterschiede sind auch eher gering. Laut der Shell-Jugendstudie 2006
leidet in Scheidungsfamilien das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren
Eltern – jedoch nur vorübergehend. Betroffene Jugendliche gaben an, dass
sie zwar gelegentlich Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern hätten, aber
insgesamt gut mit ihnen auskämen. Auch DJI-Studien zeigen, dass es nur
geringfügig mehr Reibereien in Stieffamilien gibt.
Die psychische Stabilität von Kindern hängt jedoch nicht vorrangig von der
Familienform ab, sondern von vielen anderen Faktoren. So haben US-Studien
ergeben, dass eine schlechte psychische Gesundheit bei Patchworkkindern
vielmehr mit der Schwere von familiären Konflikten einhergeht. Kinder in
Patchworkfamilien müssen erst mal eine Trennung verarbeiten, die von vielen
auch traumatisch erlebt wird. Der Trennung gingen oft auch schon schwierige
Jahre voraus. Dazu kommen zahlreiche Veränderungen in ihrem Lebensalltag,
etwa neuer Wohnort, neue Schule, Stief- und Halbgeschwister und finanzielle
Engpässe der Eltern. "Das soziale Umfeld benachteiligt Familien, die nicht
zur traditionellen Form gehören: Kindergeld, Ehegattensplitting,
Arbeitsbedingungen, alles ist an der Normfamilie ausgerichtet und darunter
leiden die anderen Familien sehr", gibt Hurrelmann zu bedenken.
## Ideologisch belastet
Andererseits bietet auch die traditionelle Familie keinen Garantieschein
für wohl geratenen Nachwuchs: "Es gibt keine gesicherten Beweise, dass die
traditionelle Familie die bestmögliche Gewähr für eine glückliche und
liebevolle Erziehung bietet", so Norbert Schneider, Familiensoziologe an
der Universität Mainz.
Einige Studien weisen sogar im Gegenteil darauf hin, dass Kinder aus
alternativen Familienformen eher in der Lage sind, Verantwortung zu
übernehmen, sensibler auf Diskriminierung reagieren und über flexiblere
Rollenauffassungen von Frau und Mann verfügen.
Es ist also immer eine Frage des "Wie". Dass dieses "Wie" alles andere als
einfach ist, weiß der dänische Familientherapeut Jesper Juul: "Optimal für
die Kinder ist es, wenn die leiblichen Eltern anständig miteinander umgehen
und der neue Partner nicht die Erzieherrolle übernimmt, sondern dem Kind
ein guter Erwachsenenfreund wird". Und die DJI-Forscher haben aufgedeckt,
dass es auch sehr darauf ankommt, wie gut der Kontakt zum getrennt lebenden
Elternteil ist.
Das Thema ist und bleibt mit viel Ideologie behaftet. Bis heute wird die
Kernfamilie auch von vielen Wissenschaftlern als einziger Ort von Ordnung
und Stabilität sakralisiert, und das, obwohl die Studien dazu mittlerweile
sehr differenziert sind.
8 May 2011
## AUTOREN
Kathrin Burger
## TAGS
Psychische Erkrankungen
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