# taz.de -- Psychopillen mit Placebowirkung: Pillen, an die man glauben soll | |
> 1,3 Milliarden Tagesdosen an Antidepressiva werden jährlich verordnet. | |
> Die Forschung wirbt für Therapien. Doch die bekommen nur wenige | |
> PatientInnen. | |
Bild: Es müssen nicht immer Pillen sein, manchmal hilft auch ein Hund zum Stre… | |
BERLIN taz | Das neueste Geschoss kommt vom Arzneimittelkonzern | |
Neuraxpharm: Tianeurax heißt das Antidepressivum, das jetzt auf den | |
deutschen Markt kam und als Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE) | |
Depressionen bekämpfen soll. Die Pille sei besonders „gut verträglich“, | |
wirbt die Firma. Das Präparat könnte den Verordnungsboom der Antidepressiva | |
befeuern, den Kritiker misstrauisch beäugen. | |
„Es kann sein, dass aufgrund der besseren Verträglichkeit die Verordnungen | |
eines Medikaments steigen“, sagt Gerd Glaeske, Arzneimittel- und | |
Gesundheitsforscher an der Universität Bremen. | |
Rund 1,25 Milliarden durchschnittliche Tagesdosen an Antidepressiva werden | |
inzwischen pro Jahr in Deutschland verschrieben, so der | |
Arzneiverordnungsreport 2012. Damit hat sich die Zahl der verschriebenen | |
Tagesdosen in zehn Jahren mehr als verdoppelt. | |
In der Verordnungspraxis der Hausärzte „traten die Antidepressiva die | |
Nachfolge von Valium und Librium an“, sagt Glaeske. In den 60er und 70er | |
Jahren verschrieben Hausärzte bedenkenlos Valium, wenn PatientInnen über | |
Ängste und Verstimmungen klagten. Valium wie auch das bekannte Tavor | |
gehören zur Gruppe der Benzodiazepine. | |
Erst als mehr und mehr valiumsüchtige Hausfrauen in den Entzugsabteilungen | |
der Kliniken auftauchten, dämmerte den Medizinern, dass diese Pillen | |
hochgradig abhängig machen. | |
Es folgte der Aufstieg der Antidepressiva, die zwar keine unmittelbare | |
Sucht erzeugen, aber auch „Absetzprobleme“ schaffen können, so Glaeske. | |
Zuerst kamen die sogenannten tri- und tetrazyklischen Antidepressiva auf | |
den Markt, die nur leider häufig müde machen. In den 80er Jahren traten | |
dann die Selektiven-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf den Plan, die | |
aktivierender sind und weniger Nebenwirkungen haben. | |
Heute bekommen laut Daten der AOK sogar ein Drittel der | |
Antidepressiva-Empfänger die Medikamente ohne Depressionsdiagnose | |
verschrieben. Antidepressiva werden auch gegen chronische Schmerzen, | |
Harndrang, Schlafstörungen, Menstruationsbeschwerden, Prüfungsangst und | |
allerlei andere Malaisen eingesetzt. | |
Die Psychiatrie selbst hat sich durch die neuen Präparate in eine Art | |
Chemiebaukasten verwandelt. Manche Psychiater geben heute für den Abend ein | |
eher schlafanstoßendes Antidepressivum und für den Morgen ein | |
Aktivierendes. | |
Heiß diskutiert wird in Fachkreisen die sogenannte Augmentation, wenn | |
Patienten etwa neben einem Antidepressivum als Ergänzung ein | |
Antipsychotikum erhalten. | |
## Info-Austausch im Netz | |
Betroffene tauschen sich in einschlägigen Foren im Sound der | |
Drogenerfahrenen aus, so etwa „JimBim“ im [1][Blog „Psychiatrie to Go“]… | |
Kölner Psychiaters Jan Dreher. „Zuvor meine einstweilige Diagnose: Gen. | |
Angststörung mit Depression und leichtem Grübelzwang. Persönliche | |
Favorites: Cymbalta (bestes AD) für mich), EsCitalopram (wunderbar bei | |
Depri, aber zu schwach bei Angst/Panikattacken), Concor (zwar Betablocker, | |
wirkt aber sehr beruhigend bei Brustenge). Absolutes No-Go: Zyprexa (gehört | |
als Augmentation bei Depri verboteversorgungsn!!!)“. | |
Die Wirksamkeitsforschung liefert dazu ein vielschichtiges Bild. Die | |
deutsche [2][„Nationale VersorgungsLeitlinie S3“], die auf der Basis von | |
Studien erstellt wurde, rät bei leichten depressiven Episoden zur | |
Erstbehandlung, nicht generell Antidepressiva zu verabreichen. | |
Die Unterschiede zwischen Placebo und Antidepressiva seien bei den leichter | |
Erkrankten „statistisch nicht nachweisbar“. Manche Hausärzte empfehlen | |
gegen Depressionen ohnehin gerne auch Konkretes wie Ausdauersport, | |
Chorsingen oder Kochkurse. | |
## Vertrauen und Hoffnung | |
Der Verweis auf Placeboeffekte der Antidepressiva zieht eine bemerkenswerte | |
Argumentation der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft nach | |
sich. Die Kommission argumentiert in einer Stellungnahme, dass auch die | |
Verabreichung eines Antidepressivums, das nur wie ein Placebo für eine | |
gefühlte Linderung sorgt, immerhin besser sei als eine „Nichtbehandlung“. | |
Zumal die Pillen im Rahmen einer „von Vertrauen, Empathie und Hoffnung | |
geprägten Arzt-Patienten-Beziehung“ verordnet würden, die an sich auch | |
„therapeutisch wirksam“ sei. Im Klartext: Vor allem der Glaube an die | |
Pillenwirkung hilft. | |
Bei mittelschweren bis schweren Depressionen profitieren immerhin zwischen | |
10 bis 30 Prozent der behandelten Patienten über die Placebo-Raten hinaus | |
von Antidepressiva, so die Forschung. | |
Zur Behandlung von akuten leichten und mittelschweren Depressionen könne | |
wahlweise eine Pharmakotherapie oder eine Psychotherapie angeboten werden, | |
heißt es in der Leitlinie. Bei schweren und chronischen Depressionen sollte | |
beides angewandt werden, eine Therapie mit Medikamenten und eine | |
Psychotherapie. | |
## Meist ohne Psychotherapie | |
Psychotherapien allerdings sind teuer und die Zuteilung ist sehr | |
unausgewogen. Der GEK Arzneimittelreport 2009 zeigte, dass gerade ältere | |
Frauen häufig Psychopharmaka ohne Psychotherapie bekommen. Laut der | |
Erhebung macht unter den 30- bis 34-jährigen Frauen, denen Antidepressiva | |
verordnet wurden, etwa jede Dritte auch eine Psychotherapie. | |
Bei den 60- bis 64-jährigen Frauen auf Antidepressiva bekam dies aber nur | |
jede Achte. Generell werden Frauen fast um die Hälfte mehr Psychopharmaka | |
als Männern verschrieben. | |
Die hohen Verschreibungszahlen gerade bei älteren Frauen werfen die Frage | |
auf, ob nicht ein paar positive Altersbilder mehr für Frauen in der | |
Gesellschaft vielleicht eine stärkere antidepressive Wirkung hätten als so | |
manche Pille. Glaeske rügt: „Der Verordnungsboom ist auch eine Unterwerfung | |
unter bestehende Verhältnisse“. | |
9 Feb 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://psychiatrietogo.wordpress.com/ | |
[2] http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/depression/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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