| # taz.de -- Studien zu Arzneimitteln: Datengemauschel der Pillendreher | |
| > Pharmakonzerne, Wissenschaftler und Fachmagazine veröffentlichen kaum | |
| > Misserfolge in der Forschung. Die Ergebnisse vieler Studien bleiben | |
| > unbekannt. | |
| Bild: Studien mit positiven Ergebnissen werden häufiger publiziert – und Med… | |
| Es ist eine lange Liste von Ausreden, die der Pharmakonzern Roche den | |
| Forschern der [1][Cochrane Collaboration] vorlegte. Roche hatte | |
| versprochen, alle Daten zur Wirksamkeit des Grippemedikaments Tamiflu zur | |
| Verfügung zu stellen, doch ein Team um den Grippeexperten Peter Doshi | |
| wartet bis heute auf deren Vollständigkeit. | |
| Die Begründungen, warum die Daten den Forschern nicht überlassen werden | |
| können, wirken teilweise surreal. So sei es nicht möglich, den Forschern | |
| Zugang zu den Daten zu geben, da bereits andere Wissenschaftler an einer | |
| Analyse arbeiteten. Außerdem, so Roche, habe man Vorbehalte, weil einige | |
| der beteiligten Forscher sich in der Vergangenheit öffentlich über Tamiflu | |
| kritisch geäußert hätten. | |
| Das Beispiel Tamiflu zeigt, wie schwer es Wissenschaftler oft haben, | |
| Zugriff auf medizinische Studienergebnisse zu erhalten. Zum einen werden | |
| oft nur Zusammenfassungen publiziert, aber nicht die detaillierten | |
| Protokolle, die für unabhängige Reanalysen von Studienergebnissen notwendig | |
| sind. | |
| Zum anderen werden nur etwa die Hälfte aller medizinischen Studien, die | |
| durchgeführt werden, später auch veröffentlicht. Besonders problematisch: | |
| Studien mit positiven Ergebnissen werden häufiger publiziert – und | |
| Medikamente erscheinen wirksamer, als sie sind. | |
| ## Weitgehend nutzlos | |
| Deutlich zeigte sich das etwa am Beispiel von Antidepressiva. Eine | |
| Untersuchung betrachtete alle Studien, die zu zwölf sogenannten selektiven | |
| Serotoninwiederaufnahmehemmern bei der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA | |
| angemeldet wurden. Von 38 Studien mit einem positiven Ergebnis wurden 37 | |
| veröffentlicht. Hingegen gab es 36 Studien mit einem negativen Ergebnis – | |
| davon schafften es nur drei in die wissenschaftliche Fachliteratur. | |
| Als dies bekannt wurde, führte ein Team der Cochrane Collaboration eine | |
| erneute Analyse mit allen Studiendaten durch: Bei leichten und | |
| mittelschweren Depressionen sind die Antidepressiva weitgehend nutzlos, | |
| lediglich bei starken Depressionen konnte ein Effekt nachgewiesen werden. | |
| Das Phänomen, dass lediglich Studienergebnisse mit einem bestimmten | |
| Ergebnis veröffentlicht werden, ist in der Wissenschaft als | |
| Publikationsbias bekannt. Derartige Verzerrungen aufzudecken ist schwer und | |
| macht Forschern wie denen der Cochrane Collaboration, die Metaanalysen | |
| durchführen, die Arbeit nicht leicht. Bei einer Metaanalyse wird versucht, | |
| alle in der Vergangenheit durchgeführten Studien zu einem Thema | |
| zusammenzufassen. | |
| Die Praktiken der Pharmaunternehmen hat der britische | |
| [2][Guardian-Journalist und Arzt Ben Goldacre] in seinem neuen Buch „Bad | |
| Pharma“ zusammengefasst. Die von Goldacre beschriebenen Möglichkeiten zur | |
| Verfälschung von Studiendaten sind vielfältig. So enthalten etwa Verträge | |
| zwischen Medikamentenherstellern und Wissenschaftlern häufig Klauseln, die | |
| dem Unternehmen die Hoheit über die Studiendaten garantieren. Ohne | |
| Zustimmung dürfen die Studienergebnisse nicht publiziert werden. | |
| ## Studienregister | |
| Auch das Veröffentlichen der Vereinbarung selbst ist den beteiligten | |
| Forschern und Universitäten meist untersagt. Eine Lösung für das Problem | |
| des Publikationsbias könnten Studienregister sein, bei denen Studien vor | |
| ihrem Beginn registriert werden müssen. Somit ist gewährleistet, dass | |
| negative Daten nicht unter den Tisch fallen. | |
| Ein solches Register gibt es bereits in den USA. Durch den [3][FDA | |
| Amendments Act 2007] sind Forscher – theoretisch – verpflichtet, | |
| medizinische Studien zu registrieren und spätestens ein Jahr nach ihrer | |
| Fertigstellung zu veröffentlichen. | |
| „Der FDA Amendments Act fordert nur die Veröffentlichung von Studien nach | |
| 2008“, erklärt Ben Goldacre die Probleme der US-Regelung. „Wir brauchen | |
| aber alle Studien, die an Menschen durchgeführt wurden, inklusive älterer | |
| Studien, für alle Medikamente, die aktuell im Einsatz sind.“ | |
| Eine Untersuchung im Fachmagazin British Medical Journal sah sich die in | |
| den USA registrierten Studien im Jahr 2011 an. Nur rund ein Viertel der | |
| gemeldeten Studien wurden in der geforderten Zeit publiziert. Von der | |
| Pharmaindustrie finanzierte Studien schnitten dabei mit 40 Prozent im | |
| Vergleich noch deutlich besser ab als die unabhängig von der Industrie | |
| finanzierte Forschung, die nur in 9 Prozent der Fälle rechtzeitig | |
| veröffentlicht wurden. | |
| ## Verheerende Ergebnisse | |
| Trotz dieser verheerenden Ergebnisse wurden bislang in keinem einzigen Fall | |
| Strafzahlungen beteiligter Unternehmen oder Forscher verfügt. Der | |
| demokratische Kongressabgeordnete Ed Markey brachte kürzlich einen | |
| Gesetzentwurf in die Diskussion, der die Lücken in der bisherigen Regelung | |
| schließen soll. Insbesondere soll auch für Studien im Ausland, wenn sie für | |
| die Medikamentenzulassung herangezogen werden, eine Registrierungspflicht | |
| bestehen. | |
| „Während es in den USA zumindest kleine Fortschritte gibt, fehlt in | |
| Deutschland ein entsprechendes Gesetz bislang völlig“, erklärt Gerd Antes, | |
| Direktor des deutschen Cochrane-Zentrums, der taz. „Zumindest die | |
| Registrierung aller medizinischen Studien sollte eine | |
| Selbstverständlichkeit sein.“ | |
| Das British Medical Journal, eine der wichtigsten medizinischen | |
| Fachzeitschriften, hat auf Goldacres Buch reagiert und angekündigt, ab 2013 | |
| nur noch solche Studien zu veröffentlichen, aus denen sämtliche | |
| Studiendaten, darunter auch die umfangreichen Studienprotokolle und die | |
| anonymisierten Daten über einzelne Studienteilnehmer, Wissenschaftlern zur | |
| Verfügung gestellt werden. | |
| Außerdem drängt die Zeitschrift darauf, dass die Cochrane Collaboration von | |
| Roche alle gewünschten Daten zu Tamiflu erhält. Es geht um viel Geld: Viele | |
| Länder, darunter auch Deutschland, haben Tamiflu auf Vorrat gekauft, um es | |
| im Falle einer Grippepandemie einzusetzen. Läuft die Mindesthaltbarkeit ab, | |
| muss entschieden werden, ob diese Vorräte erneuert werden. | |
| 5 Jan 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.cochrane.org/ | |
| [2] http://www.guardian.co.uk/profile/bengoldacre | |
| [3] http://www.fda.gov/regulatoryinformation/legislation/federalfooddrugandcosm… | |
| ## AUTOREN | |
| Hanno Böck | |
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