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# taz.de -- Psychische Störungen: Immer mehr Depressive
> Die Zahl der Krankschreibungen wegen Depressionen nimmt zu. Der Grund: Es
> gibt weniger Vorurteile und die Krankheit wird besser erkannt.
Bild: In jüngeren Generationen scheinen psychische Störungen zuzunehmen.
"Psychische Störungen nehmen zu" - das glaubt zumindest die Öffentlichkeit,
aber auch unter Experten gilt psychisches Leid als "Epidemie das 21.
Jahrhunderts" - man spricht sogar vom "Age of Depression". Und viele
Gesundheitswissenschaftler warnen vor einer Kostenexplosion. Schließlich
haben frühere Langzeitstudien in den USA eine deutliche Zunahme vor allem
an Depressionen und bei jüngeren Menschen geschätzt. Veränderungen der
Arbeitsstrukturen durch Globalisierung und moderne Informationstechnologien
aber auch Terrorismus und Individualisierung sollen für einen Anstieg an
Depressionen, Suchterkrankungen, Psychosen oder Angststörungen
verantwortlich sein.
Laut einer aktuellen Studie der Universität Münster gibt es allerdings
heute kaum mehr Betroffene als vor 50 Jahren. Dirk Richter,
Gesundheitswissenschaftler an der Fachhochschule in Bern und seine
Münsteraner Kollegen haben 44 Studien aus Westeuropa, Nordamerika und
Australien unter die Lupe genommen, in denen alle paar Jahre die Häufigkeit
psychischer Störungen in der Bevölkerung erhoben wurde.
"Frühere Studien hatten viele methodische Probleme", so Richter. Ein Fehler
bei vielen Studien war etwa, dass ältere Probanden sich an vergangene
Seelenzustände erinnern sollten - man hat also nicht aktuell gemessen.
Daraus folgerte man, dass psychische Störungen in jüngeren Generationen
zunehmen.
Auch aus einem anderen Grund, musste Richter viele Studien bei seiner
Auswertung verwerfen: Diagnostische Definitionen und Messinstrumente haben
sich im Laufe der Jahre immer mehr verändert. Im Jahr 1980 hat man
beispielsweise das "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders"
(DSM), der Vereinigung der Amerikanischen Psychiater (APA) komplett
erneuert, was den Vergleich von heute und damals immens erschwert. "Gute
Daten hat man nur, wenn man über viele Jahre mit immer demselben Instrument
misst", so Richter.
Richter fand auch bei psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
etwa bei Magersucht oder der Hyperaktivitätsstörung keinen Trend nach oben.
Nur die Demenzen nehmen tatsächlich zu - als Folge der steigenden
Lebenserwartung in westlichen Gesellschaften. Forscher der Universität
Dresden haben berechnet: Etwa jeder vierte EU-Bürger erleidet heute in
einem Jahr eine psychische Erkrankung. Im Verlauf eines Lebens steigt das
Risiko auf 50 Prozent.
Fakt ist jedoch, dass immer mehr Arbeitnehmer aufgrund von psychischen
Störungen im Job fehlen. In zehn Jahren stieg laut der DAK der Anteil
psychischer Erkrankungen von sechs auf zehn Prozent. Jede dritte
Frühberentung wird mittlerweile mit einer psychischen Störung begründet, so
belegt eine Statistik der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA).
Vor zehn Jahren waren lediglich 20 Prozent der Erwerbstätigen betroffen.
Der Grund? Menschen verlassen die Arztpraxis heute häufiger mit der
Diagnose "Psychische Störung". Denn: Depressionen, die etwa 80 Prozent der
psychischen Krankheiten ausmachen, sind heute mit weniger Vorurteilen
behaftet und erhalten mehr öffentliche Aufmerksamkeit, was zu einer
Entstigmatisierung führt. Darum vertrauen sich mehr Menschen einem
Psychologen an und auch Hausärzte erkennen psychische Leiden besser.
Insbesonders jüngere Männer haben heute weniger Hemmungen, sich in eine
Therapie zu begeben.
Weil Depressionen also häufiger erkannt werden, steigt der Verkauf von
Psychopharmaka - Antidepressiva erzielten beispielsweise von 2005 auf 2006
einen Zuwachs von sieben Prozent - und auch Psychotherapien werden häufiger
verschrieben. "Dieser Trend ist zu begrüßen, weil dadurch wahrscheinlich
auch immer mehr Betroffene angemessen behandelt werden", so Jürgen Fritze
von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN). Bislang erhalten nämlich nur etwa 25 Prozent der
Betroffenen irgendeine Behandlung, ob diese adäquat ist, bleibt dabei
ungewiss. Das sehen Psychologen mit Sorge, schließlich werden unbehandelte
Störungen leicht chronisch und erschweren den Betroffenen das soziale
Miteinander erheblich.
Die aktuelle Finanzkrise oder das Mobbing am Arbeitsplatz, setzen uns also
vermutlich nicht so stark zu, wie oft befürchtet. Auch andere Fakten
sprechen dagegen: Aktuelle Studien bescheinigen westlichen Gesellschaften
etwa eine hohe Lebensqualität. Es gibt heute weniger Selbstmorde als vor
dreißig Jahren, Tötungsdelikte stagnieren, der Alkohol-pro-Kopf-Konsum ist
rückläufig. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sank etwa im
Jahr 2007 der Alkohol-Konsum um 2,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Schon in den 1870er Jahren gab es übrigens zwei Lager. Die einen meinten,
es gäbe mehr psychisch Kranke, die anderen meinten, es gäbe lediglich eine
bessere Erkennung. Bis heute dauerte diese Debatte augenscheinlich an.
Eigentlich könnte die Richter-Studie nun einen Schlussstrich darunter
ziehen. Das wird sie aber vermutlich nicht, weil viele gesellschaftliche
Akteure von der Annahme, dass psychische Krankheiten im Steigen begriffen
sind, profitieren - etwa Psychotherapeuten, Krankenkassen, Ärzteverbände,
Gewerkschaften, Wissenschaftler, Patientenorganisationen aber auch
Pharmafirmen. Sei es um mehr Arzneien abzusetzen, politisch Druck auszuüben
oder einfacher an Fördergelder zu kommen.
8 May 2009
## AUTOREN
Kathrin Burger
## TAGS
psychische Gesundheit
Psychische Erkrankungen
Psychologie
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