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# taz.de -- Schaden und Nutzen der Psychiatrie: „Ich nehme gern Psychopharmak…
> Der eine war 21 und hatte Angst vor Menschengruppen – bis er endlich
> Medikamente bekam. Der andere war nach dem Abi aufgedreht – und wurde
> einfach weggesperrt.
Bild: Gefangen im Selbst: Wo ist der Ausgang?
## Wie mir die Diagnose half
Hier steht nirgends mein Name. Ich habe kurz überlegt, ob ich ihn unter
diesen Artikel setze. Aber nur wenige Kolleginnen und Kollegen kennen meine
seelischen Abgründe. Vielleicht ist das besser so. Eigentlich sollten
psychische Störungen heute kein Makel mehr sein. Aber wenn ich erzähle,
dass ich seit Jahren Psychopharmaka nehme und das durchaus ein Dauerzustand
bleiben könnte, ernte ich oft eine Mischung aus Mitleid und Irritation, die
mir unangebracht erscheint. Weil ich damit zufrieden bin. Sehr sogar.
Ich leide unter einer sozialen Phobie. „F40.1“, lautet der Code, den
Psychiater dafür verwenden. Die ICD-Klassifikation beschreibt mit diesem
Kürzel die „Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zu
Vermeidung sozialer Situationen führt“.
Für Nichtbetroffene klingt das eher harmlos. Kennt man ja. Ein bisschen
Angst. Aber auch wenn sich eine fauchende Katze und ein fauchender Tiger
eigentlich nur im Maßstab unterscheiden: Die Begegnung ist etwas völlig
anderes. Und der Phobiker sieht nun mal einen Tiger.
Dass die Bestie für mich fast auf Normalmaß geschrumpft ist, verdanke ich
einer Substanz namens
(E)-5-Methoxy-1-[4-(trifluormethyl)phenyl]pentan-1-on-[O-(2-aminoethyl)oxim
]: Fluvoxamin. Ein modernes Antidepressivum, in Deutschland auch zur
Behandlung von Zwängen zugelassen.
Der selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Fluvoxamin hält den Spiegel
eines Neurotransmitters aufrecht, der für die Signalübertragung im Hirn
zuständig ist und bei Patienten wie mir abzufallen neigt.
Was dann passiert, schildere ich am besten an meinem Urerlebnis. Ich saß
damals in einer Arbeitsgruppe, die den Vertreter einer anderen Einrichtung
eingeladen hatte. Plötzlich richteten sich alle Augen auf mich: Ich solle
dem Gast doch mal ein paar Projekte vorstellen. Darauf war ich nicht
vorbereitet. Ich war auf einmal gefangen in einem Körper, der mir nicht
mehr gehorchte: mit einem Herz, das die Schlagzahl verdoppelte. Und einem
leergefegten Hirn.
„Was war denn mit dir los?“ – solche entgeisterten Fragen hörte ich spä…
von Kollegen immer seltener: weil ich auswich, Heiserkeit vortäuschte oder
zur Toilette ging – und nicht wiederkam. Da hockte ich elend auf dem
Klodeckel und zählte die Minuten. Bis ich irgendwann den Weg zum Psychiater
wagte.
„Warum machst du eigentlich keine Therapie“, fragen mich manche, „statt
Pillen zu schlucken.“ Ich habe mal eine Verhaltenstherapie gemacht. Bei mir
hat es nicht funktioniert. Vielleicht weil sich jeder „Erfolg“, jede
durchzitterte Gruppensituation nur wie eine knapp verhinderte Niederlage
anfühlte.
Auch bei den Medikamenten muss man aufpassen. Mein erster Psychiater hatte
mir eine sehr niedrige Dosis verschrieben. Als ich nach einem Umzug meinem
neuen Arzt erzählte, vor sehr großen Gruppen zu reden könne ich mir immer
noch nicht ohne Bauchschmerzen vorstellen, verdoppelte er die Dosierung.
„Damit halten Sie bald Vorträge vor ganzen Hörsälen“, sagte er. Innerlich
zeigte ich ihm einen Vogel. Bald war ich schlauer.
Der Autor ist taz-Redakteur
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## Wie mir die Diagnose schadete
Neulich haben meine Freundin und ich alte Fotos angeschaut: ich mit 18
Jahren und mit 27 – vor und nach der Psychiatrie. Ich bin sehr früh von zu
Hause ausgezogen und habe neben der Schule viel gejobbt – in dem Alter
denkt man ja, man hätte unendliche Kraft. Wie heftig der Druck auf mir
lastete, merkte ich erst, als ich mein Abi bestanden hatte. Die Anspannung
fiel ab, ich hatte ein riesiges Gefühl von Freiheit.
In den folgenden Wochen habe ich kaum geschlafen, das Essen und Trinken
vergessen. Alle dachten, ich sei auf Drogen, aber das wars nicht. Eines
Tages besuchte ich ehemalige Arbeitskollegen in einem Copyshop. Ich war
völlig aufgedreht und habe die Leute genervt.
Obwohl der Laden schon zuhatte, blieb ich einfach sitzen, wollte plaudern
und ließ mich nicht bewegen, zu gehen. Aggressiv war ich nicht, nur
irgendwann reichte es meinen ehemaligen Kollegen, einer rief die Polizei.
Die Polizisten fanden meine Antworten wohl schräg, sie bestellten einen
Krankenwagen. In der Klinik sprach ich mit einer Ärztin, eigentlich ganz
ungezwungen. Doch als ich gehen wollte, hieß es, ich müsse bleiben, dann
wurde ich an eine Liege geschnallt.
Wochenlang wurde ich festgehalten. Die Medikamente waren so heftig, dass
ich wie ein Zombie durch die Station schlurfte. Niemand hat das alles mit
mir diskutiert. Die Diagnose erfuhr ich erst später: paranoide
Schizophrenie.
Ich habe mich nicht verrückt gefühlt, aber eine Fehldiagnose ist schwer zu
beweisen. Was normal und was krank ist, lässt sich nicht messen. Was mit
mir passierte – die Fixierung, die Psychopharmaka, die ich per Tropf bekam
–, war rechtens. Aber als ich nach vier Monaten entlassen wurde, hatte ich
Angstzustände und Depressionen, ich dachte an Suizid. Statt 68 Kilo wog ich
107, wegen der Pillen.
Ein halbes Jahr lang habe ich mehr oder weniger im Bett gelegen. Zum Glück
hielten einige Menschen zu mir, auch meine Mutter. Meine Diagnose wurde nie
infrage gestellt, und wenn ich widersprach, wurde das auf die Krankheit
geschoben: Schon klar, du bist eben schizophren und nicht einsichtig.
Jahre später sagte mir ein anderer Psychotherapeut, ich sei wahrscheinlich
nie schizophren gewesen, sondern hätte wohl eine Manie gehabt. Zurzeit
werde ich wegen einer Anpassungsstörung behandelt, dafür zahlt die Kasse
gerade Therapiestunden. Die ursprüngliche Diagnose aber bleibt bis zum
Lebensende in den Krankenakten.
Ich habe meinen Wohnort gewechselt, um neu anfangen zu können, denn in
meinem alten Heimatort laufe ich mit dem Stempel herum, ich sei verrückt.
Deshalb will ich meine Geschichte auch nur anonym erzählen.
Noch immer nehme ich eine geringe Dosis Psychopharmaka. Mein Arzt sagt
zwar, ich könne das lassen, aber wenn ich es versuche, habe ich Albträume,
bin gereizt, merke es sogar in meiner Körperhaltung.
Früher dachte ich, aus mir würde so ein Workaholic – zwölf Stunden Arbeit
am Tag, straffe Karriere. Aber statt zu studieren, machte ich eine Lehre
und bin heute Bürokaufmann. Die Diagnose hat mein Leben verändert.
Das Protokoll hat Esther Geißlinger aufgezeichnet.
11 May 2013
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