# taz.de -- Zwangsbehandlung in der Psychiatrie: Unter null anfangen | |
> Seit Jahrzehnten werden Patienten in geschlossenen Psychiatrien auch | |
> gegen ihren Willen behandelt. Jetzt schafft ein Gesetz die rechtliche | |
> Grundlage dafür. | |
Bild: Selbstbestimmung oder Schutz vor sich selbst? | |
Barfuß ist sie durch den Wald gelaufen, die ganze Nacht. Irgendwann steigt | |
Sabine in ein Haus ein und will sich dort aus dem Fenster stürzen. | |
Schlaflosigkeit treibt sie an, ein ruheloser, zermürbender Zustand – ein | |
Zustand, der, wie sie selbst sagt, jemanden in den Wahnsinn treiben kann. | |
Jemand muss die Polizei gerufen haben, die sie zu beruhigen sucht. | |
Zu diesem Zeitpunkt ist Sabine Mitte zwanzig und wird wegen einer Psychose | |
in einer psychiatrischen Klinik behandelt, irgendwo im Süden Deutschlands. | |
Als man es geschafft hat, sie vom Fenster zu holen, beschließen Polizei und | |
Klinikleitung, sie auf die geschlossene Station zu verlegen. | |
Was dort in den ersten Minuten passiert, weiß Sabine nur von einer | |
Krankenschwester, die ihr Wochen später alles erzählt. Anscheinend wird sie | |
laut, lässt sich nicht beruhigen. Hier setzt Sabines Erinnerung wieder ein, | |
alles geht plötzlich ganz schnell: Innerhalb kürzester Zeit sind mehrere | |
Pfleger da, fixieren sie auf einer Liege. „In dem Moment, in dem man an | |
Armen, Beinen, Bauch gefesselt ist, tickt man ja noch mehr aus“, sagt | |
Sabine. Dann greifen die Pfleger zur Spritze und injizieren ihr Haldol, ein | |
Neuroleptikum, das stark beruhigt und starke Nebenwirkungen hat. | |
## 120.000 Menschen werden jährlich zwangsbehandelt | |
Etwa 120.000 Menschen werden jährlich in Deutschland gegen ihren Willen in | |
einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Verbände, die sich | |
kritisch mit Psychiatrie auseinandersetzen, schätzen, dass jeder Zehnte von | |
ihnen jegliche Therapie ablehnt und unter Zwang behandelt wird. Die | |
Fixierung ans Bett oder das erzwungene Verabreichen von Medikamenten war | |
gängige Praxis, ohne dass es eine gesetzliche Regelung dafür gegeben hätte | |
– und das seit 1945. | |
Letztes Jahr deckte der Bundesgerichtshof diese rechtliche Lücke auf, indem | |
er Zwangsbehandlung in zwei Fällen untersagte. Ein Gesetz musste her, das | |
im Schnelldurchlauf schon im November 2012 verabschiedet werden sollte. | |
Hätte nicht der Bundesbeauftragte zum Schutz Behinderter Hubert Hüppe (CDU) | |
eingegriffen und etwa neben Expertenanhörungen auch eine Plenardebatte im | |
Bundestag initiiert, wäre das heikle Thema wohl kaum öffentlich diskutiert | |
worden. | |
Anfang des Jahres wurde das Gesetz dann von einer großen Mehrheit im | |
Bundestag beschlossen, seit Ende Februar ist es in Kraft. Damit haben Ärzte | |
jetzt eine Rechtsgrundlage: Sie dürfen den Patienten gegen seinen Willen | |
behandeln. Allerdings sind die Kriterien deutlich höher als zuvor. | |
## Nun muss ein Richter entscheiden | |
Zwangsbehandlung ist etwa nur in stationären Psychiatrien erlaubt, und auch | |
nur, sofern der Patient sich selbst oder andere gefährdet. Bislang hatte | |
ein einzelner Betreuer unmittelbar über die Notwendigkeit dieses Schritts | |
entscheiden können, jetzt müssen ein Richter und nach Möglichkeit noch ein | |
zweiter Arzt die Genehmigung erteilen. | |
Sabine ist heute Anfang dreißig und bezeichnet ihren Zustand als „sehr | |
stabil“. Eine selbstbewusste junge Frau, die gern und herzlich lacht und | |
der man in ihrer Unbefangenheit nicht anmerkt, welche tiefen Zeiten sie | |
schon durchlebt hat. Fünfzehn Jahre Psychiatrie-Erfahrung hat sie | |
mittlerweile hinter sich, sechsmal war sie auf geschlossenen Stationen, | |
zuletzt vor einem Jahr. Nach ihrer Zwangsbehandlung musste sie nicht nur | |
mit ihrer Krankheit kämpfen, sondern vor allem mit dem Trauma, dass diese | |
bei ihr ausgelöst hat. | |
Ein grausamer Zustand, sagt Sabine, „dass da was ist, an das man nicht mal | |
denken kann, weil man sonst zusammenbricht“. Es kostet sie auch heute noch | |
sichtlich Mühe, davon zu erzählen. „Diese Ohnmacht, dass man ausgeliefert | |
ist und sich nicht wehren kann“, sagt sie, „das sind einfach ganz | |
furchtbare Erlebnisse, die viele ihr Leben lang nicht mehr vergessen.“ | |
## Panik vor der Erinnerung | |
Die Psychose dauerte noch einige Wochen an, die Panik vor der Erinnerung an | |
die Zwangsbehandlung drei Jahre. Damals habe sie unter null anfangen | |
müssen, sagt Sabine. Weil alles aufgelöst schien und nichts mehr von ihr | |
übrig. Weil sie in kleinen Schritten einen Alltag finden musste. | |
Man muss die Vorgeschichten kennen, um zu verstehen, wie es zu solchen | |
Extremsituationen kommen kann: die Krankenbiografie auf der einen Seite, | |
die Hilflosigkeit des medizinischen Personals auf der anderen. | |
Akutsituationen wie sie Sabine erlebt hat, stellen auch die beteiligten | |
Ärzte vor schwere Entscheidungen. Häufiger noch stehen sie im Klinikalltag | |
vor Patienten, die über längere Zeit nicht in eine Behandlung einwilligen. | |
Endlich wird vom Gesetzgeber rechtliche Sicherheit gegeben, sagt Frank | |
Bergmann, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte, denn das | |
Gesetz klärt auch Fragen wie: Was tun mit einer Magersuchtpatientin, die | |
sich nicht helfen lassen will? Soll man warten, bis sie bewusstlos ist, und | |
dann erst eingreifen? Was sagt man dann den Angehörigen, die damit drohen, | |
die Ärzte anzuzeigen, wenn sie der Tochter nicht helfen? | |
## „Im Nachhinein dankbar“ | |
Natürlich sei jede Art von Zwangsmaßnahme für den Patienten eine | |
schreckliche Erfahrung, räumt Bergmann ein. Andererseits sei etwa bei | |
schweren Psychosen die Wahrnehmung der Betroffenen so getrübt, dass sie | |
nicht mehr entscheidungsfähig seien: „Viele sind im Nachhinein dankbar, | |
dass ihnen geholfen werden konnte.“ | |
Besonders ehemals Betroffene jedoch empfinden das Gesetz als Schlag ins | |
Gesicht. Psychiatrische Zwangsbehandlung, das ist Folter, sagt etwa Rene | |
Talbot von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrene und ist sich | |
darin mit dem UN-Sonderberichterstatter für Folter einig, der | |
Zwangsbehandlung in der Psychiatrie kürzlich ebenfalls als grausame und | |
unmenschliche Behandlung bezeichnet hat. | |
Was hat Vorrang: Selbstbestimmung oder Gesundheit? Auch die Politik ist | |
sich da uneins. Der parteilose Abgeordnete Wolfgang Neskovic zum Beispiel | |
wertet Zwangsbehandlung als einen der „schwersten Grundrechtseingriffe“. | |
Die Kriterien, die das neue Gesetz bestimmt, seien bevormundend und | |
entwürdigen den Patienten zum Objekt, so Neskovic. | |
## Es geht auch freiwillig | |
Und dann gibt es Stimmen wie die von Martin Zinkler. Wir brauchen keine | |
Zwangsbehandlung, schreibt der Chefarzt der psychiatrischen Klinik in | |
Heidenheim in einem offenen Brief an das Justizministerium. In den Monaten, | |
in denen nach einer gesetzlichen Regelung gesucht wurde und damit | |
Zwangsbehandlung zeitweise verboten war, hat Zinkler eine zunächst | |
überraschende Erfahrung gemacht: Es geht auch freiwillig. | |
„Wir haben die Patienten nicht entlassen oder zwangsbehandelt, sondern wir | |
sind drangeblieben“, erklärt Martin Zinkler. Immer wieder habe man in | |
Gesprächen herausgestellt: Wie sehen die Patienten ihre Erkrankung? Wie | |
erklären sie sich ihren Zustand? „Und in fast allen Fällen, in denen sich | |
diese Frage gestellt hat, ist es uns gelungen, eine einvernehmliche | |
Behandlung auch mit Medikamenten zu erreichen“, sagt er. | |
Überzeugen statt Zwang ausüben, das ist richtig, zieht aber vor allem auch | |
eine Konsequenz nach sich: Die Patienten bleiben deutlich länger in | |
Behandlung – statt vier Wochen oft drei Monate und mehr. Genau das will | |
sich der Staat aber nichts kosten lassen. | |
Zeitgleich mit dem Gesetz zur Zwangsbehandlung wurde auch die sogenannte | |
Entgeltregelung verabschiedet. Im Kern besagt sie, dass die Kliniken für | |
jeden Tag, den ein Patient länger bleibt, weniger Geld bekommen. Ein | |
Fehlanreiz, vor dem auch Zinkler warnt: „Es kann nicht sein, dass in | |
Deutschland die Frage, ob jemand medikamentös zwangsbehandelt wird oder | |
nicht, eine Frage der Kosten wird.“ | |
Mehr Zeit, die hätte Sabine damals auch im Akutfall gebraucht. Sie hat in | |
den letzten Jahren auch andere, positive Erfahrungen während ihrer | |
Psychiatrie-Aufenthalte gemacht, erzählt von Ärzten, die einem auf | |
Augenhöhe begegnen, und von der Krankenschwester, die die ganze Nacht neben | |
ihr am Bett sitzt und nicht von ihrer Seite weicht. Inzwischen weiß sie | |
sehr genau, was ihr guttun würde, sollte sie noch mal einen solchen | |
„außerordentlichen Zustand“ erleben. „In ein weiches Zimmer zu kommen, in | |
dem man wütend sein und schreien und sich von selbst beruhigen kann“, sagt | |
sie, „das würde schon helfen.“ | |
23 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Franziska Langhammer | |
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