# taz.de -- Krankheitsbegriff wird erweitert: Psychiatrie für alle | |
> Aktuell überarbeiten Psychiater das DSM-System zur Einstufung psychischer | |
> Krankheiten. Nächste Stufe: DSM-V. Das könnte Krankheiten schaffen, wo | |
> gar keine sind. | |
Bild: Anders, verrückt, oder krank – oft eine Frage des Bezugssystems. | |
HAMBURG taz | Einer der Grundpfeiler der hippokratischen Medizin lautet: | |
primum non nocere – zuerst keinen Schaden anrichten. Wenn es nach dem | |
Psychiater Allan Frances geht, wird dieser ethische Grundsatz zurzeit von | |
seinen Kollegen untergraben. Eine Task Force von Wissenschaftlern arbeitet | |
derzeit an einer Neuauflage des Klassifikationssystems für psychische | |
Störungen, dem DSM. Hier steht geschrieben, wo Normalität aufhört und | |
psychische Störungen anfangen, was noch Trauer ist und was schon eine | |
Depression und wie temperamentvoll ein Kind sein darf. | |
Seit die Amerikanisch-Psychiatrische Gesellschaft (APA) vor fast einem Jahr | |
erste Einblicke in die geplante fünfte Ausgabe des Handbuchs gewährte, tobt | |
ein heftiger Streit. Denn Wissenschaftler, Mediziner und selbst Autoren der | |
neuen Ausgabe fürchten, mit der Veröffentlichung Millionen neue Patienten | |
zu schaffen. Wurden in der ersten Ausgabe 1952 noch ein paar Dutzend | |
Krankheiten beschrieben, sind es heute 357. | |
Mit DSM-V wird es die nächste Revolution geben. "Wir kommen an den Punkt, | |
wo es kaum noch möglich ist, ohne eine geistige Störung durchs Leben zu | |
kommen - oder zwei oder eine Handvoll", sagt Allan Frances. Der emeritierte | |
Professor von der Duke University in North Carolina war Schirmherr der | |
Vorgängerausgabe DSM-IV. Er ist einer der größten Kritiker von DSM-V. | |
Für Aufsehen sorgt etwa die Neuaufnahme eines abgeschwächten | |
Psychose-Syndroms, so etwas wie die Vorstufe einer Psychose. Die Idee | |
dahinter ist: Macht man die Kinder ausfindig, die später eine Psychose | |
entwickeln werden, lässt sich eine ernsthafte Erkrankung vielleicht | |
verhindern. | |
## "Abgemilderte Krankheitsformen" einbezogen | |
Für Wolfgang Gaebel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie der | |
Universität Düsseldorf und einer der wenigen Europäer im | |
DSM-V-Experten-Komitee, ein echter Fortschritt, weil "nun auch abgemilderte | |
Krankheitsformen einen diagnostischen Wert bekommen". Bislang sitzen diese | |
Patienten fest in einem Raum zwischen Normalität und Krankheit. "Hier wird | |
die neue DSM-Klassifikation Klarheit bringen", so Gaebel. | |
Doch zu welchem Preis? Selbst unter Hochrisikopatienten wird wahrscheinlich | |
nur ein Bruchteil tatsächlich einmal eine Psychose entwickeln. Die Rate der | |
falsch-positiven Befunde dürfte erheblich sein. "Auf jeden jungen | |
Patienten, der richtig diagnostiziert wird, kommen zwischen drei und neun | |
Menschen, die fälschlicherweise zu Kranken gemacht werden", schätzt Allan | |
Frances. | |
Der Psychologe weiß aus eigener Erfahrung, was kleine Veränderungen in der | |
Klassifikation bewirken können. Als Frances und seine Kollegen sich | |
entschieden, die Kriterien für die Aufmerksamkeitsstörung ADHS auszuweiten, | |
schufen sie eine Epidemie. "Wissenschaftler wollen, dass jeder eine | |
Behandlung bekommt", so Frances. "Sie sorgen sich aber nicht um die, die | |
fälschlicherweise als krank diagnostiziert werden und Behandlungen | |
bekommen, die sie nicht brauchen." | |
## Falschdiagnosen bei ADHS | |
So stieg die Zahl der Kinder mit der Zappelphilipp-Diagnose in den Jahren | |
darauf schlagartig an – und zwar weit über die zuvor berechneten | |
Fallzahlen. Erst kürzlich kamen zwei Studien zu dem Schluss, dass in den | |
USA etwa eine Million Kinder fälschlicherweise mit ADHS diagnostiziert | |
wurden. Bei ihrer Einschulung waren sie jünger und damit auch lebhafter als | |
ihre Klassenkameraden. | |
Es stellt sich zunehmend die Frage: Wie emotional darf man sein, bevor man | |
aus dem engmaschigen Netz der Normalität fällt? Stirbt etwa der Mann, das | |
eigene Kind oder auch der beste Freund, kann förmlich der Boden unter den | |
Füßen wegbrechen. Vielleicht schläft man schlecht oder mag nicht essen. All | |
das sind natürliche Reaktionen auf einen schmerzhaften Verlust. | |
Aus diesem Grund schließt die aktuelle Ausgabe des DSM diese Menschen von | |
der Diagnose einer Depression aus, sofern ihre Symptome nicht länger als | |
zwei Monate andauern. Diese Hürde soll nun wegfallen. "Zwei Wochen der | |
Traurigkeit, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und Appetitlosigkeit | |
reichen dann aus für den Stempel einer Depression, und zwar unabhängig von | |
der persönlichen Situation", so Frances. | |
## Depression – oder ganz "normale" Sorgen? | |
Auch mit anderen Neuerungen laufen die Wissenschaftler Gefahr, die Grenzen | |
zur Krankheit weiter aufzuweichen. Die Diagnose "Minor Neurocognitive | |
Disorder" könnte Menschen einschließen, die im Alter ganz normale | |
Gedächtnisprobleme zeigen, und die "Mixed Anxiety Depression" ist laut | |
Frances nur schwer von den emotionalen Tiefen und Sorgen zu unterscheiden, | |
die jeder einmal erlebt. | |
Es gibt Menschen, die zerbrechen an sich selbst, an schrecklichen | |
Erlebnissen, werden von einem Wahn heimgesucht oder einer irrationalen | |
Angst. Psychische Leiden sind real und Betroffene müssen die Chance auf | |
Hilfe bekommen. Doch Menschen in einer Lebenskrise, Trauernde oder | |
Impulsive, müssen davor bewahrt werden, als krank zu gelten. Zudem gibt es | |
für den Großteil dieser Störungen und Syndrome keine eigene Therapie. | |
Die Betroffenen würden wahrscheinlich schon bald Medikamente bekommen, die | |
kaum an ihnen getestet wurden und deren Nebenwirkungen ihnen sogar schaden | |
können. Für die Pharmaindustrie ein gefundenes Fressen, gibt es doch keinen | |
besseren Weg, Medikamente zu verkaufen, als mit einer neuen Diagnose. | |
## Psychopharmaka wie aus dem Schrotgewehr | |
Psychopharmaka werden in vielen Fällen wie im Schrotschussverfahren | |
eingesetzt – "vergleichbar mit den Anfängen der Chemotherapie", sagt der in | |
der Schweiz lebende Psychiater und Wissenschaftspublizist Asmus Finzen. | |
"Wir wissen noch zu wenig über die Ursachen von psychischen Störungen, um | |
individuelle Medikamente entwickeln zu können." | |
So gibt es bislang nur wenige Wirkstoffgruppen wie Antidepressiva, | |
Neuroleptika oder Tranquillanzien, die jedoch bei vielen unterschiedlichen | |
psychischen Problemen eingesetzt werden. Dass sie den Patienten helfen, sei | |
in einigen Fällen jedoch nur ein Wunsch, so Finzen. | |
Aus diesem Grund werden nun Feldstudien die Zuverlässigkeit, Anwendbarkeit | |
und klinischer Nutzen der Neuerungen des Diagnosekatalogs überprüfen. So | |
soll verhindert werden, "dass falsch positive Diagnosen entstehen", so | |
Gaebel. | |
## Jano Costello verließ das DSM-Team | |
Jane Costello war das zu wenig. Die Psychologin verließ vor zwei Jahren das | |
DSM-Team für Störungen im Kinder- und Jugendalter. In einem mit ihrer | |
Zustimmung veröffentlichten Brief heißt es unter anderem: Es wurden | |
Entscheidungen getroffen, "mit kaum einer wissenschaftlichen Grundlage oder | |
die Unterstützung durch Untersuchungen und Studien". | |
Spätestens 2013 soll der Bestseller veröffentlicht werden. Und seine | |
Bedeutung ist kaum zu unterschätzen. In der Forschung gilt fast | |
ausschließlich das DSM-System. In vielen Ländern ist das Handbuch so | |
machtvoll, dass es als Grundlage von Sorgerechtsentscheidungen dient oder | |
einen Angeklagten für schuldunfähig zu erklären. | |
In deutschen Arzt-Praxen hat zwar die ICD-Klassifikation der | |
Weltgesundheitsorganisation Vorrang, doch auch für sie ist eine Neuauflage | |
geplant, die sich an DSM-V orientieren wird. So dauert es nicht lange, bis | |
die neuen Diagnosen in den Behandlungsräumen von Psychiatern auf der ganzen | |
Welt angekommen sind. | |
13 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Nicole Simon | |
## TAGS | |
Psychologie | |
Schwerpunkt Überwachung | |
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