# taz.de -- Erfundene Krankheiten: Schwarzbrot und Skorbut | |
> Das Erfinden von behandlungsbedürftigen Krankheiten hat Tradition. Die | |
> Krankheitsbilder ändern sich, doch geht es vor allem um den Umsatz. | |
Bild: Jetzt gibt es auch ein Nervengift gegen Kopfschmerzen. | |
BERLIN taz | Wer vor einiger Zeit durch Berlin lief, traf gelegentlich auf | |
eine Plakatkampagne: „Haben Sie häufig Kopfschmerzen oder Migräne?“, wurde | |
man gefragt und aufgefordert, den „Kopf frei fürs Leben“ zu halten. Wer bis | |
dahin noch nicht wusste, dass er von Kopfleiden heimgesucht wird, kann sich | |
auf der angegebenen Internetseite davon überzeugen: Irgendwie gehört jeder | |
ins riesige Heer, das von den klopfenden Spechten hinter der Stirn | |
malträtiert wird. | |
Die Kampagne wird verantwortet von Pharm Allergan, der deutschen | |
Vertriebszentrale des US-Konzerns Allergan, die es geschafft hat, das | |
Nervengift Botox 2001 als Kopfschmerzmittel auf dem deutschen Markt zu | |
platzieren. Was als gesundheitliche Aufklärungskampagne daherkommt, ist die | |
– hierzulande übrigens verbotene – Bewerbung von verschreibungspflichtigen | |
Medikamenten. | |
Disease Mongering nennt sich das, was Pharm Allergan lanciert, die | |
Erfindung von behandlungsbedürftigen und behandelbaren Krankheiten, die der | |
Markterweiterung der Pharmazieindustrie dient. Beteiligt sind daran, so | |
Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, | |
nicht nur geschäftstüchtige Pharmakonzerne, sondern auch Ärzteschaft, | |
Medien und nicht zuletzt die Bürger, die sich von der Benennung eines | |
diffusen Zustands Entlastung versprechen. | |
Das Schema ist immer dasselbe: Entweder werden seltene Symptome als | |
„grassierend“ beschrieben, normale Prozesse wie Alterung zu einer Krankheit | |
(„Wechseljahre“) umdefiniert oder leichte Symptome als Vorbote eines | |
schrecklichen Leidens gedeutet. Ein typisches Beispiel dafür ist das | |
Burn-out-Syndrom, für das es bis heute weder eine einheitliche | |
wissenschaftliche Definition gibt noch eine empirisch belastbare Therapie. | |
Im Fall der Kampagne liegt der Fall klar: Es geht um die Sicherung von | |
Anteilen auf dem expandierenden Gesundheitsmarkt. Aber ist das Phänomen | |
wirklich so neu und immer nur auf den schnellen Gewinn von Unternehmen | |
ausgerichtet? Wer eigentlich definiert, was krank und gesund ist und wer | |
verschiebt oder manipuliert die Grenzbereiche und aus welchen Gründen? | |
## Hysterie und Gebärmuttererstickungen | |
Modekrankheiten jedenfalls sind, obwohl der Begriff es suggeriert, | |
keineswegs so neu, wie der Würzburger Medizinhistoriker Michael Stolberg | |
auf einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats vergangene Woche erklärte. | |
Krankheitsmoden gibt es seit Beginn der Frühen Neuzeit. | |
Sie waren zunächst medizinischen Experten vorbehalten, die etwa Schwarzbrot | |
mieden, weil es angeblich Skorbut beförderte, und sanken dann ab in die | |
Niederungen des breiten Publikums, das je nach Geschlecht entweder an | |
Leibesfülle litt oder an „Gebärmuttererstickung“; im 19. Jahrhundert | |
dichtete man Frauen dann überbordende Hysterie an, während die sensiblen | |
Männer des neurasthenischen Zeitalters von Nervenschwäche befallen wurden, | |
diesem bedrohlichen Zeichen überfordernder Modernisierung, dem nur mit | |
teuren Stärkungsmitteln und absolutem Rückzug zu begegnen war. Schon die | |
symptomatische Beschreibung erinnert an unser modernes Burn-out. | |
Der Krankheitsbegriff, ist zu lernen, mäandert, folgt Bedürfnissen und | |
Moden, kann erweitert oder eingeschränkt werden und ist jedenfalls | |
wissenschaftlich nicht abgesichert. Man kann Gesundheit ganz profan als die | |
Abwesenheit von Krankheit definieren oder wie die | |
Weltgesundheitsorganisation als einen „Zustand vollkommenen körperlichen, | |
geistigen und sozialen Wohlbefindens“. | |
## Grenzverschiebungen und Begehrlichkeiten | |
Das allerdings, sagt der Philosoph Thomas Schramme, wecke heftige | |
Begehrlichkeiten und verschiebe die Grenze dessen, was als krank gilt, in | |
einen Bereich, der zumindest von einem solidarisch finanzierten | |
Krankenversicherungssystem kaum mehr bedient werden kann. Ob sein | |
Vorschlag, den Krankheitsbegriff gar nicht mehr medizinisch zu fassen, | |
sondern nur noch an ein politisch geprägtes „Behandlungsmandat“ zu koppeln, | |
wurde von der Expertenrunde allerdings skeptisch beurteilt. | |
Die Medikalisierung, also die Strategie, eigentlich sozialen und | |
lebensweltlichen Problemen ein medizinisches Outfit zu geben, um die | |
Betroffenen zu beruhigen und therapeutische Intervention zu rechtfertigen, | |
hat aber auch eine Kehrseite. | |
Es gibt Krankheiten, die als solche gar nicht erkannt und nicht behandelt | |
werden und deren Träger Gefahr laufen, stigmatisiert zu werden: Das galt | |
bis in die späten sechziger Jahre etwa für den Alkoholismus. Eine schwere | |
Depression wiederum kann als Burn-out verharmlost werden, denn es gibt | |
bisher keine biologischen Marker, um sie dingfest zu machen. | |
Andererseits gehen Patienten und Patientinnen, die sich etwa Botox für ihre | |
angebliche Migräne verschreiben lassen, das Risiko ein, sich zu schädigen, | |
denn das Gehirn ist ein „pharmako-plastisches Organ“, so Boris Quednow von | |
der Universität Zürich, „in dem jede Substanz eine Spur hinterlässt.“ We… | |
Krankheit also zum „Industrieprodukt“ (Jörg Blech) wird, geraten besonders | |
diejenigen in die Aufmerksamkeitszone der Pharmaindustrie, die Grenzwerte | |
festlegen, Krankheitsleitlinien schreiben und pharmakologische Studien | |
durchführen. | |
## Noch mehr Konsumenten | |
Jede Absenkung eines Grenzwerts – etwa bei Diabetes oder Bluthochdruck – | |
schafft einen großen Kreis neuer Konsumenten. Es müsste, so die Ethikrätin | |
und Pharmakritikerin Christiane Fischer, nicht nur auf einheitliche | |
Grenzwerte und Leitlinien gedrungen werden, sondern auch auf eine neue Art | |
der Medikamentenbewertung: Ausschlaggebend sei dann nicht mehr, wie viele | |
Patienten man behandeln muss, um einen Todesfall zu verhindern, sondern wie | |
viele es sein müssen, bis Nebenwirkungen zu beschreiben sind. | |
Und wie war das nun eigentlich mit den lästigen Wechseljahren? Zunächst ein | |
Privileg der Frauen, das jahrzehntelang mit schädlichen Hormonhämmern | |
bekämpft wurde, hat das Phänomen nun auch den Mann erfasst: Erst | |
Testosteron macht den Mann wieder zum Mann. Unser solidarisches | |
Gesundheitssystem, das viele segensreiche Seiten hat und zu verteidigen | |
ist, hat eben auch Schattenseiten. Wer etwas von der Kasse will, muss als | |
„krank“ anerkannt sein. | |
Das gilt für Menschen, die ihr Geschlecht ändern wollen, ebenso wie für | |
leidende Männer in der Midlife-Crisis. Nur dass es für die vielleicht auch | |
noch andere Wege gäbe. | |
7 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Baureithel | |
## TAGS | |
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