# taz.de -- Ärztliche Behandlung: Das Gespräch hat einen Stellenwert | |
> Gute Kommunikation ist biomedizinisch messbar und für den | |
> Behandlungserfolg entscheidend, sagt die Placeboforscherin Ulrike Bingel. | |
Bild: Die Zeit für die ärztliche Beratung ist wichtig | |
taz: Frau Bingel, Sie arbeiten als Wissenschaftlerin daran, den | |
Placebo-Effekt besser verstehen und nutzen zu können. Wirken Placebos nicht | |
gerade dadurch, dass wir als Patient:innen nichts davon wissen? | |
Ulrike Bingel: In klinischen Studien wissen die Patientinnen und Patienten | |
tatsächlich nicht, ob sie das Placebo oder das echte Medikament bekommen. | |
Das nennt man Verblindung, und sie willigen dazu vorher ein. Die Studien | |
sind wichtig, um nachzuweisen, ob ein neues Medikament überhaupt wirksam | |
ist. In experimentellen Studien versuchen wir zu verstehen, was in Gehirn | |
und Körper passiert, wenn Teilnehmende positiv auf ein Placebo reagieren. | |
Da haben wir die Probanden auch im Unklaren gelassen. | |
Welche neuen Erkenntnisse gibt es in der Erforschung des Placebo-Effekts? | |
Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass Placebo-Effekte nicht durch das | |
eigentliche Placebo bedingt sind, also durch das Medikament ohne Wirkstoff, | |
[1][sondern durch die Erwartung, die daran geknüpft ist]. Dieser | |
Erwartungseffekt ist in der Medizin allgegenwärtig. Ich habe eine positive | |
oder negative Erwartung nicht nur, wenn mir jemand ein Placebo gibt, das | |
ich für ein Medikament halte, sondern an jede Behandlung und an jedes | |
diagnostische Verfahren. Auch an meinen Arzt oder ein ganzes Krankenhaus | |
habe ich Erwartungen. Sie beeinflussen, wie ich auf Behandlungen reagiere. | |
Wie genau wirken denn Erwartungen in unserem Körper? | |
Am besten verstanden ist das für die [2][Schmerzlinderung durch eine | |
positive Erwartung]. Da werden sehr komplexe neurobiologische Vorgänge in | |
Gehirn und Körper angeregt, die sich mit funktionell bildgebenden Verfahren | |
zeigen lassen. Das ist eine spannende Sache, denn wir können dem Gehirn bei | |
der Arbeit zusehen. Dadurch verstehen wir immer besser, warum und in | |
welchen Situationen bestimmte Gehirnareale vermehrt oder vermindert aktiv | |
sind, auch welche Botenstoffe daran beteiligt sind. Allein der Glaube an | |
die Wirksamkeit einer Behandlung schüttet schmerzlindernde Substanzen wie | |
Endorphine und Opioide aus. Auch Dopamin und Cannabinoide spielen in | |
bestimmten Situationen eine Rolle. Während die Schmerzen durch positive | |
Erwartungen gelindert werden, reicht die Schmerzhemmung bis ins Rückenmark. | |
Das ist eine sehr frühe Stufe der Schmerzverarbeitung. | |
Und diese Wirkung unserer Erwartungen bis ins Rückenmark lässt sich auch | |
mit bildgebenden Verfahren zeigen? | |
Ja, mit bestimmten Techniken wie einem funktionellen MRT des Rückenmarks. | |
Spannend ist, dass diese Vorgänge in Gehirn und Körper eben auch sichtbar | |
sind, wenn kein Schmerzmittel eingenommen wurde. Wir verfügen also über | |
eine Art körpereigene Schmerzbremse oder körpereigene Apotheke, die allein | |
bei positiven Erwartungen aktiv wird. Bei der Depression scheinen die | |
Mechanismen ähnlich zu sein. Wir sehen auch sehr große Effekte bei der | |
Behandlung mit Antidepressiva. Wie Erwartungen im Immunsystem, im | |
Herz-Kreislauf-System und in der Atmung funktionieren, ist noch nicht so | |
gut verstanden. Auch Gegenstand der Forschung ist, warum es von Mensch zu | |
Mensch verschieden ist. Aber wir wissen, dass die [3][Effekte nicht | |
eingebildet, sondern echt sind]. Man kann sie messen. | |
Der Rat, optimistisch zu sein und Vertrauen in die Behandlung zu haben, ist | |
sehr leicht gegeben, aber nicht so leicht umgesetzt, wenn Krankheit und | |
Sorgen plagen. | |
Wichtig ist erst mal, sich klarzumachen, dass die eigene Grundeinstellung | |
etwas mit dem Behandlungserfolg zu tun hat. Die nächste Frage ist: Was | |
brauche ich, um eine positivere, aufgeschlossenere Haltung zu bekommen? | |
Manchen reicht es, wenn sie 30 Jahre gute Erfahrungen mit ihrem Hausarzt | |
gemacht haben. Andere haben ein sehr großes Informationsbedürfnis. Sie | |
wollen sehr genau verstehen, was das Medikament in ihrem Körper macht, und | |
sich das genau erklären lassen. Anderen Menschen hilft die Erfahrung | |
anderer. Es ist vertrauensauslösend, wenn sie mit jemandem sprechen, der | |
sagt: „Mir hat das total gut geholfen“. | |
Geht es auch darum, diese Bedürfnisse gegenüber Ärzt:innen einzufordern? | |
Richtig, fordern Sie Ihren Behandler auch heraus! Viele Patienten haben | |
Ängste und trauen sich nicht Rückfragen zu stellen. Das sind gerade die | |
Patienten, die besonders davon profitieren würden, zu sagen, dass ihnen | |
etwas unheimlich ist. „Würden Sie das Ihrer Mutter auch verschreiben?“, | |
finde ich immer eine kluge Frage, weil Ärzte dann gezwungen sind, ein | |
bisschen hinter ihren Leitlinien hervorzukriechen. Das einzufordern ist | |
sehr wichtig. Es gibt viele wunderbare Ärzte, die das freiwillig machen, | |
aber die können auch nur vor Ihren Kopf gucken. Wenn Sie Sorgen haben, | |
lieber äußern und darüber sprechen als sie herunterschlucken. | |
Nun sind manche Sorgen sicherlich berechtigt. Ärztliche | |
Aufklärungsgespräche dienen schließlich dazu, juristisch abzusichern, dass | |
Patient:innen von den Risiken gewusst haben. Was sollte man tun, wenn | |
sich negative Erwartungen durch das Gespräch mit Ärzt:innen nicht | |
auflösen oder sogar verstärken? | |
Das ist eine schwierige Frage. Mir würde es helfen, mir vor Augen zu | |
führen, was ich erreichen möchte und was passiert, wenn ich mich nicht | |
behandle. Wenn nichts passiert, wovor ich Angst habe, dann würde ich mich | |
auch nicht behandeln lassen. Aber wenn ich mich meiner Ziele vergewissere, | |
wie dass ich keine Schmerzen mehr haben oder wieder zur Arbeit gehen | |
möchte, kann das helfen. Ich halte es für wichtig, sich zumindest eine | |
Offenheit für positive Erfahrungen zu behalten. Aber ich sehe jeden Tag in | |
meiner Schmerzklinik, dass die Menschen zum Teil zehn Jahre sehr schlechte | |
Erfahrungen gemacht haben. Für diese Patienten braucht man eine | |
psychologische Unterstützung, die die Vorerfahrungen berücksichtigt. Das | |
ist sehr schwer. | |
Was muss sich gesundheitspolitisch oder in der medizinischen Ausbildung | |
verändern, damit Ärzt:innen und Patient:innen die Kraft der positiven | |
Erwartungen besser nutzen können? | |
Die ersten Schritte haben wir in der Kommunikationsausbildung von Ärzten | |
gemacht. Da haben wir einen Fuß in der Tür, aber das könnte man deutlich | |
ausweiten. Das betrifft auch die anderen Heilberufe wie Physiotherapie und | |
Logopädie. Kommunikation sollte nicht nur in der Ausbildung, sondern | |
regelmäßig geschult werden. Reanimation üben alle Mediziner schließlich | |
einmal im Jahr. Es müsste auch einen politischen Willen für mehr Forschung | |
geben, dass man nicht nur einen Zulassungsnachweis für Medikamente hat, | |
sondern auch weiß, wie man kommunizieren muss, damit das Medikament optimal | |
wirkt. | |
Welche Rolle spielt die Vergütung von ärztlicher Kommunikation und | |
Beratung? | |
Patienten bekommen leichter das fünfte Bild von ihrem Rücken, als dass mal | |
jemand eine Stunde mit ihnen spricht. Hausärzte kriegen Schnappatmung, wenn | |
ich „eine Stunde“ sage. Das ärztliche Gespräch und die Medizin als | |
Heilkunst haben an Stellenwert sehr verloren – durch einen sehr starken | |
Fokus auf biomedizinischer Forschung. Dabei ist es biomedizinisch, was bei | |
der Kommunikation im Gehirn und Körper passiert. Dadurch werden körperliche | |
Prozesse beeinflusst und das müsste im Vergütungssystem für Ärztinnen und | |
Ärzte besser abgebildet werden. | |
7 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://journals.lww.com/pain/Citation/2020/09001/Placebo_2_0__the_impact_o… | |
[2] https://link.springer.com/article/10.1007/s00115-020-00942-9 | |
[3] /Unterschaetzter-Placebo-Effekt/!5831292 | |
## AUTOREN | |
Ilka Sommer | |
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