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# taz.de -- Entscheidung über Organspende: Auf Herz und Niere
> Bald muss meine Freundin an die Dialyse. Es sei denn, jemand spendet ihr
> eine Niere. Soll ich das machen? Die Geschichte einer Entscheidung.
Hilde, meine Freundin, führt mich durch Wiens enge Gassen. Es ist kalt, und
wir ziehen uns die Mützen straff über den Kopf. „Es gibt auch die
Lebendorganspende“, höre ich sie sagen. Der Satz klingt in meinen Ohren.
Nicht erst nach dem Tod, sondern zu Lebzeiten ein Organ spenden – wie das
wohl wäre?
Hilde und ich sehen uns einmal im Jahr, dieses Mal bin ich dran, sie in
Wien zu besuchen. Nachdem sie viele Jahre in einer schwäbischen Kleinstadt
lebte, zog sie zurück in die österreichische Hauptstadt, in der sie als
junge Frau studiert hat.
Begeistert beschreibt sie Wiens Vorzüge, angefangen mit den günstigen
Nahverkehrsmitteln und dem großen Kulturangebot. Aber in Österreich zu
leben ist für sie auch deshalb von Vorteil, weil man dort schneller ein
Fremdorgan bekommt als in Deutschland. Und das wird sie brauchen.
Denn Hilde leidet an Zystennieren, einer genetisch bedingten Erkrankung,
bei der sich überall in den Nieren flüssigkeitsgefüllte Hohlräume bilden.
Hilde ist 62 Jahre, wir sind fast gleich alt. Sie hat die Krankheit bisher
gut in Zaum gehalten. Doch Zystennieren sind weder operabel, noch lassen
sie sich mit Medikamenten bekämpfen.
Zu den Hauptaufgaben der Nieren gehört es, das Blut zu reinigen. Zusammen
mit überschüssigem Wasser filtern sie nicht mehr benötigte Stoffe, um
lebensgefährliche Vergiftungserscheinungen zu verhindern.
Die Zunahme an Zysten schreitet fort, bis Hildes Nieren versagen und ein
Dialysegerät die Blutwäsche übernehmen muss. Die Aussicht auf eine Dialyse
ist für Hilde bedrückend, denn zu den möglichen Nebenwirkungen gehören
Muskelkrämpfe, Schwindel, Kopfschmerzen und vieles mehr. Das Leben von
Dialysepatienten und -patientinnen ist getaktet; in der Regel müssen sie
drei bis viermal in der Woche das Dialysezentrum aufsuchen. Die Blutwäsche
dauert [1][ungefähr vier Stunden.]
Hilde hat vieles versucht: Sie hat ihre Ernährung umgestellt, hat eine
Ayurveda-Klinik aufgesucht, ist jedem ärztlichen Rat gefolgt. Vielleicht
haben sich deshalb ihre Nierenwerte erstaunlich lange stabil gehalten, doch
aufhalten lässt sich der Verfall nicht. Die einzige Möglichkeit, die
Dialyse zu umgehen, ist für sie eine Nierentransplantation. Hildes Bruder
lebt seit dreieinhalb Jahren mit der Niere eines postmortalen
Organspenders. Sein Körper hat das neue Organ gut angenommen. Ob ihr
dasselbe Glück widerfahren wird?
Im Gegensatz zu Deutschland herrscht in Österreich die
[2][Widerspruchslösung], die besagt, dass grundsätzlich eine Organentnahme
eines am Hirntod verstorbenen Menschen zulässig ist, sofern dieser nicht zu
Lebzeiten aktiv einer Organspende widersprochen hat. Trotzdem befanden sich
in Österreich, Stand Dezember 2021, über 800 Menschen auf der Warteliste.
In Deutschland existiert hingegen die [3][Entscheidungslösung,] das heißt,
dass eine Organspende grundsätzlich nur dann möglich ist, wenn der
Organspender zu Lebzeiten eingewilligt oder sein nächster Angehöriger
zugestimmt hat. Doch immer weniger Menschen spenden ihre Organe. Jährlich
warten etwa 8.000 Menschen auf eine neue Niere. Deshalb drängt
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach darauf, die Organspendegesetze
grundlegend zu reformieren.
Im Bundestag wurde im Januar 2020 über die Widerspruchslösung debattiert,
aber die Reform scheiterte. Nun sollen die Bürger über zusätzliche
Informations- und Aufklärungsangebote dazu ermutigt werden, sich aktiv für
oder gegen eine Spende zu entscheiden und dies in einem Organspendeausweis
oder einer Patientenverfügung festzuhalten.
Die meisten Organe werden postmortal gespendet. Damit ein Patient [4][für
hirntot erklärt wird], müssen zwei qualifizierte Mediziner unabhängig
voneinander zur selben Diagnose gekommen sein.
Zu den 39 Prozent der deutschen Bevölkerung, die einen Organspendeausweis
mit sich tragen, gehöre ich nicht. Ich finde die Vorstellung schlimm, mein
Sterbensprozess könnte aufgehalten und der Körper künstlich am Leben
erhalten werden, damit ihm Organe entnommen werden. Sollten wir über eine
Seele verfügen, wo hält diese sich in dem Prozess des Sterbens auf? Was
passiert mit ihr, wenn der Körper weiterarbeitet, das Bewusstsein aber
ausgeschaltet ist?
## Sind wir Menschen mehr als Körper und erlöschender Verstand?
Ich bin weder religiös, noch bezeichne ich mich als spirituell. Aber ich
schließe nicht aus, dass wir Menschen mehr sind als unser physischer Körper
und ein mit dem Tod erlöschender Verstand. „Für meine Kinder habe ich mir
natürliche Geburten gewünscht“, erkläre ich Hilde. „Mit dem Sterben ist …
genauso: Ich möchte aus dem Leben gehen, ohne dass in den Prozess
eingegriffen wird. Weil ich nicht weiß, welche Auswirkung ein künstliches
Eingreifen haben kann.“
Vor dem Schaufenster eines kleinen Ladens bleiben wir stehen und setzen
unser Gespräch fort. Sein glitzernder Weihnachtsschmuck tut unseren Augen
fast weh.
Während die Dialyse bisher weit weg schien, rückt sie für Hilde bei
zunehmendem Alter und dem sich verschlechternden GFR-Wert näher.
GFR ist die Abkürzung für glomeruläre Filtrationsrate. An diesem Wert wird
erkannt, wie die Nieren das Blut von frei filtrierbaren Stoffen reinigen,
die dann über den Urin wieder ausgeschieden werden. Anhand dieser
Bestimmung lässt sich das Stadium einer Nierenerkrankung ermitteln.
Bei jungen, nierengesunden Menschen beträgt der Wert [5][90–130 Milliliter
pro Minute], doch liegt er unter 60 ml/min, bedeutet das, dass die
Nierenfunktion nur noch zu 60 Prozent erfüllt wird. Ab einem Wert von 10–15
ml/min werden in der Regel Vorbereitungen für die Dialyse getroffen. Davon
ist Hilde noch ein kleines Stück entfernt.
Ich erinnere mich daran, dass die Organspende des Bundespräsidenten
Frank-Walter Steinmeier an seine Frau vor zehn Jahren das Thema in die
Öffentlichkeit gebracht hatte. Damals dachte ich: „Ist doch klar. Würde
doch jeder für seinen Partner tun.“ Aber ich habe diese Nachricht nicht in
Verbindung mit meiner Freundin gebracht. Warum eigentlich nicht?
„Wer kommt für eine Lebendorganspende infrage?“ hake ich nach. „Das kann
theoretisch jeder sein – Hauptsache, die Werte passen zusammen“, erklärt
Hilde. „Erlaubt ist es aber nur unter Menschen, die entweder verwandt sind
oder in einem nahen Verhältnis zueinander stehen. Damit soll ausgeschlossen
werden, dass jemand sein Organ verkauft.“
Günstig ist es, wenn die Blutgruppen zusammenpassen. Wenn nicht,
ermöglichen medizinische Verfahren dennoch, dass es geht. Bestimmte
Gewebemerkmale von Spender:innen und Empfänger:innen sollten auch
übereinstimmen. Und natürlich müssen Spendende über eine gute
gesundheitliche Konstitution verfügen. „Kein Ding der Unmöglichkeit“, den…
ich. Gerade will ich weiterfragen, da zieht mich meine Freundin in den
Laden hinein: „Hier gibt es den schlimmsten Weihnachtsschmuck, den man in
der Stadt finden kann“, sagt sie.
## Wir haben sogar am selben Tag Geburtstag
Ein paar Wochen später wird Hilde mir sagen, dass sie genau spürte, wie
sich in mir, ihrer Freundin, vor dem mit Weihnachtsdeko überladenen
Schaufenster eine Tür öffnete. Sie öffnete sich so weit, dass es ihr beim
Hinsehen schwindlig wurde.
Hilde und ich kennen uns seit über dreißig Jahren. Wir müssen uns nicht oft
sehen, um uns einander verbunden zu fühlen. Dass wir am selben Tag
Geburtstag haben, verstärkt das Gefühl, sich nahe zu sein. Ich habe schon
immer bewundert, wie reflektiert und rational Hilde mit ihrer
gesundheitlichen Situation umgeht. Sie jammert nicht, sondern sucht aktiv
nach Möglichkeiten, der Krankheit zu begegnen.
Interessanterweise finde ich die Vorstellung, zu Lebzeiten ein Organ zu
spenden, viel weniger bedrohlich als die Situation, dies in einem hirntoten
Zustand zu tun. Vielleicht weil man den Vorgang – abgesehen von der OP
natürlich – bewusst mitverfolgen und unter Umständen auch die Konsequenzen
miterleben kann?
Wieder zu Hause in Baden-Württemberg recherchiere ich zum Thema
Organspende. Ich erfahre, dass die Chancen für den Empfänger, dass er die
fremde Niere annehmen wird und diese auch langfristig in seinem Körper
funktioniert, höher ist als bei einem Organ, das nach dem Tod gespendet
wird.
## Spenden kann, wer zwei gesunde Nieren hat
Ein Grund dafür ist, dass beide Operationen zeitlich nur kurz versetzt
verlaufen. So besteht kaum Gefahr, dass das Organ einen Schaden erleidet.
Außerdem fehlt bei verstorbenen Spender:innen der Gesundheitscheck, der
bei Lebendspender:innen vor der Transplantation vorgenommen wird.
Jeder gesunde Mensch kommt mit nur einer Niere aus, die allein zwar nur
noch 70 Prozent an Leistung erbringt, diese ist aber ausreichend, um
weiterhin ein gesundes Leben ohne irgendwelche Einschränkungen zu führen.
Spenden kann, wer zwei gesunde Nieren hat, ein gut funktionierendes Herz,
normale Gefäße, keinen Bluthochdruck und keinen Blutzucker. Und die
Empfänger:innen müssen bereits auf der Warteliste stehen, weil ein
Nierenversagen absehbar ist. Nur dann, wenn es kein Organ eines
Verstorbenen gibt, kommt die Lebendspende in Frage; diese Hürde gibt es
vermutlich, um den Lebendspender zu schonen.
Auf der Warteliste für ein Organ ist Hilde noch nicht vermerkt, aber laut
Einschätzung ihrer Nephrologin wird es nicht mehr allzu lange dauern. Und
die Schmerzen in ihren Nieren nehmen zu.
In einem Gespräch mit einer Kommission aus Experten wird sichergestellt,
dass Spendende weder unter psychischem Druck stehen noch die Spende aus
finanziellem Anreiz leisten möchten.
## Bin ich zu alt dafür?
Ich suche meinen Hausarzt auf und stottere herum. Es ist das erste Mal,
dass ich mein Vorhaben laut ausspreche. Schließlich erkläre ich ihm, dass
ich meiner Freundin eine Niere spenden möchte. Womöglich bin ich aber zu
alt dafür?, zweifele ich. Nein, überhaupt nicht, beruhigt er mich: „Solange
Sie gesund sind, ist das Alter völlig egal.“
Sind alle medizinischen und psychologischen Voraussetzungen erfüllt, wird
dem Spender in der Regel mit einem minimal-invasiv durchgeführten Eingriff
eine Niere entfernt und auf den Empfänger übertragen. Dank der
„Schlüssellochtechnik“ bleibt also nicht einmal mehr, wie es früher der
Fall war, eine längliche Narbe am Bauch zurück.
Die Nachbetreuung im Krankenhaus dauert ein bis zwei Wochen, und insgesamt
müsste ich drei bis vier Wochen für die Regeneration einplanen. Leichte
Schmerzen können bis zu drei Monaten nach der Operation noch auftreten. Als
Folge der OP gibt es vor allem bei Älteren, im Vergleich zur
Gesamtbevölkerung, das erhöhte Risiko von Bluthochdruck. Doch beim
kleinsten Verdacht, der potenzielle Spender könnte später einmal zu dieser
Risikogruppe gehören, wird die Transplantation nicht weiter erwogen.
Bleiben noch die üblichen Operationsrisiken mit der Gefahr von
multiresistenten Keimen oder Entzündungen im Wundbereich. Doch was die
medizinische Versorgung in unserem Gesundheitswesen betrifft, habe ich
bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht. Warum sollte es dieses Mal
anders sein?
Ich nehme Kontakt zu der Transplantationsklinik in Wien auf sowie zu der in
Tübingen. Schließlich leben Hilde und ich in zwei verschiedenen EU-Ländern,
wer weiß, wie kompliziert das Verfahren und die Abrechnungen mit den
Krankenkassen sein werden. Ich erfahre, dass die Krankenkasse der
Empfängerin für die OP-Kosten sowie für die Vor- und Nachuntersuchungen
zuständig ist.
Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht ohne Hildes Wissen abklären kann,
ob meine Niere für sie infrage kommt – in der Klinik, in der auch die
Transplantation vorgenommen werden würde, finden die entscheidenden
Untersuchungen statt, die die Kompatibilität unserer Werte überprüfen.
Hilde muss also mit einer Transplantation einverstanden sein und ihre
Krankenkasse darüber informieren. Schade, denke ich. Am liebsten würde ich
ihr meine Niere verpackt und mit roter Schleife vor die Tür legen. Absender
unbekannt. Ich frage mich, was die Spende für unsere Freundschaft bedeuten
würde. Kann ein Geschenk so schwer sein, dass es mehr Last als Gabe ist?
Es ist Zeit, meinem Mann die Idee zu unterbreiten. Er denkt erst einmal in
Ruhe darüber nach. Schließlich sagt er: „Wenn du meinst, das ist das
Richtige, dann tu es.“ Wir sprechen darüber, dass es für Hildes Mädchen
eine Erleichterung wäre, zu wissen, dass ihre Mutter eine Zukunft ohne
Dialyse in Aussicht hat, und sie voraussichtlich eine relativ gesunde
Mutter hätten, die lange Zeit Anteil an ihrem Leben nehmen kann. Von Hilde
weiß ich, dass die zwei älteren Töchter nicht die Krankheit ihrer Mutter
geerbt haben. Bei der Jüngsten stehen die Untersuchungen noch aus.
Ich weihe ein befreundetes Paar in meine Überlegungen ein. „Für eines
unserer Kinder würde ich nicht zögern, eine Niere zu spenden“, sagt Gustav.
„Aber da wäre auch schon meine Grenze. Denn jede Operation ist ein
Eingriff, der mit Risiken verbunden ist, die ich nicht ohne Weiteres in
Kauf nehmen wollte.“
Mir wird klar, dass ich keinen Unterschied mache: Gute Freunde und
Freundinnen sind in meinen Augen gleichbedeutend mit Familie. „Es ist keine
rationale Entscheidung“, stellt Gustav klar, „sondern allein eine
emotionale. Wenn du das Bedürfnis hast, deiner Freundin zu helfen, dann ist
es richtig.“ Anne flüstert mir beim Abschied zu: „Für dich würde ich es
auch tun“, und drückt meine Hand.
Eine irrationale Entscheidung? So sehe ich es nicht. So oft ich über die
Situation nachdenke, desto mehr halte ich die Überlegung für eine logische
Konsequenz. Eine gute Freundin braucht eine Niere, ich habe möglicherweise
eine gesunde und schenke sie ihr, da es unwahrscheinlich ist, dass ich
dadurch massive Nachteile haben werde, sie aber deutliche Vorteile daraus
gewinnt. Sprechen also, rational betrachtet, nicht viel mehr Gründe für als
gegen eine Spende?
Weihnachten treffen David und Benja, unsere beiden Kinder, bei uns ein.
Auch Antonia, Davids Freundin, ist dabei, sowie mein Schwiegervater.
## Eine OP ist immer ein Risiko
Am zweiten Weihnachtsfeiertag rufe ich eine Familienkonferenz ein.
Alarmiert sieht David mich an. Er rechnet mit dem Schlimmsten. „Keine
Sorge“, beruhige ich ihn. „Ich will nur eure Meinung zu einem Thema hören,
das mir wichtig ist.“
Wir sitzen um den mit Kerzen geschmückten Tisch. Ich erkläre meine Idee,
die sich immer mehr zu einem Vorhaben entwickelt, und sehe in die Gesichter
meiner Kinder. Ihre Mimik lässt sich schlecht deuten. Nachdem alle
verstanden haben, worum es geht, prasseln Fragen auf mich ein. Ich
beantworte sie so gut ich kann, schließlich habe ich bereits viele
Informationen zur Hand.
„Welche Blutgruppe habe ich eigentlich?“, fragt David plötzlich. Ich habe
keine Ahnung. „Warum willst du es wissen?“, frage ich zurück. „Damit ich
dir notfalls eine meiner Nieren spenden kann, sollte deine verbleibende
krank werden“, erklärt er.
Ich bin gerührt, auch wenn ich denke, dass ich sein Angebot wohl kaum
annehmen würde. Aber das sage ich nicht. Denn wie auch Hilde, die von
keiner ihrer Töchter eine Organspende annehmen wollte, würde ich nicht die
Gesundheit eines jungen Menschen gefährden wollen. Eine OP ist immer ein
Risiko.
„Wie kommt das Ganze eigentlich bei dir an?“, frage ich Benja, die sich
bisher kaum geäußert hat. Nachdenklich sieht sie mich an. „Ich vertraue dir
und deiner Entscheidung“, antwortet sie. „Auch wenn ich die Vorstellung
etwas unheimlich finde.“ Antonia, die gerade ihren Master in Soziologie
macht, will wissen, was die Statistiken sagen: „Wie hoch ist die Gefahr,
dass Spender:innen postoperative Nachwirkungen erleiden?“, fragt sie.
„Oder die Niere von der Empfängerin nicht angenommen wird?“
Das weiß ich nicht. Antonia nimmt sich vor, die entsprechenden Statistiken
zu recherchieren. Mein Schwiegervater streichelt meinen Arm: „Dein Vorhaben
ehrt dich“, sagt er. Ich erstarre. Genau das will ich nicht hören. Es
klingt, als begäbe ich mich in eine Rolle, die anderen Bewunderung
abverlangt. Das fühlt sich nicht gut an.
Bleibt nur noch, mit Hilde zu sprechen. Das schiebe ich vor mir her. Denn
eines ist klar: Sobald ich ihr eine Nierenspende anbiete, will ich dazu
stehen und keinen Rückzieher mehr machen.
Und dann habe ich sie in der Leitung. „Ich möchte, dass du mir jetzt
einfach nur zuhörst und gar nichts sagst“, bitte ich sie. Und lege los.
Nach wenigen Sekunden vernehme ich ihr Schluchzen. Darauf bin ich gefasst,
aber nicht auf ihre Worte: „Ich wusste, dass du das sagen wirst“, erklärt
sie, und augenblicklich schießen auch mir die Tränen in die Augen.
## Wir wären Blutsschwestern
Ich erinnere mich an den Moment, als wir vor dem kitschigen Laden mit
Weihnachtsschmuck standen und mir plötzlich klar wurde, dass Menschen mit
gesunden Nieren nicht tatenlos dabei zusehen müssen, wie andere geliebte
Menschen unter ihren kranken Nieren leiden. Noch bevor ich es selbst
wusste, hatte sie meine Bereitschaft gespürt, mich als Spenderin
anzubieten. „Sollten wir es wirklich machen, wären wir Blutsschwestern“,
sagt sie.
Es ist uns klar, dass die Spende unsere Freundschaft verändern wird. Ich
schreibe meiner Freundin: „Was die Dankbarkeit betrifft, so lässt sie sich
wohl nicht vermeiden. Aber sie sollte unserer Freundschaft nicht im Weg
stehen.“
„Was ist deine Motivation, mir eine Niere geben zu wollen?“, will Hilde von
mir wissen. Ich schlucke. Weiß ich es denn selbst wirklich so genau? „Ich
zweifle nicht daran, dass ich die Operation gut überstehen werde und auch
mit einer Niere gut leben kann“, überlege ich. „Aber vor allem macht mich
der Gedanke glücklich, dass dein Leben mit meiner Niere besser und
sorgenfreier werden könnte.“ Doch eine kleine Stimme in mir wispert
dennoch: „Gib’s zu, du willst Heldin spielen und bewundert werden. Alle
sollen denken, du bist ein viel besserer Mensch als alle anderen.“
Ist es eigentlich normal, so mir nichts, dir nichts, eine Niere aus sich
herausschneiden zu lassen und weggeben zu wollen? Was treibt mich zu dieser
Entscheidung an – Selbstlosigkeit, Naivität oder vielleicht doch der Wunsch
nach Anerkennung? Dass ich mir da selbst nicht so richtig traue, beunruhigt
mich. Doch da es keine klare Antwort zu geben scheint, beschließe ich,
nicht weiter darüber nachzudenken. Und weiterhin meiner Intuition zu
folgen.
## Sie muss sich fragen, ob sie das Geschenk verkraften kann
Wir nehmen uns vor, nicht voreilig vorzugehen. Hilde wird ihre Nephrologin
aufsuchen und sich mit ihr beraten, und ich werde den Gesundheitscheck
machen, aber ansonsten vereinbaren wir eine „Nieren-Fastenzeit“ von ein
paar Monaten. Meine Freundin betont, dass es mir jederzeit freistehe, meine
Entscheidung rückgängig zu machen. Aber auch sie muss sich fragen, ob sie
das Geschenk verkraften kann. Oder ob es nicht einfacher wäre, sich eines
Tages das Organ eines fremden Menschen einsetzen zu lassen, zu dem sie
keine persönliche Beziehung hat.
Hilde meldet sich bei Benja, David und meinem Mann, versichert auch ihnen,
dass sie jederzeit Einspruch erheben dürfen. Es ist ihr ebenso wichtig wie
mir, dass meine Familie hinter der Entscheidung steht. „Du bist einer der
wenigen Menschen, von denen ich die Spende vielleicht annehmen könnte“,
schreibt sie mir.
Wie würde ich es sehen, wenn ich in ihrer Lage wäre? Könnte ich das
Geschenk annehmen? Vielleicht würde ich es als allzu große Verantwortung
empfinden. Denn was, wenn die Spenderin erkrankt und später selbst eine
Niere bräuchte, die OP schiefgeht oder sich andere unvorhersehbare Dinge
ereignen? Wäre das Gefühl, verantwortlich für das Leid eines anderen
Menschen zu sein, dem es schlecht geht, weil er mir helfen wollte, dann
nicht unerträglich? „Ich weiß, dass es allein meine Verantwortung ist, was
mich betrifft“, schreibe ich zurück. „Sollte irgendetwas schiefgehen, ist
es nicht dir anzulasten.“
Drei Monate „Fasten“ vom Nieren-Thema sind vorbei. Wir sitzen auf meinem
Balkon und atmen den Sommer. Es ist ein halbes Jahr vergangen, seit unsere
Freundschaft eine neue Dimension bekam. Ob wir schon im nächsten Jahr auf
unsere Blutsschwesternschaft anstoßen werden?
## Drei Tage für Zweifel und Fragen
Für mich hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Ich würde die Sache gern
vorantreiben. „Ein bis drei Jahre noch, dann wird die Transplantation
fällig“, informiert mich Hilde. So die Einschätzung ihrer Ärztin. Genauer
lässt sich der Transplantationszeitpunkt nicht eingrenzen, denn es kommt
nicht nur auf den GFR-Wert an, sondern auf Hildes Gesamtzustand. Und je
später die gesunde Niere eingepflanzt wird, desto länger ist ihre
Lebenserwartung, sagt die Ärztin.
Nach einer Transplantation muss verhindert werden, dass das körpereigene
Immunsystem das übertragene Organ als fremd erkennt, angreift und zerstört.
Gegen solch eine Abstoßungsreaktion werden sogenannte Immunsuppressiva
eingesetzt, die das Immunsystem gezielt schwächen.
Die gewünschte Abschwächung des Immunsystems bewirkt aber auch, dass
Infektionen und Krebszellen weniger gut abgewehrt werden können als bei
gesunden Personen und somit das Infektions- und Krebsrisiko zunimmt.
Dennoch stünden Hilde, wenn alles gut geht, etwa zwanzig weitere Jahre
bevor – eine gute Lebensdauer also.
Wir treffen uns bei mir zu Hause, um drei Tage lang über aufkommende
Zweifel, Fragen und Wünsche zu sprechen. Um zu überlegen, ob wir unserer
Freundschaft die Organspende zumuten können. Und um zu entscheiden, ob wir
den nächsten Schritt zusammen gehen wollen.
## Man gibt einen Teil des Körpers
Wir rufen bei einem Paar an, das eine Nierentransplantation schon hinter
sich hat. Sandra und Ralf sind Freunde von Bekannten. Sandra hat ihrem Mann
vor sieben Jahren eine ihrer Nieren gespendet. „Ich hatte furchtbar Angst
vor der OP“, gesteht sie, als Hilde und ich vor dem PC sitzen und mit den
beiden zoomen.
Sandra ist Krankenschwester und weiß, wie es in Krankenhäusern zugeht.
Allzu gute Erfahrungen scheint sie an ihrem Arbeitsplatz nicht gemacht zu
haben. „Aber dann war es ganz anders als erwartet – das Personal hatte
Zeit, war freundlich und engagiert. Alles lief super professionell ab.“
Die OP verlief zwar gut, aber Sandra brauchte länger als Ralf, um wieder
auf die Beine zu kommen. „Da bekam ich ein schlechtes Gewissen“, gesteht
Ralf. „Wegen mir ging es ihr schlecht, während ich mich blendend fühlte –
kein gutes Gefühl.“ Aber glücklicherweise hielt der Zustand nicht lange an,
und Sandras Kräfte nahmen wieder zu.
„Was bedeutet die Transplantation für eure Beziehung?“, frage ich die
beiden, gespannt auf die Antwort. Schließlich gibt eine Person einen Teil
ihres Körpers, um die Gesundheit – vielleicht sogar das Leben – einer
anderen Person zu retten. Da könnte leicht ein Ungleichgewicht eintreten,
das die Beziehung in eine Schieflage bringt.
## Unsere Freundschaft wird die Transplantation aushalten
„Es ist ja nicht auszuschließen, dass die Ehe irgendwann auseinandergeht,
warum auch immer“, erklärt Sandra. „In dem Fall würde ich damit leben
müssen, dass ich jemandem ein Organ geschenkt habe, mit dem ich nichts mehr
zu tun habe. Doch sollte es je so kommen – das wäre in Ordnung.“ Sandra ist
sich bewusst, dass ihre Nierenspende nicht mit einer konkreten Erwartung
gegenüber ihrem Mann einhergehen kann. Und er muss in der Lage sein, das
Geschenk anzunehmen, ohne dass er eine Gegenleistung erbringen kann. Wie
sollte die auch aussehen?
Zu meinem Erstaunen schüttelt Ralf den Kopf, als ich von ihm wissen will,
ob sich sein Verhältnis zu Sandra verändert hat. „Nö“, antwortet er
lakonisch. „Höchstens dass wir jetzt mehr unternehmen können, da ich nicht
mehr an der Dialyse bin.“ Sandra lacht. „Ob ihr es glaubt oder nicht – se…
Ralf meine Niere hat, interessiert er sich für Kunst und Reisen. Was vorher
gar nicht sein Ding war!“
Wird mit dem Organ eines anderen Menschen auch gleich ein Teil seiner
Persönlichkeit mit transplantiert? So ein Blödsinn, denke ich, und finde
den Gedanken dennoch etwas unheimlich. Hilde anscheinend nicht. „Kann doch
nicht schaden, etwas von dir abzubekommen“, meint sie. Wenn ich an meine
heimlichen Katastrophenängste und andere Macken denke, bin ich mir da
leider nicht so sicher.
Am Ende der drei Tage Klausur sind Hilde und ich uns einig: Unsere
Freundschaft wird die Transplantation und was damit zusammenhängt
aushalten.
17 Jul 2023
## LINKS
[1] https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/nieren-harnblase/dialyse/dialyse-w…
[2] https://www.oesterreich.gv.at/themen/gesundheit_und_notfaelle/
[3] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/zustimmungsloesung-organspende.…
[4] https://www.organspende-info.de/organspende/hirntod/hirntoddiagnostik/
[5] https://www.apotheken-umschau.de/diagnose/laborwerte/nierenwerte-mass-fuer-…
## AUTOREN
Christine Leutkart
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