# taz.de -- Der Ethikrat: Vom Wesen der Freundschaft | |
> Sollte ein Freund einem die Blöße ersparen, um Hilfe bitten zu müssen? | |
> Der Ethikrat ist auch in dieser Frage von einschüchternder | |
> Vorbildlichkeit. | |
Bild: Der Ethikrat stand vor einer Bude, deren Fettgebackenes zurecht einen seh… | |
Kürzlich stand ich in der Schlange vor einer Bude, deren Fettgebackenes | |
zurecht einen guten Ruf genießt, als ich hinter mir den | |
Ethikratsvorsitzenden entdeckte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren, | |
die mich [1][gelegentlich aufsuchen], um mir Hinweise in Sachen praktischer | |
Ethik zu geben. Ihr Erscheinen war schon immer unwägbar gewesen, aber | |
jetzt, zu Pandemiezeiten, traf ich sie kaum noch. | |
„Sind Sie allein?“, fragte ich den Vorsitzenden, denn ich sah seine | |
Kollegen nicht. „Nein, wir sind vollständig“, sagte der Vorsitzende, „wir | |
feiern heute die Genesung eines meiner Kollegen.“ Er wies auf eine Bank, | |
auf der die beiden anderen Ratsmitglieder saßen. Eines von ihnen war | |
weitgehend unter Mütze und Schal verborgen und stützte sich auf einen | |
Spazierstock mit Papageienkopf, den ich bislang beim Ratsvorsitzenden | |
gesehen hatte. | |
Mein bisheriger Kontakt mit dem Ethikrat hatte eine gewisse Knorrigkeit und | |
ich war unsicher, ob Privates angebracht war. Aber dann ging ich doch | |
hinüber zur Bank. „Alles Gute für Ihre Genesung“, sagte ich zu dem | |
eingehüllten Ratsmitglied. „Danke“, murmelte es. Seine Hand zitterte und | |
mit ihr zitterte der Papageienstock. Der Ratsvorsitzende bot reihum die | |
Krapfen an und weil mein Hunger größer war als meine Furcht zu stören, nahm | |
ich mir einen. | |
„Womit beschäftigen Sie sich gerade?“, fragte der Ratsvorsitzende. Mir | |
schien, dass die wesentlichen Bestandteile meiner Existenz Müdigkeit, | |
Bankrott und offene Sinnfragen waren, aber das war nichts Neues. Also sagte | |
ich: „Ich las neulich einen interessanten Text über Freundschaft.“ Dem | |
rekonvaleszenten Ratsmitglied fiel der Krapfen aus der Hand auf den Boden | |
und es murmelte etwas, das wie ein Fluch klang. „Diese Krapfen sind nicht | |
sehr griffig“, sagte der Vorsitzende, während sein Krapfen plötzlich | |
ebenfalls fiel. | |
## Eine Frage der Augenhöhe | |
„Es ist ein arabischer Text aus dem elften Jahrhundert“, fuhr ich fort, | |
„und der Schreiber sagt, dass der Freund die Wünsche seines Freundes | |
erkennen soll, bevor der sie äußert. Dass Freundschaft auch darin besteht, | |
dem anderen zu ersparen, bitten zu müssen.“ In der Regel stieß das, was ich | |
dem Rat erzählte, auf ein mäßiges Echo, deshalb stockte ich an dieser | |
Stelle. „Wie stehen Sie dazu?“, fragte der Ratsvorsitzende ungewohnt milde | |
und ließ noch einmal die Tüte mit den Krapfen umhergehen. | |
„Ich finde es unmittelbar einleuchtend“, sagte ich. „Etwa, wenn man einer | |
Freundin erzählt, dass Lastschriften zurückgehen und dann nicht sagen muss: | |
‚Könntest du mir etwas leihen?‘. Es lässt einem die Augenhöhe. Aber viele | |
Leute, denen ich davon erzählte, finden, es sei zu viel verlangt, die | |
Bedürfnisse des Freundes oder der Freundin ungefragt zu erkennen“. | |
In dem Text des persischen Philosophen wird von einem Freund erzählt, der | |
immer vor dem Haus des anderen die Hausleute fragt, ob Salz oder Öl fehlt. | |
Und wenn etwas gebraucht wird, bringt er es, ohne dass sein Freund davon | |
erfährt. Es hätte nahe gelegen, dass der Ethikrat mich fragte, wie viele | |
meiner spärlichen guten Taten im Geheimen geschahen. „Keine, wenn ich es | |
irgendwie vermeiden kann“, hätte ich antworten müssen. Aber stattdessen | |
sagte der Vorsitzende: „Ein Ideal nicht zu erreichen, bedeutet nicht | |
notwendigerweise, dass es wertlos ist.“ | |
„Und später heißt es doch, dass ein Freund deine Gesellschaft sucht, ohne | |
dass er einen Zweck damit verfolgt“, fuhr ich ungefragt fort. „Ist es nicht | |
aufmunternd zu denken, dass es mehr geben kann als Arterhalt in der Familie | |
oder Interessengemeinschaften mit direkter Dividendenauszahlung?“ „Die | |
Ideen von Abu al-Ghazali bedeuten uns viel“, sagte der Vorsitzende, band | |
sich eine FFP2-Maske um und reichte dem zittrigen Mitglied seinen Arm. Sie | |
gingen davon, so langsam, als habe man sie auf Zeitlupe gestellt. | |
Ich sah ihnen mit leisem Ungenügen hinterher. Wenn der Rat keine | |
Forderungen mehr an mich stellte, würde ich für immer die ethische | |
Baustelle bleiben, die ich war. Zu Hause las ich den grämlichen Brief eines | |
alten Freundes, der mir die Freundschaft aufkündigte, weil ich mich zu | |
wenig darum kümmerte. Wo er recht hat, hat er recht, dachte ich, und warf | |
den Brief ins Altpapier. | |
31 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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