# taz.de -- Arztpraxis für trans Personen: Medizin ohne üblichen Takt | |
> Eine neue Schwerpunktpraxis in Berlin-Neukölln versucht trans Menschen | |
> individuell zu begleiten – und stößt an die Grenzen des | |
> Gesundheitssystems. | |
Bild: Elena Rodriguez und Martin Viehweger betreiben die ViRo-Praxis in Berlin … | |
Seit Jahren leidet Alexander Hahne aufgrund einer Hüftverletzung an | |
chronischen Schmerzen. Bei der Behandlung stellen Ärzt:innen seit Jahren | |
immer wieder einen Zusammenhang zwischen den Schmerzen und der Einnahme | |
seiner Hormone her. Dabei begannen seine Schmerzen lange vor seiner | |
Transition. Der 33-Jährige ist trans und nimmt seit sieben Jahren Hormone. | |
„Dass ich trans bin, wird von verschiedenen Ärzt:innen immer wieder zum | |
Thema gemacht, auch wenn es nichts mit meinem Anliegen zu tun hat“, sagt | |
Hahne. | |
Martin Viehweger und seine Kollegin Elena Rodrigues kennen die Problematik. | |
Aus diesem Grund haben die beiden Ärzt:innen im Oktober 2020 die | |
ViRo-Praxis in Berlin-Neukölln eröffnet. Der Name der Praxis setzt sich aus | |
dem jeweiligen Anfang der Nachnamen zusammen, sie richtet sich insbesondere | |
an trans Menschen. Die beiden Infektiolog:innen bieten | |
allgemeinmedizinische Unterstützung in Sachen trans Medizin, | |
infektiologische Erkrankungen und sexuelle Gesundheit an. „Wir begleiten | |
unsere Patient:innen auf ihrem Weg, den viele Mediziner:innen | |
einfach nicht verstehen“, sagt Viehweger bei einem Telefongespräch mit der | |
taz. Ihre Praxis ist [1][eine Seltenheit in Deutschland]. | |
Hierzulande suchen trans Menschen oft lange nach Ärzt:innen, die Erfahrung | |
mit der Behandlung von trans Personen haben. Besonders abseits der | |
Metropolen Hamburg, Berlin, Köln oder München ist die Lage schlecht. | |
Spezialkliniken gibt es auf dem Land nicht, weshalb viele vor der | |
Transition weite Wege für eine Psychotherapie auf sich nehmen müssen, um | |
eine Hormontherapie zu beginnen oder geschlechtsangleichende Maßnahmen | |
durchführen zu lassen. Falls sie sich diese weiten Wege mit Zug oder Auto | |
nicht leisten und die Behandlungen deshalb nicht durchführen können, kann | |
das erhebliche psychische Folgen mit sich bringen. Aber auch in Großstädten | |
kann bereits ein einfacher Besuch in einer HNO-Praxis oder bei einer | |
allgemeinmedizinischen Ärzt:in Probleme mit sich bringen. | |
„Es ist immer stressig, weil ich nie weiß, wie mein Gegenüber auf mein | |
Coming-out reagiert“, sagt Hahne. Es fühle sich mittlerweile fast | |
alltäglich an – dass sich ein Zahnarzt nach seinen Operationen erkundige | |
oder Ärzt:innen davon ausgehen, dass er als trans Person Psychopharmaka | |
einnehme, obwohl dies nicht der Fall sei. „Ich bin gar nicht mehr | |
überrascht, wenn das Personal in einer Praxis mir komische Blicke zuwirft | |
oder unangemessene Fragen stellt.“ | |
## Individuelle Behandlung | |
In der ViRo-Praxis läuft das anders. Viehweger sei es besonders wichtig, | |
die Bedürfnisse seiner Patient:innen zu verstehen, um eine passende | |
Begleitung zu schneidern: „Eine trans Sexarbeiterin, die mit ihrem Penis | |
arbeitet, braucht eine andere Hormondosierung, als eine trans Frau, die | |
eine [2][geschlechtsangleichende] Operation anstrebt.“ | |
Ein weiteres Argument, wieso Viehweger seinen Patient:innen eine | |
passende Begleitung anbieten möchte: Viele würden die Behandlung auch ohne | |
medizinische Begleitung durchführen, indem sie die Hormone im Internet | |
bestellen, die dann meist aus dem Ausland geliefert werden. | |
In Deutschland ist es seit 2011 möglich, den eigenen Namen und | |
Personenstand zu ändern, ohne körperliche Anpassungen vorzunehmen. Davor | |
war es laut Gesetz nur dann möglich, die Geschlechtszugehörigkeit rechtlich | |
ändern zu lassen, wenn trans Personen dauerhaft fortpflanzungsunfähig | |
waren, sich einer operativen Angleichung unterzogen hatten und nicht | |
verheiratet waren. Das Transsexuellengesetz, kurz TSG, wurde seit | |
Inkrafttreten [3][immer wieder als menschenverachtend kritisiert], im Jahr | |
2008 und 2011 wurden diese Vorgaben dann mit Entscheidungen des | |
Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig erklärt. | |
Seit dem Jahr 2017 können Behandlungen wie Mammografien oder | |
Prostatauntersuchungen unabhängig von der personenstandsrechtlichen | |
Geschlechtszuordnung – ausgehend vom organbezogenen Befund – bei der | |
Krankenkasse abgerechnet werden. Erst seit Juli 2019 ist es aber möglich, | |
die Behandlungen von trans und inter Personen ganz normal über die | |
Krankenkasse abzurechnen. Es spielt dabei also keine Rolle mehr, welches | |
Geschlecht im Pass der Patient:innen steht. | |
## Kaum medizinische Studien | |
Im Praxisalltag sei es nicht immer einfach, eine adäquate Behandlung zu | |
finden, sagt Viehweger. Das liegt auch daran, dass es einfach zu wenige | |
medizinische Studien gibt, die sich mit trans Menschen beschäftigten, | |
weshalb es häufig auch an wissenschaftlichen Erkenntnissen fehle. So | |
basieren laut Viehweger viele medizinische Studien zu Hormonen auf | |
Forschungen mit Schwangeren oder Post-Chemotherapie-Patient:innen und | |
lassen sich deshalb nicht direkt auf trans Menschen übertragen. Seine | |
Patient:innen kämen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, für die es | |
nicht immer die eine Musterbehandlung gebe und es viel Zeit für | |
Besprechungen brauche. | |
Patient:innen führen deshalb Vorgespräche mit Viehweger und seiner | |
Kollegin über ihre Bedürfnisse. Diese können sich aber immer mal wieder | |
ändern und unterschieden sich teilweise stark voneinander. Es komme dabei | |
auch schon mal vor, dass ein Patient, der seit 15 Jahren Testosteron | |
einnehme, sich dazu entscheide, schwanger zu werden. „Die Anliegen unserer | |
Patient:innen drehen sich um Identität, Zugehörigkeit und Sexualität“, | |
sagt Viehweger. Themen, für die es in anderen Praxen keinen Platz gebe. | |
Diese Begleitungsgespräche stellen die Ärzt:innen vor finanzielle Hürden, | |
denn so viel Zeit für medizinische Beratungsgespräche sind im deutschen | |
Gesundheitssystem nicht vorgesehen. Deshalb bereiten Viehweger und seiner | |
Geschäftspartnerin die Abrechnungsschlüssel bereits jetzt große Sorgen: | |
„Wenn wir Probleme vermeiden wollen, braucht es Gespräche zur Aufklärung | |
und Begleitung, die wir in diesem Umfang leider nicht abrechnen können.“ | |
Medizin funktioniere in Algorithmen, sagt Vieweger. „Individuelle | |
Lebensentwürfe lassen sich aber häufig nicht in einen Algorithmus packen.“ | |
Es reiche also nicht aus, Laborwerte zu überprüfen, um zu wissen, wie mit | |
den Hormonen der Patient:innen umzugehen sei. | |
Da Martin Viehweger viele der Behandlungsgespräche nicht bezahlt bekomme, | |
sei es abrechnungstechnisch ein Desaster, sagt er. Daneben fürchte er sich | |
vor einem Regress infolge einer Wirtschaftlichkeitsprüfung durch die | |
Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen. Es sei gut möglich, dass | |
er mit seiner Praxis den Richtwert des Medikamentenbudgets aufgrund teurer | |
Hormone, die er regelmäßig seinen Patient:innen verschreibt, | |
überschreite. Sollte dies der Fall sein, müsse er selbst für die Kosten | |
haften und Privatinsolvenz anmelden – und das, obwohl drei Monate nach der | |
Eröffnung der Praxis die Nachfrage aus der trans Community bereits groß | |
sei. | |
Hahne habe nach seiner Transition all seine Ärzt:innen gewechselt. „Ich | |
habe einfach keine Kraft mehr, mich mit komischen Reaktionen | |
auseinanderzusetzen“, sagt er. Wenn er zwischenzeitlich ein Problem habe, | |
gehe er nur zu Ärzt:innen oder Ordinationen, die ihm von der trans | |
Community oder von Bekannten empfohlen werden. Diese Empfehlungen machen in | |
der Community schnell die Runde, wie Viehweger bereits festgestellt hat: | |
„Ich bin immer überrascht, wenn ich merke, wie sehr wir gebraucht werden | |
und wie dankbar unsere Patient:innen schon sind, wenn man ihnen einfach | |
nur zuhört. Ich frage mich dann oft, wie es in anderen Praxen wohl laufen | |
muss.“ | |
21 Feb 2021 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Steven Meyer | |
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