# taz.de -- Gesundheitsforscherin über ihr Leben: „Man kann Vertrauen haben�… | |
> Die Bremer Wissenschaftlerin Annelie Keil konnte auch an ihrer eigenen | |
> Biografie erforschen, in welcher Beziehung Gesundheit zum Lebensweg | |
> steht. | |
Bild: Der sehnliche Wunsch, eine Familie zu gründen, blieb Annelie Keil verweh… | |
taz: Frau Keil, Sie haben mal gesagt, dass Sie in Ihrer Kindheit einen | |
interessanten Nutzen für Zeitungen gefunden haben. | |
Annelie Keil: In der russischen Kriegsgefangenschaft und danach hatten wir | |
nie Toilettenpapier. Ich weiß, dass man eine Zeitung, auch die taz, wenn | |
man sie gelesen hat, in kleine Stücke schneidet und auf einen | |
Fleischerhaken hängt. Und das ist dann Klopapier. | |
Was erinnern Sie noch aus der Kriegsgefangenschaft, in die Sie auf der | |
Flucht als kleines Mädchen gekommen waren? | |
Ich habe die Freundschaft eines russischen Offiziers gemacht, der mich im | |
Camp beim Klauen von Brot erwischt hat und vor der Frage stand: Bestrafe | |
ich dieses Feindeskind oder lasse ich es gehen? Seine Familie, seine Frau, | |
drei Kinder sind in Leningrad von Deutschen ermordet worden. Bei der | |
Begegnung, wo er mich am Wickel hatte, stand offenbar plötzlich seine | |
kleine Tochter vor ihm … | |
… die Sie hätten sein können? | |
Wir haben dann in der ganzen Zeit der Gefangenschaft eine tiefe | |
Freundschaft gehabt. Ich kann sagen, dass es das erste und das letzte Mal | |
in meinem Leben war, dass ich einen Vater hatte. Und der hat mir | |
beigebracht, wie man Panzer fährt. Ich habe auch gelernt wie man mit | |
Splitterbomben an den See fährt, da reinballert und dann kommen viele tote | |
Fische, die habe ich ins Gefangenenlager gebracht. | |
Gab es in Ihrer Jugend noch andere prägende Figuren? | |
Mein Klassenlehrer. | |
Was hat er getan? | |
Im Abitur habe ich eine schwere depressive Krise und sitze da und | |
verweigere mich überhaupt zu schreiben und da kommt dieser Klassenlehrer, | |
Presbyter, Glasauge aus dem Krieg und kniet neben mir und sagt: „Keil, tun | |
Sie mir einen Gefallen und schreiben Sie wenigstens eine Fünf. Dann kann | |
ich Sie ins Mündliche nehmen.“ Mit einer Sechs wäre das nicht gegangen. | |
Dadurch ist mein eigener Wille und meine Verantwortung sehr gestärkt | |
worden. Ich habe das Abitur gerade geschafft, obwohl ich immer eine | |
schlechte Schülerin war. Aber von den Lehrern wurde ich offenbar sehr | |
respektiert und anerkannt. | |
Warum? | |
Ich hatte mich ziemlich politisiert, als ich damals in der | |
Schülermitverwaltung und in der politischen Bildung tätig war. Ich trat vor | |
meinen Klassenlehrer und sagte: „Herr Bohler, Religion ist das Opium für | |
das Volk. Was sagen Sie dazu?“ Ich hatte keine Ahnung, aber ich habe früh | |
Marx gelesen und dann Rosa Luxemburg und so. Was ich davon verstanden habe, | |
ist im Kern nicht so wichtig. Aber ich wusste: Es gibt Menschen, die denken | |
über eine andere Welt nach. | |
Sie studierten dann auch, was für die Zeit ziemlich ungewöhnlich war. | |
Relativ früh hat meine Mutter mit allen Mitteln auf Bildung gesetzt. Ihr | |
war irgendwie klar, wenn ich nicht Boden unter die Füße kriege, wird aus | |
uns nichts. Studium war für das uneheliche Kind einer | |
Sozialhilfeempfängerin und ohne Familie was Besonderes. Aber ich bin eben | |
in die Zeit hineingewachsen, in der es auch zunehmend um den Bildungsstand | |
der Arbeiterkinder ging. Ich war ja nicht im klassischen Sinn Arbeiterkind, | |
aber eben in der Richtung. | |
Sind Sie dem Thema Bildung deshalb verbunden geblieben? | |
Ich bin 1968 nach meiner Promotion an die pädagogische Hochschule nach | |
Göttingen gegangen, weil ich Grundschullehrer ausbilden wollte. 1971 kam | |
der Ruf nach Bremen. In der Zeit wurde die Uni Bremen gegründet und hat | |
mich zutiefst überzeugt im Konzept. Auch die Rede des Gründungsrektors: | |
„Wissenschaft ist dafür da, den Entrechteten mit dem Wissen zu dienen.“ Das | |
war für mich ein Schwursatz. In Göttingen bin ich noch akademische Rätin | |
geworden. Das war wichtig, weil mich das in eine Lebenszeitstelle gebracht | |
hat und die Sorge um meine Mutter, um die ich mich auch immer ökonomisch | |
gekümmert hatte, erst mal weg war. | |
Wie war die Beziehung zu Ihrer Mutter? | |
Ich bin 1939 unehelich geboren, der Vater war weg. Meine Mutter war alleine | |
in Berlin und wusste: Mit einem unehelichen Kind wird es schwer. Obwohl sie | |
Sozialdemokratin war und überhaupt keine Nazistruktur hatte, war die | |
Nationalsozialistische Kinder- und Frauenhilfe der Ort, wo sie im Jahr 1939 | |
den Anker wirft. Das heißt, ich komme unmittelbar nach der Geburtsklinik in | |
ein Kinderpflegeheim der Nationalsozialisten. Und das wird kurz darauf von | |
Berlin nach Polen verlegt. | |
Was hat das mit Ihnen gemacht? | |
Das Gefühl von Verlassenwerden, das mich bis heute begleitet. Also das, was | |
man ja für Kinder hofft: dass sie ein Urvertrauen bilden, hängt sehr stark | |
mit dieser ersten Struktur zusammen. Ich bin inzwischen überzeugt, dass man | |
weiter Vertrauen in die Welt und die Menschen haben kann. Trotzdem merke | |
ich bis ins hohe Alter: Es gibt Wunden, die schließen sich nicht. | |
Haben Sie Ihrer Mutter verziehen? | |
Immer. Ich habe mir einfach erklärt, eine Frau, die zwei Weltkriege | |
durchgemacht hat: Wer bin ich denn, dass ich sie anklagen kann? Ich habe | |
lange gebraucht, bis in die 40er-Lebensjahre hinein, ehe ich mir auch | |
zugestanden hatte, was das mit mir gemacht hat. Es war aber nicht so | |
dramatisch. | |
Weil Sie auch schöne Erfahrungen im Heim der Nazis gemacht haben? | |
Das Heim, das waren meine Geschwister. Tante Ilse und Tante Ichen waren | |
zwei wunderbare Frauen. Jeden Abend hat jedes Kind der Reihe nach einen | |
Gutenachtkuss gekriegt. Ich glaube, dass die Kraft, die ich entwickelt | |
hatte, viel mit der Erfahrung in diesem Heim zu tun hat. Ich würde heute | |
für mich formulieren, auch als Sozialpädagogin, dass ich ein Kind der | |
öffentlichen Erziehung bin und Glück gehabt habe. | |
Wie sind Sie aus dem Kinderheim wieder zu Ihrer Mutter gelangt? | |
Sie hat mich am 17. Januar 1945 aus diesem Heim herausgeholt mit einem | |
Satz, den ich verstehen lernen musste: „Mit einem Kind flieht es sich | |
leichter.“ Das kann man grausam oder sonst wie finden. Aber ich weiß nicht, | |
wie es mir sonst gegangen wäre. Auch das musste ich als Sechsjährige | |
akzeptieren. | |
Was waren andere Momente in Ihrem Leben, die Sie akzeptieren mussten? | |
Ich habe keine Cousine, keine Tante, keinen Onkel, nichts. Es ist die | |
Quelle dafür, dass ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe als meine | |
eigene Familie. Dass meine beiden Ehen gescheitert sind, hat das | |
verunmöglicht. Unter der zweiten Trennung habe ich zwanzig Jahre gelitten. | |
Ich wollte unbedingt eigene Kinder haben und hatte drei Fehlgeburten. Dafür | |
kann ich nichts, aber man kann sagen, das Schicksal hat mir ganz wichtige | |
Dinge verwehrt. Mit 40, nach der dritten Fehlgeburt, habe ich es | |
aufgegeben. Kurz danach war die Trennung. Zwei Jahre später bin ich an | |
Brustkrebs erkrankt. | |
Hing die Erkrankung mit der Trennung zusammen? | |
„Was weiß ich“, würde ich heute nach allen wissenschaftlichen Erkenntniss… | |
sagen. | |
Aber Sie haben sich mit der Frage auseinandergesetzt? | |
Ja, immer. Aber unterschiedlich. Meine Gallensteine hatten natürlich, das | |
weiß ich heute noch besser als damals, mit einem hochstressigen Anfang | |
meiner Uni-Karriere zu tun. Als ich in Göttingen anfing, ging am nächsten | |
Tag mein Chef wegen schwerster Depressionen in die Psychiatrie und ich habe | |
locker gesagt, die fünf Seminare mache ich. Um die 40 hatte ich einen | |
schweren Herzinfarkt. Es gab Stress mit meiner Mutter, die in eine Psychose | |
ging. Ich hatte auch einen Prozess wegen Landesverrats am Hals, weil ich | |
damals den Buback-Nachruf … | |
… in dem der „Göttinger Mescalero“ sich klammheimlich über die Ermordung | |
Bubacks durch die RAF freute … | |
… mit kritischer Distanz nochmal herausgegeben hatte. Und klar, die erste | |
Brustkrebserkrankung hatte auch was mit der überbordenden Herausforderung | |
einer schweren Trennung zu tun. Eine Liebe zu verlieren, wenn man gerade | |
geheiratet und ein Haus gebaut hat, das war einfach furchtbar. Die | |
Ereignisse im Leben treffen immer auf eine schon gestaltete Landschaft. | |
Dann kam der Darmkrebs, dann kam die Schilddrüse weg, das Knie wackelte, | |
also eigentlich bin ich ein medizinisches Missgeschick … | |
… aber Sie leben noch. | |
Das ist doch das Interessante. Und das zu erklären, ist vielleicht | |
wichtiger als zu fragen, warum ich krank geworden bin. | |
Warum leben Sie noch? | |
Weil die Schöpfung uns so ausgestattet hat, dass wir verletzlich und | |
endlich sind. Beides wissen wir und von beidem wissen wir nicht, wann es | |
kommt. Meine Seele hat besser durchgehalten als mein Körper. Oder anders: | |
Da ist ein starker Wille zu leben. Aber Krankheit gehört wie | |
Verlassenwerden, wie die Gefahr, arbeitslos zu werden, wie die Gefahr, in | |
einem Land zu sein, das wir nicht ausgesucht haben und fliehen zu müssen, | |
zum Leben dazu. Eine Frage müssen wir uns immer wieder neu stellen. | |
Welche Frage? | |
Was treibt Menschen, die ein anderes, besseres Leben suchen? Es ist eine | |
Schande, dass wir auf so was wie „Wirtschaftsflüchtlinge“ kommen bei den | |
hohen kapitalistischen Ausbeutungen. Wie kommen wir darauf, dass das | |
Überleben kein Grund zur Flucht ist? Da musst du stehen und dich wundern, | |
wo dieser Lebenswille in uns ruht und durch was er angestachelt wird. | |
Was hat Ihnen geholfen? | |
Ein Satz von Albert Schweitzer: „Wir sind Leben, das leben will, inmitten | |
von Leben, das leben will.“ Du bist es und es sind die anderen, die dich | |
tragen, aber die dich auch brauchen. | |
31 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Hagen Gersie | |
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