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# taz.de -- Woher kommt das Ekelgefühl?: Das widerliche Reich der Männer
> Unsere Kolumnistin arbeitete als Putzkraft und merkte, dass sie sich
> nicht vor allem gleich ekelte. Ist Ekel selektiv?
Bild: Duschen waren das Reich der Männer
Ekel war immer Teil meines Lebens. Ich habe ihn zu meinem größten Feind
gemacht, versucht ihn zu bekämpfen, ihn wegzumeditieren, ihn an mich
heranzulassen, ihn zu verharmlosen. Nur die Konfrontation mit [1][Ekel]
half mit dabei, ihn zu überwinden.
Als ich im Ausland wohnte und pleite war, entschied ich mich, in einem
Hostel zu putzen, um umsonst dort wohnen zu können. Und so wurde mir mit
dem Schlüssel zum Vielbettzimmer ein Putzlappen in die Hand gedrückt. Die
Rezeptionistin weckte mich am ersten Morgen, wir gingen in das erste Bad
und es roch bestialisch. „Das ist nicht ideal für deinen ersten Tag“, sagte
sie. In der Nacht hatte jemand sowohl die Toilette als auch die Wand
vollgeschissen wie ein modernes Kunstwerk. Meine erste Schicht bestand
daraus, die Schüssel und Fliesen weiß zu schrubben.
Komischerweise ekelte ich mich nicht. Obwohl ich einige Jahre zuvor noch
eine dieser Personen war, die niemanden aus ihrer Flasche trinken ließ.
Oder wenn ich irgendeinen Typen auf die Straße rotzen sah, reichte die
Erinnerung daran, auch noch eine Stunde später einen Würgereflex
auszulösen. Aber diese Szene ließ mich kalt.
Scheiße war nie das Schlimmste. Auch nicht vollgepisste Betten, die bei
besoffenen Engländern im Hostel nicht selten waren. Erbrochenes war
irgendwann erträglich, fast harmlos. Mir gelang es nicht, Ekel gegenüber
etwas zu entwickeln, das im weitesten Sinne aus Versehen passiert ist, ein
Unfall war. Was in den Duschen passierte, war aber kein Unfall. Die Duschen
waren der Höhepunkt des Ekels. Duschen waren das Reich der Männer.
## Der beißende Geruch von Sperma
Die rotzten dort die Plastikwände voll, da die heiße Luft ihre Schleimhäute
befreite. Rotze, die Blut enthielt, weil derjenige, der sie dort
platzierte, am Abend zuvor vermutlich [2][irgendwas durch die Nase gezogen
hatte]. Ich wusste, dass es Männer waren, die hier die Wände
vollschmierten. Ihnen hatte man nie beigebracht, sich für ihre
Körperausscheidungen zu schämen.
Die Duschen waren neben den Toiletten der einzige Ort im Hostel, wo man
allein war. So blieb Nasenschleim nicht das einzige Sekret, das sich an den
Duschwänden und in den Abflüssen sammelte. Der beißende Geruch von Sperma
bestimmte wochenlang meine Morgen. Ich zog ihn an langen Haarklumpen aus
den immer verstopften Abflüssen heraus, beseitigte ihn und wartete darauf,
dass die fleißigen Männer ihn über Nacht wieder dort platzieren würden.
Hiervor ekelte ich mich ohne Frage. Warum?
Unser Ekelgefühl ist eigentlich dazu da, [3][uns vor Krankheiten zu
schützen], vor Keimen in verdorbenem Fleisch, vor Bakterien, vor
Kontamination. Ekel bleibt aber nicht rein intuitiv. Das erklärt William
Ian Miller, Professor an der University of Michigan, in „[4][Die Anatomie
des Ekels]“. Er schreibt: „Ein Teil von Ekel ist das Bewusstsein darüber,
angeekelt zu sein […] Ekel geht immer mit bestimmten Gedanken einher, die
aufdringlich und unausweichlich sind und die die Abscheu gegenüber dem
Objekt des Ekels verstärken.“
Je mehr ich über die Männer in den Duschen nachdachte, desto stärker wurde
mein Ekel. Er richtete sich nicht gegen den Geruch oder die
Körperflüssigkeit an sich. Mein Ekel galt dem Mann, der die
Körperflüssigkeit dort platziert hatte. Es war die Anmaßung, einen Raum auf
diese Weise einzunehmen. Eine Intention, die ich ihnen unterstellte. Würden
mich die Duschen heute weniger anekeln, jetzt wo ich das weiß?
Wahrscheinlich nicht.
29 Jul 2024
## LINKS
[1] /Wie-umgehen-mit-Bettwanzen/!5963375
[2] /Drugchecking-Pilot-Projekt/!5979398
[3] /Psychologe-ueber-Emotionen/!5808452
[4] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/first/m/miller-disgust.ht…
## AUTOREN
Valérie Catil
## TAGS
Kolumne Schnelle Brille
Ekel
Putzen
Psychologie
Schlafentzug
wochentaz
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Medizin
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