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# taz.de -- Buchmesse in Leipzig: Der Konsens ist weg
> In Leipzig treffen Leserschaft, KritikerInnen, Verlage und Buchhandel
> aufeinander. Zuletzt haben sie sich allerlei Kränkungen zugefügt.
Bild: Was bedeutet uns Literatur heute? In einem Buch könnte die Antwort zu fi…
„Er kann schreiben, der Herr Würger“, kommentiert kaffeeelse auf buecher.de
ihre Lektüre, und julemaus94 aus Jena sowie BuchhändlerInnen aus dem ganzen
Land stimmen ihr zu. Die Qualitätsfeuilletons unserer überregionalen Presse
sehen das bekanntlich ganz anders, die Heftigkeit ihrer Vorwürfe gegen
[1][Takis Würgers Roman „Stella“] kam recht unerwartet und provozierte
ihrerseits einen öffentlichen Brief, in dem sich der Buchhandel mit Autor
und Verlag solidarisierte und sich einen „Umgang mit Literatur“ verbat,
dessen Polemik nun ihrerseits polemisch als Symptom eines „zunehmenden
Bedeutungsverlusts des Feuilletons“ gedeutet wurde.
Bevor Leserschaft, KritikerInnen, Verlage und Buchhandel nun auf der
Leipziger Buchmesse aufeinandertreffen, scheinen die Fronten zwischen den
wichtigsten Institutionen unseres Literaturbetriebs also ungewohnt
verhärtet. Denn offenkundig geht es in der Debatte längst nicht mehr um
Würgers kleinen Roman, vielmehr sind grundsätzliche Fragen auf dem Tisch,
an deren Dringlichkeit sich einiges über den Zustand unseres
Literaturbetriebs im Ganzen zeigt: Was bedeutet uns Literatur heute, was
leistet sie, was darf sie (nicht), und wer darf mit welchem Recht über sie
urteilen?
Die Kritikerin Antonia Baum etwa [2][fragt in ihrem klugen Verriss in der
Zeit], „warum diese Geschichte überhaupt erzählt wird“, und antwortet, der
Text wolle offenbar „absolut nichts außer krass sein, und dafür nimmt er
sich die krassesten Pornozutaten: Nazis, SS-Uniformen, eine schöne jüdische
Frau, die Juden verrät, Drogen, das Versprechen von Sex, Grandhotels,
Berlin im Krieg – geil.“
Damit ist, neutral gesprochen, eine Dimension von Literatur und anderen
Künsten aufgerufen, die in Wissenschaft und Kritik oft stiefmütterlich
behandelt und ja auch von Antonia Baum sofort disqualifiziert wird: die
Dimension des Spektakulären.
Bei „Harry Potter“, „Game of Thrones“, dem neuen Bilderbuch-Album oder
„Alita – Battle Angel“ hat niemand ein Problem damit, dass das Geilfinden
(delectare, sagt Horaz dazu), die ästhetische Affiziertheit durch Schau-
und Wallungswerte, uns für sie einnehmen, deutlich bevor unsere
intellektuelle Auseinandersetzung mit ihnen greifen kann. Bei Literatur
allerdings, zumal solcher, die schwere Geschichtszeichen verwendet, setzt
in solchen Fällen sogleich der Reflex ein, hier ginge es nur darum, uns
etwas zu verkaufen, und zwar ganz unmetaphorisch, im ökonomischen Sinne:
Spektakuläre Kunst verkomme zur bloßen Ware.
## Symbolisches versus ökonomisches Kapital
Der Literaturkritiker David Hugendick (miss-)versteht so auch das Anliegen
der BuchhändlerInnen [3][in seiner Replik auf Zeit.Online]: Es sei ja klar,
dass diese „einen Autor verteidigen, der ihnen offenbar gute Umsätze
beschert“. Sie liefen freilich Gefahr, „den kommerziellen Erfolg zum
letztgültigen Maßstab“ zu machen.
Dieses Argument zieht unter der Hand die alte Trennung von high und low
wieder ein, von E- und U-Literatur, von symbolischem versus ökonomischem
Kapital. Dabei ist noch keineswegs ausgemacht, ob nicht „Harry Potter“,
„Game of Thrones“ oder Bilderbuch Fragen unserer Zeit womöglich viel
wesentlicher und wirkmächtiger verhandeln als der x-te Roman über die
NS-Zeit.
Außerdem tut Hugendick den BuchhändlerInnen auch ganz einfach unrecht. Denn
selbstverständlich können die sehr gut unterscheiden zwischen einer reinen
Unterhaltungsliteratur, die sich im Eingangsbereich ihrer Läden stapelt,
und Literatur in einem emphatischeren Sinne. Noch so heftige Verrisse des
neuen Romans von Ken Follett oder Jeffrey Archer hätten sie in ihrem
Selbstverständnis niemals so verletzen können, dass es zu diesem offenen
Brief gekommen wäre.
„Stella“ wildert nicht einfach nur in den schweren Zeichen, der Roman
liefert von Anfang an viele historische Fakten und Details, baut echtes
Aktenmaterial ein und verhandelt explizit das Problem der Schuld. Wie der
Verleger Jo Lendle sehen die BuchhändlerInnen hier also „ein wichtiges
Buch, ein Buch, das auch 77 Jahre nach den Ereignissen in einer Weise
Geschichten aus dieser Zeit erzählt, die auch Leuten die Augen öffnet, die
damals nicht dabei waren“.
## Der „Midcult“
Solche Romane sind nun aber der buchhändlerische Idealfall: Sie sind einer
Genusslektüre zugänglich und doch keineswegs bloß für den Urlaubsliegestuhl
gedacht, nein: LeserInnen kaufen sich mit ihnen auch das gute Gefühl ein,
„das Herz der Kultur schlagen gehört zu haben“, wie Umberto Eco sagt, das
Gefühl, an einem kulturellen Leben und Diskurs teilzuhaben, wie es sich für
ein bürgerliches Selbstverständnis glücklicherweise noch hie und da gehört.
Und die gute Buchhändlerin sieht mit Recht genau darin ihren Auftrag: der
Kundschaft Lektüren „mit Anspruch“ zu vermitteln, die sie trotzdem gern
lesen.
Bücher von, sagen wir, Daniel Kehlmann, Bernhard Schlink, Martin Suter oder
Juli Zeh, aber auch von Elena Ferrante, Ian McEwan, Karl Ove Knausgård
oder Haruki Murakami bedienen diese Nachfrage. Erst dadurch, dass Würgers
„Stella“ in dieser Kategorie, Eco nennt sie „Midcult“, verortet wird,
erklären sich die heftigen Reaktionen auf allen Seiten.
Denn eigentlich liebt die Literaturkritik diese Art von Literatur kaum
weniger als der Buchhandel. Schließlich lässt sich hier kulturelle
Selbstverständigung betreiben anhand von Büchern, die man lesen kann und
die auch tatsächlich gelesen werden.
Eco dagegen fand vor fünfzig Jahren den Midcult deutlich schlimmer als alle
Trivialliteratur; wer ihm aufsitze, konsumiere eine ethische und
strukturelle Lüge. Denn im Zeichen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts
seien Kunst und Literatur zu Spezialgebieten geworden, vergleichbar den
Wissenschaften. An ihnen teilzuhaben, erfordere Bildung, Arbeit, halt
Spezialistentum, und genau um die schummele sich der Midcult-Leser herum,
wenn er gläubig einen süffigen Schmöker liest, der „zum Zwecke der
Reizstimulierung sich mit dem Gehalt fremder Erfahrungen brüstet und sich
gleichwohl vorbehaltlos für Kunst ausgibt“.
## „Gedankenlos und obszön“
Das trifft, wie mir scheint, den Kern der Vorwürfe gegen Würgers Roman
präzise. Indem die Kritik den Konsens aufkündigt, hier handle es sich um
einen relevanten oder zumindest akzeptablen Beitrag zu unserer Kultur,
macht sie unterschwellig die Struktur von unser aller Midcult-Konsum
sichtbar. Und wer wie Hugendick die Kritik im selben Zuge dafür feiert,
„nicht der opportunistischen Verblödungsbereitschaft“ durch kommerzielle
Literatur anheimzufallen, verortet sich selbst zugleich in einer Elite von
kulturellen Gatekeepern, aus der sich die BuchhändlerInnen nun plötzlich
ausgeschlossen sehen.
In Deutschland spielt dabei stets noch eine im engeren Sinne ethische
Dimension hinein: Unsere schweren Geschichtszeichen sind ja bis heute ganz
überwiegend solche mit NS-Bezug. Baum wirft Würger eben nicht einfach vor,
sich gehobene Literarizität etwa durch den Gebrauch eines
pseudohemingwayschen Stils zu erschleichen, sondern explizit „die
Simulation von Bedeutung durch Nazi-Namedropping“.
Sprich: „gedankenlos und obszön“ erscheint sein Projekt erst und vor allem
durch die Aneignung eines jüdischen Frauenschicksals im „Dritten Reich“ zu
Bestsellerzwecken. Denn Auschwitz , so Patrick Bahners in der FAZ in einem
anderen Zusammenhang, sei „in den Theorien des historischen Wissens und der
literarischen Fiktion wie im öffentlichen moralischen Bewusstsein der
Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt“.
Das ist nun freilich ein frommer Wunsch: Vom Trash der frühen Jahre („Ilsa,
She-Wolf of the SS“) bis Achternbuschs „Das letzte Loch“ und „X-Men:
Apocalypse“, von den Nazi-Zombies in „Call of Duty“ bis „Inglourious
Basterds“ und „Er ist wieder da“ wurde und wird dauernd mit den Schrecken
der NS-Zeit gespielt. Und so verständlich der Wunsch ist, will man sich ihm
wirklich anschließen? Wenn der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt
(Schiller), und wenn fiktionales Erzählen ein Medium dieses Spiels ist,
dann kann es womöglich auch in diesem ernsten Falle nicht mehr darum gehen,
ob, sondern allein darum, wie gespielt wird.
## Kränkung oder Herausforderung?
Was der Streit über „Stella“ sichtbar macht, liegt also tiefer: Im breiten,
marktförmigen Feld medialer Angebote, in dem unsere Erzählliteratur um
Aufmerksamkeit und KäuferInnen konkurriert, muss ein Roman vielleicht ganz
andere Eigenschaften mitbringen als noch vor dreißig Jahren. Jedenfalls
kann ich nach einigen Erfahrungen mit und in Jurys sagen: Es gab noch nie
so divergierende Vorstellungen von dem, was eigentlich gute Literatur ist,
wie derzeit. Spektakel oder nicht, schwere Zeichen, Lesbarkeit, Pop? Wir
haben einfach keinen konsensfähigen Wertungsmaßstab mehr dafür, und damit
gerät auch die Gatekeeperfunktion ins Wanken, die Verlegern, Kritikerinnen
und Professoren so lange eigen war.
Das kann man kulturkritisch beklagen, aber es ist womöglich einfach nur der
folgerichtige Effekt von Demokratisierung, allgemeiner Bildung und Zugang
zum Leitmedium Web 2.0: Kaffeeelse und Julemaus können sich inzwischen
bestens selbst darüber verständigen, was gute Lektüre ist.
Für die Leseprofis in Buchhandel, Kritik und Universität mag das eine
Kränkung sein – oder aber eine Herausforderung. Die keinesfalls darin
bestehen sollte, eine neue Einheitlichkeit herzustellen, sondern darin,
unsere ästhetischen Maßstäbe besser zu begründen, sie den tatsächlichen
medialen und sozialen Bedingungen der Lektüre anzupassen und sie dennoch
unbeirrt zu vertreten.
20 Mar 2019
## LINKS
[1] /Lesung-von-Takis-Wuerger-in-Berlin/!5572730
[2] https://www.zeit.de/2019/04/stella-roman-nationalsozialismus-juden-takis-wu…
[3] https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-03/takis-wuerger-stella-buchhaend…
## AUTOREN
Moritz Baßler
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